Forschung & Lehre

Sprechen über Corona

Keine_r kanns mehr hören. Das C-Wort. Und doch sprechen alle darüber. Schreiben darüber. Und forschen darüber. Auch der Klinische Psychologe Peter Wilhelm, der während des Lockdowns eine Online-Befragung durchgeführt hat. Die uns – trotz allem – interessiert.

Peter Wilhelm, was bedeutet Corona, ganz nüchtern betrachtet, für die Wissenschaft?

Corona ist eine grosse Krise für die Gesellschaft und für den Einzelnen. Für die Wissenschaft ist die Pandemie eine Herausforderung und gleichzeitig ein Lernfeld. Vieles, was wir theoretisch schon durchdacht haben, können wir jetzt genauer anschauen. Aus psychologischer Sicht sind es Krisen und Stresssituationen, die etwas triggern können, das vielleicht schon latent da war. Ähnlich wie Krieg oder auch Naturkatastrophen hilft uns die Pandemie, besser zu verstehen, wie sich tiefgreifende Einschnitte auf die Psyche des Einzelnen auswirken.

Sie vergleichen Corona mit Krieg oder einer Naturkatastrophe?

Wenn wir das Geschehen während des harten Lockdowns in Italien oder Spanien anschauen, so gibt es schon gemeinsame Nenner. Etwa die überfüllten Krankenhäuser, Patientinnen und Patienten, die abgewiesen werden mussten. Das ist vergleichbar mit 9/11 oder mit einer Naturkatastrophe. Die Überforderung des Systems. Auch die lange Dauer des Lockdowns ist vergleichbar mit der Isolation in einem Kriegsgebiet, vor allem in Ländern, die einen harten Lockdown hatten. Einmalig an der Pandemie ist das Ausmass: Corona betrifft die ganze Welt, quer durch alle Bevölkerungsschichten.

Sie haben während des Lockdowns mit Hilfe einer Online-Befragung das Verhalten und Erleben der Teilnehmenden erfasst. Wie viele haben teilgenommen?

Wir haben versucht, über die Universität möglichst viele Menschen zu erreichen, um ein breites Bild zu erhalten. Insgesamt haben wir über 2000 Personen angeschrieben, mitgemacht haben rund 400. Die Mehrheit davon sind Studierende, aber es gibt auch eine Anzahl an Nicht-Studierenden und auch ältere Personen. Diese 400 haben einen Online-Fragebogen ausgefüllt. Rund 85 Personen haben zusätzlich eine Woche lang protokolliert, wie sie den Tag zugebracht haben und wie es ihnen dabei ergangen ist.

Es handelt sich ja um eine Längsschnittuntersuchung. Was wird denn verglichen?

Geplant war tatsächlich mit den gleichen 400 Personen eine zweite Erhebung diesen Herbst durchzuführen, um die während des Lockdowns erhobenen Daten mit dem Normalzustand vergleichen zu können. Wir waren im Frühjahr noch optimistisch, dass die Pandemie bald vorbei sein würde. Entsprechend haben wir also noch keine Vergleichsdaten zur Erhebung während des Lockdowns. Wir konnten aber die Angaben der Studierenden während des Lockdowns mit einer sehr ähnlichen Stichprobe vergleichen, die wir bereits vor der Pandemie erhoben haben.

Gab es überraschende Resultate?

Überraschend war eigentlich das Ausbleiben von Veränderungen in einigen Bereichen. Wir haben angenommen, dass sich Indikatoren wie Schlafverhalten oder Alkoholkonsum verändern würden. Dass das Wegfallen von äusseren Taktgebern das Schlafverhalten nach hinten verschiebt, wie am Wochenende. Das hat sich so aber nicht gezeigt: die Schlafdauer blieb gleich, wie vor dem Lockdown. Auch die Schlafqualität war nicht beeinträchtigt. Alkoholkonsum wurde zwar nur grob erfasst, aber auch da lässt sich keine Veränderung feststellen.

Nicht überraschend, aber in beeindruckendem Masse haben die psychischen Belastungen zugenommen.

Das ist richtig. Wir haben auch angeschaut, wie viele Studierende einer so hohen Belastung ausgesetzt waren, dass man sie genauer untersuchen sollte. Es sind dies Personen, die ein deutliches Risiko tragen, unter ernsthaften psychischen Problemen zu leiden. Vor Corona betrug der Anteil dieser Personen etwa fünf Prozent. In der Befragung während des Lockdowns waren es 18 Prozent. Das ist ein massiver Anstieg.

Von welchen Beschwerden ist die Rede?

