Forschung & Lehre

Eine Fledermaus macht Schule

Gemeinsam mit einem Illustrator haben sieben Autorinnen und Autoren drei Jahre lang an der Geschichte des Bilderbuchs «Quer» gefeilt. Ein Gespräch mit Emeline Beckmann und Alexandre Duchêne über den kollektiven Schreibprozess – und darüber, was all die Fledermäuse, Schwalben und Ratten zu bedeuten haben.

Wie kommen Sie als Forschende an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und am Institut für Mehrsprachigkeit dazu, ein Kinderbuch über Ungleichheiten und Ausgrenzung zu verfassen?

Alexandre Duchêne: Wir beschäftigen uns in unserer Forschungsgruppe schon seit jeher mit sozialen Ungleichheiten und untersuchen zum Beispiel wie sich der Sprachgebrauch je nach sozialer Klasse unterscheidet. Vor einigen Jahren stellten wir zudem fest, dass es zwar pädagogische Mittel über Rassismus, Behinderung, Gender oder Migration gibt, aber kein Material vorhanden ist, das Schulkinder dazu anregt, sich allgemein mit Unterschieden und Machtverhältnissen auseinanderzusetzen. So haben wir beschlossen, für einmal nicht nur akademische Kritik zu üben – sondern selber etwas vorzuschlagen.
Emeline Beckmann: Anfangs gingen unsere Ideen in Richtung eines pädagogischen Köfferchens. Wir wollten Unterrichtsmaterialien erstellen und dazu detaillierte Vorschläge machen.
Alexandre Duchêne: Uns war von Beginn weg klar, dass wir eine Geschichte brauchen, die als roter Faden durch das Thema führt. Je länger wir uns damit befasst haben, je mehr ist aus dem Begleitheftchen im Koffer zusehends ein eigenständiges Buch geworden, das nun auf Französisch, Deutsch und Italienisch vorliegt. Diese Mehrsprachigkeit schafft eine Verbindung zu unserem Institut und sorgt auch dafür, dass das Buch in der gesamten Schweiz genutzt werden kann.

Um was geht es in Ihrer Geschichte?

Emeline Beckmann: Delta, die Fledermaus, hat einen Freund, Hypsi, der schon von klein auf mit dem Bauch nach oben fliegt – und deshalb von den anderen Fledermäusen gemieden wird und mit ihnen Konflikte austrägt. Diese Konflikte machen Delta traurig und wütend, sie verlässt deshalb ihre Heimat. Auf ihrer Reise begegnet sie zuerst den Schwalben, wo sie zwei Freundinnen findet, aber von der Schwalbenkolonie ausgegrenzt wird. Als Fledermaus im Schwalben-Kontext erlebt Delta selber, wie es ist, nicht akzeptiert zu werden, obwohl sie sich zuvorkommend benimmt.
Alexandre Duchêne: Als Delta weiterzieht, kommt sie zu den Ratten, die im Untergrund leben – und von den Fledermäusen als minderwertige Tiere, als stinkende Kanalratten, angesehen werden. Bald gewinnt Delta jedoch auch in der Rattenwelt Freunde…
Emeline Beckmann: … und merkt, dass Ratten doch nicht so böse Tiere sind.
Alexandre Duchêne: Aber auch die Ratten sind nicht perfekt. Delta beobachtet, wie sich einige Stadtratten über eine Landratte lustig machen. Am Ende kehrt Delta zurück zu den Fledermäusen, sie möchte über ihre Erlebnisse berichten, aber ganz alleine geht das nicht…
Emeline Beckmann: Bei den Schwalben und Ratten beziehen wir uns auf die Klassengesellschaft. Und zeigen zugleich, dass ein soziologisches Verständnis über einfache Schwarz-Weiss-Schemen hinausgeht. Wir
beschreiben genau, was zwischen wem passiert: Wir gehen auf die Emotionen der verschiedenen Figuren ein – und verdeutlichen, wie sich die Machtverhältnisse in den Interaktionen der einzelnen Figuren widerspiegeln. So zeichnen wir nach, wie Ausschluss-Mechanismen funktionieren.

Für wen ist Ihr Buch gedacht?

