Forschung & Lehre

Milch trinken oder sterben

Daniel Wegmann hat das Genom dreitausend Jahre alter Leichen untersucht. Und Überraschendes gefunden. Von Laktose, Leid und Leben.

Die Geschichte beginnt wie viele andere: 1996 fand ein freiwilliger Mitarbeiter der norddeutschen Denkmalpflege einen Knochen. Wenig später war klar, dass im Tollensetal nicht nur ein Skelett lag, sondern die Überreste eines bronzezeitlichen Schlachtfeldes.

«Der Begriff ‹Tal› weckt hierzulande vielleicht falsche Vorstellungen», sagt Daniel Wegmann, Professor für Biologie an der Universität Freiburg. «Die Tollense mäandert durch quasi flaches Gelände. Die Gegend ist eher ein Sumpf, als das, was wir uns hier unter einem Tal vorstellen.» Durch das Feuchtgebiet führte in der Bronzezeit eine Art Brücke oder besser gesagt: so etwas wie ein Damm. «Man muss sich wohl einen Wall mit Löchern vorstellen. Unten sickerte das Wasser weiterhin nordwärts, oben transportierten die Leute Waren zu Fuss und mit Karren nach Ost oder West. Und an diesem Damm fand 1250 vor Christus eine Schlacht statt.»

Worum es in dieser Schlacht ging, ist nicht überliefert. «Natürlich ist es naheliegend zu vermuten, dass sich zwei Parteien über die Kontrolle des Handelswegs stritten. Aber ehrlicherweise müssen wir sagen: Wir wissen es nicht. Genetisch kann ich Ihnen nicht mal mit Sicherheit sagen, dass es überhaupt zwei Parteien gab». Wegmann ist auf die Analyse von alten Genomen spezialisiert. Er und sein Team wurden beigezogen, als es darum ging, das Erbmaterial der Skelette zu entschlüsseln. «Genetiker und Archäologen unterstützen einander heutzutage immer öfter bei der Beantwortung offener Fragen.»

Für die Altertumsforscher ist das Schlachtfeld an der Tollense eine Sensation. «Am Kampf waren je nach Schätzung zwischen 2000 und 6000 Personen beteiligt. Man muss sich mal vorstellen, was das heisst! Um so viele Leute gleichzeitig an einen Ort zu bringen, braucht es staatsähnliche Strukturen. Es braucht Hierarchien, Absprachen, eine Organisation – aber auch ganz einfach Verpflegung. Bevor das Schlachtfeld gefunden wurde, ging man davon aus, dass es so etwas in vorrömischer Zeit nördlich der Alpen schlicht und einfach nicht gab.»

Was die Forscher ebenfalls überraschte: Viele Knochen wiesen Verletzungen auf, die wieder geheilt waren. «Wir haben es also mit professionellen Kriegern zu tun. Kann sein, dass die nebenher auch noch einen Bauerhof hatten, aber es waren zumindest sehr gut trainierte Kämpfer. Darauf lässt auch die Art ihrer Waffen schliessen. Das sind Geräte, mit denen Sie, ich oder ein Bauer, der mal eben kurz vom Feld in den Krieg zieht, gar nicht umgehen können.»

Der Tollense-Fund hat unser Bild der nordeuropäischen Bronzezeit gründlich verändert. Hinzu kommt die Sache mit der Laktose – und für den Biologen Wegmann ist das die spektakulärste Entdeckung von allen. «Wir haben bei 18 Skeletten DNA-Proben entnommen. Dass diese beschädigt waren, ist angesichts ihres Alters normal. Immerhin 14 Proben waren aber brauchbar. Bei diesen konnten wir einen Teil des Genoms sequenzieren und die Schäden mathematisch herausrechnen.» Wegmann schaute sich die Erbinformationen genauer an und kam beim Abschnitt mit der Laktosetoleranz ins Grübeln. «13 Leute konnten keine Laktose verarbeiten. Einer konnte es».

Die Sensation ist nicht der Milchtrinker – die Sensation sind die 13, die keine Milch trinken konnten. «Milch ist grundsätzlich etwas für Säuglinge», erklärt Wegmann. «Es braucht ein Enzym (Laktase, mit A), um den Milchzucker (Laktose, mit O) aufzuspalten. Und solange sie gestillt werden, produzieren Säuglinge und andere junge Säugetiere dieses Enzym. Normalerweise aber hört der Körper irgendwann auf, Laktase herzustellen.» Erwachsene Mäuse, Kühe oder Katzen sind laktoseintolerant. Dass die meisten erwachsenen Europäer Milch verarbeiten können, ist die Folge einer genetischen Mutation. «Irgendwer hatte eine zufällige Veränderung im Genom und diese oder dieser Jemand konnte auch als Erwachsener Milch trinken. Sein oder ihr Körper hörte nicht auf, Laktase herzustellen.» Die Frage ist lediglich: wer, wann und wo?

Falsche Fährte

Seit rund 8000 Jahren wird in Europa Landwirtschaft betrieben und seit da konsumierten die Bauern Milch und verarbeiteten sie zu Joghurt oder Hartkäse, bei deren Herstellung Laktose verschwindet. «Lange Zeit ging man davon aus, dass die Laktosetoleranz vielleicht mit den Jamnaja nach Europa kam.» Das Volk aus der kaukasischen Steppe wanderte vor rund viertausend Jahren nach Westen – knapp ein Jahrtausend vor der Tollense-Schlacht. Dass sie sich mit der örtlichen Bevölkerung vermischten, zeigt unser heutiges Genom: Rund 20 bis 30 Prozent davon wurden von den Jamnaja beeinflusst. «Aber wären die Jamnaja im grossen Stil laktosetolerant gewesen, hätte die Eigenschaft bei den Tollense-Skeletten schon viel verbreiteter gewesen sein müssen. Dies besonders, weil die Fähigkeit dominant vererbt wird: Ein Milch trinkender Elternteil reicht.» Hinzu kommt, dass Wegmann und andere Forschende kürzlich einen serbischen Friedhof aus der Zeit der Tollense-Schlacht untersuchen konnten. Hier konnte kein einziges untersuchtes Individuum Milch verarbeiten.