Wir haben erfasst, wie sehr die Personen im Lockdown während der letzten sieben Tage an verschiedenen Beschwerden gelitten haben, etwa dem Gefühl, leicht reizbar zu sein; Furcht zu haben auf grossen Plätzen oder auf der Strasse; Gedanken, sich das Leben zu nehmen; Gefühlen der Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft; Konzentrationsschwierigkeiten etc. Die einzelnen Beschwerden werden zu Symptomgruppen zusammengefasst, die typisch für bestimmte psychische Störungen sind.

Welche Symptome haben am stärksten zugenommen – und wieso?

Wir haben eine Zunahme von Beschwerden erwartet, die mit Somatisierung, Ängsten und Depression einhergehen. Aber nicht nur diese haben signifikant zugenommen. Eine deutliche Zunahme gab es auch in der Reizbarkeit, Zwanghaftigkeit und bei Gefühlen der Entfremdung. Kaum zugenommen haben paranoide Gedanken und Unsicherheiten im Sozialkontakt. Sozialkontakte waren ja auch reduziert. Das Muster der Ergebnisse spricht dafür, dass die mit der Pandemie und dem Lockdown einhergehenden Stressoren bereits bestehende Verletzlichkeiten verstärken und deshalb die Reaktionen individuell verschieden ausfallen. Die wichtigste Beobachtung ist meiner Meinung nach, dass während des Lockdowns deutlich mehr Studierende als vor der Pandemie in einem Umfang an Beschwerden gelitten haben, der klinisch auffällig ist.

 

Peter Wilhelm © STEMUTZ.COM

Und trotzdem haben die Teilnehmenden weder schlechter geschlafen noch mehr Alkohol konsumiert.

Bei den Studierenden unserer Studie gab es keine Hinweise darauf, dass sich der Alkoholkonsum erhöht habe, das ist richtig. Aber man weiss, dass während des Lockdowns mehr Leute mehr Alkohol konsumiert haben, dass das maladaptive Verhalten insgesamt zugenommen hat: mehr Essen und mehr Drogen – an erster Stelle eben Alkohol als Gesellschaftsdroge Nummer Eins. Das sind Coping-Strategien. Wenn wir Stress haben, neigen wir dazu, uns so zu beruhigen. Oder uns bei Langeweile so zu stimulieren, dass es wieder angenehm wird. Dass sich dies in unserer Stichprobe nicht bestätigt hat, mag daran liegen, dass die Studierenden trotz allem durch den Fernunterricht in einen Tagesrhythmus eingebunden waren – wenn auch online.

Entschleunigung, weniger Konsum, Spaziergänge im Wald: Es gibt ja auch Menschen, die den Lockdown nicht als unangenehm empfunden haben.

Das stimmt durchaus. Auch ich habe gewisse Seiten des Lockdowns als angenehm empfunden, etwa, dass ich nicht ständig reisen musste, dass ich meinen späteren Rhythmus leben konnte. Das war eine neue Freiheit. Aber das Geniessen gewisser Vorzüge war wohl denjenigen vorbehalten, die nicht um ihre Arbeit bangen mussten und sozial eingebunden waren.

Für wen war der Lockdown am schwierigsten zu bewältigen?

Am vulnerabelsten sind die Kinder. Nicht unbedingt hier in der Schweiz, aber in Ländern mit einem harten Lockdown, wie etwa Italien oder Spanien. Da durften die Kinder nicht raus, sie konnten nicht spielen, ihren Bewegungsdrang nicht ausleben. Zuhause sind sie den Eltern auf die Nerven ge-gangen. Misshandlungen haben zugenommen. Auch die Jugendlichen, die sich nicht mehr mit ihren Peers treffen konnten, haben gelitten. Der Konsum von Videospielen, Filmen etc. hat zugenommen. Für arme Leute war es schlimm. Kleine Wohnungen, kein Balkon, kein Garten. Und natürlich die älteren Menschen. Die sind gefährdeter, weniger mobil, auf Unterstützung angewiesen. Für viele ist der Besuch der Grosskinder das Highlight der Woche – und der fiel weg.

Wie sollte man einem Lockdown oder einer ähnlichen Situation idealerweise begegnen? Stoisch? Skeptisch? Optimistisch?

Stoisch ist nicht schlecht. Wir können ja nichts ändern. Verleugnen hilft nicht. Die Pandemie ist da und wir müssen uns darauf einstellen. Meiner Ansicht nach haben die Politiker hierzulande das auch ganz gut gemacht während des Lockdowns. Die Menschen fühlten sich nicht alleine gelassen. Amerika ist das beste Beispiel, um uns zu zeigen, wie man es nicht machen soll. Mehr als 200'000 Tote, das sind fürchterliche Zahlen. Ich denke, es gilt Strategien zu finden, um möglichst normal leben zu können, ohne das Virus zu verbreiten. Das bedeutet, dass ich die Massnahmen respektiere. Und mit Abstand und Maske meine Aktivitäten soweit als möglich aufrechterhalte. Stoisch und pragmatisch.

