Interview

Heute schon ausgebeutet?

Menschenhandel hat viele Facetten. Es muss nicht immer gleich der Prostitutionskreis in Dubai sein. Ein Interview mit zwei Expertinnen, die uns aufzeigen, wie komplex und verbreitet die verschiedenen Formen des Menschenhandels tatsächlich sind.

Wenn man «Menschenhandel» googelt, stösst man schnell auf den Begriff «moderne Sklaverei». Wie verhalten sich die beiden Begriffe zueinander? 

Sarah Progin-Theuerkauf: Zuerst einmal ist es wichtig, zwischen Menschenhandel und Menschenschmuggel zu unterscheiden. Schmuggel ist, wenn Leute gegen Bezahlung über eine Grenze in einen Staat gebracht werden, in dem sie kein Recht auf Aufenthalt haben. Diese Leute können sich danach aber frei bewegen. Beim Menschenhandel wird eine Täuschung, Drohung, Gewaltanwendung oder ein sonstiges Mittel zur Ausbeutung der Arbeitskraft, zur sexuellen Ausbeutung oder auch zur Organentnahme eingesetzt. Einige moderne Formen der Sklaverei fallen auch unter den Begriff des Menschenhandels, wobei hierfür aber jegliche Kontrollausübung über einen Menschen ausreicht. Menschen für einen sehr geringen Lohn arbeiten zu lassen oder Hausangestellte und Kindermädchen hierher zu holen, die dann nichts verdienen, sind beispielsweise moderne Formen der Sklaverei und manchmal auch Menschenhandel.

Samah Posse: Der Menschenhandel ist straf­rechtlich relevant. Die moderne Sklaverei ist ein Sammelbegriff und stellt uns eher vor arbeitsrechtliche Probleme, etwa wenn eine Asymmetrie im Arbeitsverhältnis vorhanden ist, die dann meistens von den Gewerkschaften angegangen wird.

Sarah Progin-Theuerkauf: Die Schneiderin in Bangladesch, die für einen Euro am Tag in einer Fabrikhalle arbeitet, ist ein Opfer moderner Sklaverei – das ist aber vorerst nicht strafrechtlich relevant. Das wird es erst, wenn eine Verknüpfung besteht mit Zwang, Druck oder einer List, die man anwendet, um die Person dazu zu bringen, etwas zu machen. Sie verliert dadurch ihre Selbstbestimmung. Beispielsweise hat man Frauen in Rumänien gesagt: «Kommt doch in die Schweiz. Hier könnt ihr als Reinigungskraft oder Haushaltsangestellte arbeiten und viel Geld verdienen!» Tatsächlich zwingt man sie dann zur Prostitution, nimmt ihnen den Pass weg und sagt ihnen: «Wir wissen, wo sich deine Familie befindet. Wenn du nicht machst, was wir sagen, bringen wir deine Angehörigen um.»

Frauen aus der Ukraine, die wegen des Krieges hierhergekommen sind, werden von Männern mit falschen Versprechungen zum Sex genötigt. Wie verhält es sich damit?

Samah Posse: Es wurde in den Medien von Fällen berichtet, in denen sich Männer explizit junge Ukrainerinnen ausgesucht und ihnen versprochen haben, sie bei sich aufzunehmen. Es wurde ihnen gesagt, dass sie sich nicht zu registrieren bräuchten; die Männer würden sich schon um alles kümmern. Die Frauen wurden dann sexuell missbraucht, in einen Prostitutionsring eingebunden oder als Haushaltshilfe ohne Entlöhnung beschäftigt. Das sind alles Formen des Menschenhandels. So werden Menschen bisweilen völlig unsichtbar gemacht, wie auch folgender Fall aus dem Asylrecht verdeutlicht: Ein chinesischer Staatsangehöriger wurde aus einem Keller befreit. Er musste davor in einer Küche arbeiten, erhielt keinen Lohn und konnte nicht flüchten, weil er ohne Papiere war und kein Wort Französisch sprach. Das Absurde an dieser Geschichte ist, dass er aufgrund seines illegalen Aufenthaltsstatus in Haft genommen wurde und die Behörden Mühe hatten, eine Person zu finden, die seinen spezifischen chinesischen Dialekt spricht. Oft werden besonders vulnerable Personen ohne gute Ausbildung Opfer von Menschenhandel, die dann auch nicht wissen, wo sie Hilfe suchen können. Es kann aber auch gut ausgebildete Personen treffen.

Samah Posse ©STEMUTZ.COM

Manche Menschen werden also mehr ausgebeutet als andere?

Sarah Progin-Theuerkauf: Es gab am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den Fall eines jungen Vietnamesen, der auf einer Cannabis-Farm eingesperrt war und dort den ganzen Tag arbeiten musste. Die Behörden in Grossbritannien haben ihn wegen des illegalen Aufenthaltes in Abschiebehaft genommen und nicht weiter untersucht, ob das ein Fall von Menschenhandel war, obwohl es deutliche Anhaltspunkte dafür gab: der Junge sprach kein Wort Englisch, hatte keine Papiere bei sich, schlief neben dem Gewächshaus und wurde die ganze Zeit überwacht. Sind solche Anhaltspunkte gegeben, trifft die Behörde eine Schutzpflicht und es müssen Ermittlungen durchgeführt werden. Idealerweise erhält die betroffene Person ein Aufenthaltsrecht, zumindest, wenn man sie während des Strafverfahrens als Zeugin braucht. In der Schweiz ist diese Möglichkeit vorhanden, aber eben nur für die Dauer des Strafverfahrens. In anderen Ländern werden die Betroffenen leider teilweise sofort abgeschoben. Das macht die Person noch vulnerabler. Menschen, die einen Asylantrag stellen und Verfolgungsgründe geltend machen, können besser geschützt werden. Wenn die Person beispielsweise im Herkunftsland verfolgt werden würde, gerade weil sie Opfer von Menschenhandel wurde, etwa weil sie sich hier prostituiert hat, muss man sie hierbehalten.