Emeline Beckmann: Das Buch ist im Handel frei erhältlich und kann zusammen mit einer Bezugsperson auch ausserhalb der Schule gelesen werden. Wir setzen es jedoch auch in der Grund- und Fortbildung von Primarlehrpersonen ein. Wir haben ein Weiterbildungsangebot entwickelt, in dem wir den Lehrpersonen für jedes der sieben Kapitel die theoretischen Grundlagen näherbringen, die wir in unsere Geschichte eingeflochten haben. Dann nutzen die Primarlehrpersonen die Zeit mit uns, um aus dem Stoff eigene pädagogische Aktivitäten zu entwerfen, die sie dann mit ihren Klassen umsetzen können. Neuerdings bieten wir die Weiterbildung als Schulprojekt an. Alle Lehrpersonen von der ersten bis zur sechsten Klasse arbeiten mit dem gleichen Material, aber passen es an ihre jeweiligen Klassenkontexte an. Wenn sie sich miteinander austauschen und diskutieren, entsteht etwas Kollektives. Wir sind von dieser Vorgehensweise sehr angetan.
Alexandre Duchêne: Im Buch haben wir bewusst auf die Nennung der verschiedenen Sozialtheorien und auf die Verwendung komplizierter Begriffe verzichtet. Aber wir haben viele Szenen in unserer Geschichte so konzipiert, dass sie etwa die Thesen von Pierre Bourdieu über institutionelle Autoritäten oder die Ideen von Erving Goffman über die Stigmatisierung als interaktionellen Prozess veranschaulichen. Wir wollen mit unserer Geschichte weiter gehen als der üblicherweise in der Schule verfolgte Ansatz, der sich oft nur auf die Feststellung beschränkt, dass Vielfalt schön und bereichernd sei. Unsere Geschichte soll darüber hinaus auch aufzeigen, wie Ungleichheiten in unserer Gesellschaft entstehen und welche Folgen sie haben. Es geht auch nicht um einzelne spezifische Unterscheidungskategorien, sondern um allgemeine soziale Ein- und Ausschlussmechanismen.

Sie schreiben auf der Webseite des Buchs, dass es im Entstehungsprozess mitunter zu hitzigen Diskussionen gekommen ist.

Alexandre Duchêne: Wir haben tatsächlich sehr viel diskutiert, zum Beispiel über den Gebrauch des generischen Femininums in unserer Geschichte, mit dem nicht alle in unserer Gruppe einverstanden sind. Wir haben uns schlussendlich aber doch dafür entschieden, weil wir uns erhoffen, dass die ungewohnte Form bei unseren Leserinnen und Lesern auch Fragen bezüglich der sprachlichen Normen aufwirft. Häufig ging es aber auch um inhaltliche Aspekte. Einige Auseinandersetzungen führten sogar zur Streichung von ganzen Kapiteln, die vom Kern der Geschichte ablenkten.
Emeline Beckmann: Oft haben wir auch über einzelne Sätze oder Wörter diskutiert. Im Zentrum stand meist die Leitfrage: Was bedeutet eine Formulierung aus politischer und soziologischer Sicht? Ich fand diese Debatten hilfreich, denn durch das Zusammenführen von sieben verschiedenen Perspektiven gewann man wieder die Distanz zum Text, die während dem Schreiben manchmal verloren gegangen war. Intensiv haben wir auch die Frage diskutiert, ob der Textstil nicht zu anspruchsvoll ist. Wir haben so oft wie möglich versucht, einen Konsens herbeizuführen – und alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen.

 

© Baptiste Cochard

Die Hauptfigur ist die Fledermaus Delta. Wieso firmieren Sie im Autorenkollektiv das Buch unter demselben Namen?