«Der Tollense-Fund zeigt zwei sehr überraschende Dinge: Erstens hatten die ersten europäischen Milchtrinker wohl sehr viel später gelebt, als wir dachten. Und zweitens muss sich die Laktosetoleranz danach extrem schnell verbreitet haben!»

 

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Normalerweise brauchen neue Eigenschaften sehr lange, bis sie sich durchsetzen. «Die Laktosetoleranz hingegen hat es in etwa 100 bis 150 Generationen von null auf heute rund 80 Prozent gebracht! Evolutionstechnisch betrachtet ist das ein Flächenbrand.»

Dass sich die Fähigkeit zum Milchtrinken so schnell verbreitete, lehrt uns vor allem auch etwas über die Jahrhunderte seit der Tollense-Schlacht. «Ich möchte Laktoseintoleranz sicher nicht kleinreden: Bauchschmerzen sind mühsam und Durchfall ist doof, Punkt. Aber daran stirbt man nicht. Und man hat deswegen auch nicht weniger Kinder», sagt Wegmann und für heute hat er damit auch Recht. «In der Vergangenheit muss das aber anders gewesen sein. Hungersnöte, Missernten, Pandemien und unsauberes Wasser müssen ziemlich verbreitet gewesen sein. Denn nur wenn’s um Leben und Tod geht, ist die Fähigkeit, Milch trinken zu können, ein relevanter Vorteil.» Und nur wenn’s oft um Leben und Tod ging, lässt sich die rasante Verbreitung der Laktosetoleranz wirklich erklären.

Milch rettete Leben

«Vereinfacht können wir es uns so vorstellen: Wenn die Felder verdorrt und die Speicher leer waren, blieb den Milchtrinkern wenigstens noch die Kuh. So kam es zu einer natürlichen Auslese, die dazu führte, dass Milchtrinker ihre Gene häufiger weitergaben als Laktoseintolerante.» Zu dieser Vorstellung passt auch, dass Skandinavier heute laktosetoleranter sind, als etwa die Italiener. «Im Süden war das Kalorienangebot relativ üppig. Ein Römer hatte viele Alternativen zu Milch. Für einen Wikinger hingegen war die Milchtoleranz im skandinavischen Winter ein echter Vorteil.» Aber nicht nur der Hunger, auch Krankheiten halfen, die Milchtoleranz zu verbreiten. «Milch ist natürlicherweise keimfrei. Wer sie in Mengen trinken konnte, erkrankte wohl auch seltener an Cholera oder Typhus.»

Blick aufs grosse Ganze

Weltweit betrachtet ist die Laktosetoleranz noch immer die Ausnahme. In Europa können gut 80 Prozent der Leute Laktose verarbeiten, in Asien beinahe null. Auch im präkolumbianischen Amerika war Milch nicht auf dem Speiseplan. Ausserhalb Europas hat sich die Laktosetoleranz einzig in Afrika entwickelt. «Das verlief aber von Europa unabhängig, das sehen wir an der Art der Genmutation. Milchtolerante Europäer gehen alle auf dieselbe Person zurück. Die Afrikaner vermutlich auf zwei weitere», sagt Wegmann und ergänzt: «Das ist mal wieder typisch für Afrika: Wenn Sie sich für genetische Vielfalt interessieren, wird’s ausserhalb des Schwarzen Kontinents langweilig».

Dass Biologen und Archäologen zusammenarbeiten, geschieht heute immer häufiger. «Gemeinsam kommen wir vorwärts», sagt Wegmann. «Die Archäologen können Ihnen sagen, wie sich die Töpfe verbreitet haben und wir sagen Ihnen, wer sie in der Hand hatte. So wissen wir am Ende: Haben die Nachbarn sich das Töpfern abgeschaut? Wurden sie von den Leuten mit den Töpfen verdrängt? Oder haben sich die beiden Gruppen vermischt?» Dabei geht es nicht nur um Dinge wie Töpfe, sondern beispielsweise auch um die Landwirtschaft. Grundsätzlich wäre es möglich gewesen, dass europäische Jäger und Sammler irgendwann sesshaft wurden und Äcker bestellten. Inzwischen zeigen genetische Analysen aber klar: Die europäischen Jäger und Sammler wurden von Bauern aus dem Nahen Osten verdrängt. «Die Verschränkung von Archäologie und Genetik eröffnet spannende Möglichkeiten und Antworten auf sehr alte Fragen. Aktuell beschäftigen wir uns mit Genomen sesshafter Steinzeitler, die neben den ersten Bauern gelebt haben, ohne Bauern zu werden. Ich bin gespannt, was die uns lehren werden.»

 

Unser Experte Daniel Wegmann ist Professor für Bioinformatik an der Universität Freiburg. Das Ausgraben und sorgfältige Beproben von alten Knochen im Reinraum ist nichts für ihn. Aber er und sein Team entwickeln statistische Methoden, um die daraus gewonnenen alten Genome trotz ihrer Schäden korrekt zu analysieren und zu vergleichen.

daniel.wegmann@unifr.ch