Dossier

Der dissonante Wüstenchor

What are the roots that clutch, what branches grow / Out of this stony rubbish? Hier wächst nichts, hier halten keine Wurzeln. T.S. Eliot (1888–1962) zitiert den Propheten Ezechiel, Kapitel 2, wenn er eine wüste Landschaft präsentieren möchte. Doch Prophet und Dichter gleichermassen wollen, wenn es denn möglich ist, den Haufen der zerbrochenen Bilder wieder zu einem Sinngefüge zusammenbringen.

Vor genau einhundert Jahren, im November 1922, veröffentlichte der Amerikaner Eliot, damals vierunddreissig Jahre alt und in London lebend, sein Gedicht «The Waste Land», 433 Zeilen lang, in der Avantgarde-Zeitschrift «The Dial». Der Dichter, der sich hier auf Ezechiel beruft, ist pessimistisch. Der Menschensohn weiss nicht recht weiter:

 
Son of man,

You cannot say, or guess, for you know only

A heap of broken images [.]

 
Die literarische Elite nahm das Gedicht mit Begeisterung auf, zumal es Ezra Pound gewidmet war, der in den Jahren um den Ersten Weltkrieg unermüdlich literarische Talente förderte und der auch Eliots Text gehörig revidiert hatte. Innerhalb kürzester Zeit wurde das «Waste Land» als epochemachend angesehen. Noch 1951, also fast dreissig Jahre später, musste Eliots Zeitgenosse William Carlos Williams neidvoll – und komplett anachronistisch! – anerkennen, dass das Gedicht «wie eine Atombombe» eingeschlagen habe.

Heute gilt «The Waste Land» als wichtigstes anglophones Gedicht des 20. Jahrhunderts und, zusammen mit James Joyces «Ulysses», als Höhepunkt der anglophonen literarischen Moderne. Beide Texte bedienen sich aus dem thematischen Repertoire der Antike, Eliot dazu aber auch aus der Parsifal Tradition, aus Dante, Shakespeare, Dickens, dem Ödipus-Stoff, aus Herrmann Hesse und dem Anthropologen Sir James Frazer sowie der Mediävistin Jessie Weston. Das Resultat ist eine Abfolge von schwindelerregenden Versatzstücken, die sich gelegentlich szenisch entfalten – mit besonderem Augenmerk auf die sozial schwachen Schichten der Londoner Bevölkerung – und die direkt auf die Nachkriegsgegenwart projiziert werden. Die endlosen Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges sind die sichtbaren Orte der vom Menschen selbst angerichteten Verwüstung.

Es entsteht ein vielstimmiger dissonanter Chor von Stimmen und Zitaten, die oft übergangslos nebeneinanderstehen. Der Grundtenor ist eindeutig: Wüste, Verwüstung, Unfruchtbarkeit auf den Feldern sowie in sexuellen Beziehungen. Der Tod ist praktisch schon im Leben präsent: in der Routine der Büroangestellten versinnbildlicht sich die Sterilität im Miteinander, die tödliche Langeweile im Sozialen und im Arbeitsleben. Das Baudelaire’sche ennui macht jede Ambition zunichte. Das Epigraph des Gedichtes stellt dementsprechend den gesamten Text unter den Wunsch der Cumäischen Sibylle, der mit einem Fluch geschlagenen antiken Seherin: uralt geworden, möchte sie nur noch Eines, nämlich sterben. Die Vielstimmigkeit der Zitate bleibt auch nach mehrfacher Lektüre verwirrend. Eliot selbst fügte seinem Gedicht wenig später Fussnoten bei, und seither haben Kritiker sich an den Quellen ergötzt, wenngleich diese oft nicht mehr als vorbeihuschende Impressionen bleiben.

© Valentin Rime

East Tat’Ali Basin, Dépression du Danakil

05.02.2019 | 13.4933°N, 41.0051°E

En regardant en arrière, la visibilité est bonne aujourd’hui. Du gypse, du sable et du basalte. Tous se sont déposés ici il y a moins d’un demi-million d’années, une période extrêmement courte pour un géologue. Nous essayons de comprendre comment la tectonique, le volcanisme, les variations du niveau marin et les cycles climatiques ont conduit à la formation de ces paysages lunaires, mais aussi comment ils ont évolué et comment ils ont été utilisés par nos ancêtres Homo pour sortir d’Afrique.