Alexandre Duchêne: Uns war immer klar, dass wir nicht einzeln, sondern als Gruppe auftreten wollten. Weil wir uns damit der Logik der Erst-, Zweit- und Letztautorenschaft entziehen, aber vor allem weil wir so unsere Arbeit als Kollektiv in den Vordergrund stellen. Den Namen für die Fledermaus (auf den wir übrigens vor Corona gestossen sind) hatten wir schon. Für uns war es ziemlich naheliegend auch für unsere Gruppe ihren Namen zu wählen, weil wir uns ein Stück weit mit der Hauptfigur identifizieren: Delta stellt sich Fragen und geht dann auf eine Reise, während der sie wie eine Ethnographin soziale Prozesse teilnehmend beobachtet. Genau das machen wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch. Aber wir fühlen uns auch mit Delta verbunden, weil sie keine Superheldin ist, sondern wie alle anderen manchmal auch Fehler macht, den Mut verliert und Hilfe braucht.
Emeline Beckmann: Diese Unvollkommen­heit passt sehr gut zum Thema. Denn unser theoretisches Wissen über die Komplexität von sozialen Beziehungen hindert uns leider nicht daran, trotzdem ständig Ungleichheiten zu reproduzieren. Wir sind uns bewusst, dass sich das Problem wohl nicht aus der Welt schaffen lässt. Doch mit unserem Buch wollen wir den Kindern Werkzeuge in die Hand geben, mit denen sie soziale Situationen analysieren können. Damit sie Ungleichheiten identifizieren und über Handlungsmöglichkeiten nachdenken, die dem Ausschluss und der Diskriminierung entgegenwirken. Unsere Botschaft lautet: Probiert, allein oder in der Gruppe, gegen Ungleichheiten anzugehen. Das wird bei weitem nicht immer klappen, aber manchmal schon.

Die Figur, die in der Geschichte am ehesten einen Superhelden-Charakter hat, ist die des Igels Polka.

Alexandre Duchêne: Genau. Und trotzdem ist auch der Igel eine Art Antiheld: Er nimmt nur wenig erzählerischen Raum ein, denn er tritt erst gegen den Schluss der Geschichte auf. Ausserdem ist der Igel ein Aussenseiter, denn er befindet sich in der Untergrundwelt der Ratten. Er spricht und unternimmt eigentlich nur sehr wenig.

Er beginnt, ein Lied zu singen.

Alexandre Duchêne: In das alle anderen nach und nach auch einstimmen. Dadurch spielt der Igel eine Schlüsselrolle, denn er löst die verbindende kollektive Handlung aus.

Der Igel rät der Fledermaus Delta davon ab, für ihren Freund Hypsi zu sprechen. Besser solle Hypsi für sich selbst sprechen.

Alexandre Duchêne: Tatsächlich hatten wir zuerst ein Ende ohne Hypsi geschrieben. Dann kam jemandem in der Gruppe plötzlich in den Sinn: «Hey, wo ist Hypsi geblieben?»
Emeline Beckmann: Da realisierten wir, dass es nicht ohne die querfliegende Fledermaus geht. Aber weil wir Hypsi vergessen hatten, wollten wir auch nicht, dass sich Delta selbst an ihren Freund erinnert. Es musste eine andere Figur sein, die sie darauf hinweist. Der Schluss war die Stelle, an der wir am meisten Schwierigkeiten hatten. Insgesamt haben wir drei Dutzend Fassungen geschrieben.
Alexandre Duchêne: Ich weiss nicht mehr, wieso wir uns für den Igel entschieden haben. Vielleicht war es ein intuitiver Entscheid, der jedoch im Nachhinein betrachtet wirklich sehr gut passt. Das ist interessant, denn viele andere Dinge, die wir sehr bewusst in die Geschichte hineingebaut haben, mussten wir wieder entfernen, weil sie uns schlussendlich nicht überzeugten. Andererseits erwies sich der Titel – völlig ungeplant – als glückliche Fügung. Wir hatten für unser Kinderbuch eigentlich immer das klassische Längsformat im Kopf. Erst als es ums Layout ging, merkten wir, dass wir so viel Text hatten, dass wir ihn nicht über die wirklich wunderschönen Bilder unseres Illustrators Baptiste Cochard verteilen konnten. Wir waren verzweifelt, bis jemand auf die Idee stiess, das Buch zu drehen – und im Querformat zu drucken. So ist aus einem technischen Problem eine konzeptionell aussergewöhnliche Lösung geworden.

 

Alexandre Duchêne ist Professor für Sprachsoziologie an der Universität Freiburg und Direktionsmitglied des Instituts für Mehr­sprachigkeit.
alexandre.duchene@unifr.ch

 

 

 

Emeline Beckmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mehrsprachigkeit.
emeline.beckmann@unifr.ch

 

 

 

 

 

Das Buch «Quer» kann auf der Web­seite der Druckerei Le Cric online bestellt werden: cricprint.ch/delta