Das Aufrechterhalten eines Alltags ist nicht für alle machbar. Die Menschen in Alters- und Pflegeheimen etwa haben viel weniger Möglichkeiten, um so zu leben, wie vor Corona.

Die Corona-Massnahmen haben auch unerwünschte Auswirkungen und die älteren Menschen sind dabei sicher sehr leidtragend. Das Besuchsverbot während des Lockdowns war schlimm. Aber es liess sich wohl nicht vermeiden. Fakt ist, dass global gesehen durch Corona mehr Menschen an Hunger sterben werden als am Virus selber. Die Alternative wäre, nichts zu tun gegen das Virus. Wäre das die bessere Variante?

Sagen Sie es mir?

Die Schweden haben es versucht. Sie haben auf die Herdenimmunität und die Eigenverantwortung gesetzt. Aber sie haben auch gesehen, dass ihre Todeszahlen viel stärker stiegen als jene in den Nachbarländern.

Der Lockdown ist seit rund einem halben Jahr vorbei. Sechs Monate zwischen Hoffen und Bangen. Was zerrt mehr: Die zwei Monate Lockdown oder die Zeit seither?

Wir befinden uns im Marathon bis zum Impfstoff. Und der ist wahrscheinlich mühsamer und schwieriger zu bewältigen als der intensive Lockdown. Weil sich jetzt herausstellt, dass wir die Lage eben nicht so schnell in den Griff gekriegt haben. Die Zahlen steigen, die Bedrohung nimmt wieder zu. Diese lange anhaltende Unsicherheit setzt uns wohl stärker zu.

Was raten Sie? Wie können wir uns wappnen für das, was vielleicht kommen mag?

Was ist denn das übelste Szenario? Kein Impfstoff. Oder einer, der nicht richtig wirkt. So, dass das Virus nicht endgültig besiegt werden kann. Die Konsequenz wäre ein Leben mit der Gefahr der Pandemie, ohne Hoffnung auf ein schnelles Ende. Ich bin kein Mediziner, aber es gibt ja offenbar Hinweise auf mehrere Impfstoffe, die jetzt erforscht werden und im Laufe des nächsten Jahres auf dem Markt sein sollten. Das wäre das beste Szenario. Meiner Ansicht nach liegt eine realistische Erwartung irgendwo dazwischen: Es wird einen Impfstoff geben. Aber vielleicht kein Wundermittel – ähnlich wie bei der Grippe, gegen die man sich ja jedes Jahr neu impfen lassen muss. Ich denke, über die nächsten ein, zwei Jahre wird die Gefahr einer Ansteckung, eines Wiederauflebens des Virus, nicht gebannt sein. Darauf kann man sich mental vorbereiten.

Da ist diese leise Sehnsucht nach dem Vorher. Herzliche Umarmungen, kräftiges Händeschütteln. Ungezwungenes Zusammensein.

Ja. Wir verlieren etwas Wichtiges. Vielleicht die Hauptquelle von Freude. Feiern, Zusammensein, Körperkontakt. Wir Menschen brauchen Kontakte und Berührungen. Das ist derzeit nicht möglich und das ist ein Verlust. Nostalgie ist völlig angebracht und normal. Wir nehmen jetzt wahr, was uns wichtig ist, weil es fehlt. Vorher war das so selbstverständlich, dass wir gar nicht bemerkt haben, wie sehr wir es brauchen.

Werden wir das alles wieder können?

Ich denke, wir werden es wieder lernen müssen. Das wird uns aber nicht so schwerfallen, weil wir den Grossteil unseres Lebens so verbracht haben. Auf den Vor-Corona-Zustand sind wir ja evolutionär zugeschnitten. Zusammen lachen, tanzen, singen und feiern. Alles, was schön ist.

 

Studie geht weiter
Aufgrund der zweiten Pandemiewelle wird die Studie fortgesetzt. Gesucht werden dafür weitere Teilnehmende. Informationen zur Studie: unifr.ch/go/klipsycorona

Wenn die Belastung zu gross wird
Wir helfen Ihnen. Kontakt:
Psychotherapeutische Praxisstelle des Psychologischen Departements,
026 300 76 55, unifr.ch/psycho/de

Peter Wilhelm ist Lehr- und Forschungsrat am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie (Departement für Psychologie). In seiner Forschung untersucht er, wie Menschen sich in ihrem normalen Alltag und unter ungewöhnlichen und belastenden Umständen verhalten und was sie dabei empfinden. Ein weiterer Schwerpunkt ist die empathische Akkuratheit. Dabei erforscht er, wie gut wir das Erleben und die Gefühle anderer Menschen erkennen können und was uns dabei hilft.

peter.wilhelm@unifr.ch