A Passage to India

Wie kann eine solche trübe Positionsbestimmung zum Leuchtturm der Moderne werden? Nun, nach der von Ezra Pound geforderten Maxime «Make it New!» sollte man ja nicht unbedingt Neues erfinden, sondern die entscheidenden Dinge der Überlieferung neu zusammenfügen. Was bleibt nach der Katastrophe des Krieges, in der Europa sich offensichtlich selbst zerfleischt und seine politische und kulturelle Relevanz aufgegeben hat? Hier offenbart sich Eliots Genialität. Am Ende seines Textes sagt er «These fragments I have shored against my ruins.» Neben der europäischen Geistesgeschichte bezieht er sich, im Fortgang des Textes durch fünf Teile, wie in den Akten eines Dramas, mehr und mehr auf die hinduistische Tradition der Upanishaden. Sie predigen, wie auch besonders der Buddha in seiner Feuerpredigt, eine Abkehr von der Begierde und vom Hass. So wie es das Feuer löscht, kann das Wasser am Ende auch die Fruchtbarkeit wiederherstellen. Der «Fischerkönig» Anfortas aus der Parsifal-Sage, der im Gedicht lange Zeit im Trüben fischt, kann am Ende von seiner Verwundung geheilt und doch im Dienste seines Volkes wieder fruchtbar werden.

Eliots Bezug auf den Hinduismus ist zum Teil dadurch zu erklären, dass sich seiner Ansicht nach die abrahamitischen «Wüstenreligionen», welche Motive der Trockenheit, des Dürstens, und damit eben der Kostbarkeit schon geringer Mengen Wassers widerspiegeln, in der Geschichte Europas quasi verbraucht hätten. An ägyptischer Kulturgeschichte hingegen, die auch in einer Wüste beheimatet ist aber dennoch den Nil hat, findet er Gefallen. Die Figuren Attis und Osiris sind ihm wichtig, das längste Shakespeare-Zitat ist eine Passage aus Antony and Cleopatra, in der die Ägypterin im prachtvollen Boot den Nil befährt. Alexandria hat hier den Vorrang vor Athen im Streit der Neoplatonischen Schulen, die zu Eliots Zeit recht streng unterschieden wurden. Ägypten wird für Eliot eine Brücke nach Indien – eine «passage to India» wie sie auch andere Autoren der Moderne suchen, wie etwa E.M. Forster in seinem gleichnamigen Roman von 1924. Indien hat in Eliots dichterischer Welt Zugang zu einer Philosophie, welche neue Kriege verhindern könnte.

Verwüstung, Sterilität und Fruchtbarkeit

Nun hat «waste» noch mehr Bedeutungen als «Wüste». Eine spanische Übersetzerin (Viorica Patea, 2011) wählt «La Tierra Baldía», also Einöde. Ernst Robert Curtius übersetze den Titel 1951 mit «Das wüste Land». Französische Übersetzer changieren in den Adjektiven zwischen «vaine», «inculte» und «gaste». Für unsere Zeit kann man das Wort «waste» im Sinne von Müll und Abfall oder auch als eine Verurteilung der Ressourcenverschwendung lesen, und ein Textbeleg dazu sind die Abfälle von Picknicks bei der Themse (Z. 177-180), die der Fluss längst weggetragen hat. Vielleicht bleibt über diese Perspektive der Text auch der heutigen Leserschaft zugänglich, wenngleich für Eliot, vor hundert Jahren, Nachhaltigkeit im heutigen Sinn noch nicht zum Erwartungshorizont gehörte. Stattdessen betont er immer wieder den Gegensatz zwischen Verwüstung und Sterilität auf der einen und Fruchtbarkeit auf der anderen Seite. Wir hören «Öd und leer das Meer» aus Tristan und Isolde auf Deutsch zitiert und erfahren sodann von der Figur eines ertrunkenen Phöniziers, während anderswo ein Leichnam im Garten vergraben wird und als Düngemittel dienen soll. Die Bilder verschwimmen in den Motiven.

Nach seiner Konversion zur anglokatholischen Kirche und seiner Einbürgerung nach Grossbritannien im November 1927, genau fünf Jahre nach der Publikation des «Waste Land», betonte Eliot seine gefestigte Geisteshaltung: er seit jetzt «an Anglo-Catholic in religion, a classicist in literature and a royalist in politics». Vielleicht hatte er mit dem «Waste Land» ja einen kulturpessimistischen «Blick ins Chaos» getan: er verweist seine Leser auf das gleichnamige Buch von Hermann Hesse (1920) und prophezeit das Ende der in Städten angesiedelten Hochkultur. Eliot, dieses konservative Temperament, war eben doch kein Bilderstürmer, sondern vielmehr ein Sammler von Fragmenten.

 Die wüste Landschaft

Der vielstimmige Chor in diesem Text wird immer wieder von gespenstischer Stille abgelöst. Die Wüste ist am Ende nicht nur trocken, sondern auch schattenlos und geräuschlos. Das Eingangszitat wird so vervollständigt: 


for you know only

A heap of broken images, where the sun beats,

And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief,

And the dry stone no sound of water. 

 

So dient das Gedicht, komponiert im Nachgang zum Ersten Weltkrieg, weiterhin als Anschauung einer Verwüstung von Landschaft, Religion, Kultur und vor allem von zwischenmenschlichen Beziehungen.

Unser Experte Thomas Austenfeld ist Professor für Amerikanische Literatur an der Universität Freiburg. Ausgebildet in Münster und an der University of Virginia, hat er 20 Jahre in den USA gelehrt, bevor er in die Schweiz kam.

thomas.austenfeld@unifr.ch