Laut aktuellen Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind weltweit rund 40 Millionen Menschen versklavt und es kommen jedes Jahr ein paar Millionen dazu. Gibt es konkrete Ziffern zum Menschenhandel, insbesondere in der Schweiz?

Sarah Progin-Theuerkauf: Da es in der Regel illegale Migrant_innen sind, gibt es keine offiziellen Zahlen.

Samah Posse: Das Phänomen ist so komplex, dass es selbst für die Behörden schwierig zu erfassen ist. So gibt es etwa ein nigerianisches Netzwerk von Zwangsprostitution. Dafür werden schöne Frauen ausgesucht, denen man einen Job in Europa und allgemein eine bessere Zukunft verspricht. Um sicherzugehen, dass sie ihre Schulden begleichen, macht man mit ihnen Voodoo-Rituale. Dafür werden Haare, Fingernägel oder sogar Menstruationsblut dieser Frauen genommen und in eine Zeremonie verpackt. Weil Nigerianer_innen fest an solche Rituale glauben, sind sie überzeugt, dass ihnen Böses geschieht und etwa ihre gesamte Familie sterben wird, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Sie sind sogar so fest konditioniert und eingeschüchtert, dass sie keine Hilfe annehmen würden, selbst wenn man sie anbieten würde. Darüber reden sie gar nicht.

Sarah Progin-Theuerkauf: Es gibt auch den berühmten Rantsev-Fall des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Eine Russin wurde nach Zypern gebracht, musste in einem «Kabarett» arbeiten, wollte dies aber nicht mehr. Ihr Chef brachte sie zur Polizei und wollte sie in Ausschaffungshaft nehmen lassen, um Druck auf sie auszuüben. Die Polizei tat nichts und liess die Frau mit ihrem Ausbeuter weggehen. Später fiel oder sprang sie nachts aus dem Fenster im sechsten Stock eines Privathauses und starb – der Fall wurde nie richtig aufgeklärt. Erst schob man der Frau die Schuld zu, dann wurden Zypern und Russland verurteilt, weil sie nichts unternommen hatten, um den Fall genauer zu untersuchen. Aber auch Familien und insbesondere Kinder werden als Druckmittel genutzt, beispielsweise in Rumänien.

Samah Posse: Nicht zu vergessen Kinder und Jugendliche, die gezwungen werden, kriminelle Taten zu begehen, wie Diebstähle, Einbrüche.

Sarah Progin-Theuerkauf: Oder sie werden zum Betteln benutzt. Ausserdem werden Kinder manchmal zur Adoption regelrecht verkauft.

Samah Posse: Vielleicht kennen Sie «Le cahier bleu», von James A. Levine, einem britischen Arzt, der Kinderprostitution in Indien beschreibt: Wenn die Kinder langsam in die Pubertät kommen, kastriert man sie, damit sie ihre kindliche Erscheinung bewahren. Die meisten Eingriffe verheilen schlecht, so dass einige dabei ihr Leben lassen.

Sarah Progin-Theuerkauf ©STEMUTZ.COM

Wie kann ich als Durchschnittsbürger_in wissen, ob beispielsweise die Sexarbeiterin in der Grand-Fontaine hier in Freiburg freiwillig arbeitet oder nicht?

Sarah Progin-Theuerkauf: Als Aussenstehende_r oder sogar als Kund_in ist es echt schwierig, das zu erkennen; die Frau muss einem dafür vertrauen. Es gibt aber Opfer­schutzvereinigungen, an die man sich wenden kann und die mehr Erfahrung im Umgang mit derartigen Situationen haben und auch garantieren können, dass das Geheimnis der Frau erst einmal bewahrt wird, weil sonst Ausweisung, bei Drittstaatsangehörigen auch Einreiseverbote für den ganzen Schengen-Raum und weitere schwere Konsequenzen drohen.

Samah Posse: Die Kantonspolizei Genf hat sogar eine spezialisierte Abteilung auf­ge­baut, weil im Kanton sehr viele Menschenhandelsfälle entdeckt wurden. Häufig handelt es sich bei den Täter_innen um Diplomat_innen, die ihr Hauspersonal ausbeuten und misshandeln.

Sarah Progin-Theuerkauf: Auch im Privaten gibt es Leute, die sich teilweise gar nicht bewusst sind, dass das, was sie tun, auch schon in einer Grauzone zu Menschenhandel und Ausbeutung ist. Wenn etwa eine entfernte Cousine aus einem Drittstaat mit einem Touristenvisum nach Freiburg geholt wird, damit sie bei der Kinderbetreuung oder im Haushalt mithilft und dafür nur dreihundert Franken Taschengeld im Monat erhält, worüber sie auch noch froh ist, weil sie so arm ist, aber tatsächlich Tag und Nacht gratis arbeitet, ist das schon grenzwertig.

Samah Posse: Das ist die dunkle Seite der Unwissenheit. Ich selbst habe bei vorangegangenen Tätigkeiten als Juristin gemerkt: Wir haben stets nur Bruchstücke der Gesamtgeschichte einer Person erhalten. Daher haben Prof. Progin-Theuerkauf und ich uns gedacht, dass es sinnvoll wäre, eine Weiterbildung anzubieten und die verschiedenen Akteure zusammenzubringen, die dann von ihren Erfahrungen auf dem Feld berichten, für ein besseres Verständnis des Falls.

Sarah Progin-Theuerkauf: Ein Ausbildungsbedarf besteht in vielen Berufen: Sozial­arbeit, Psychologie, Medizin, Recht etc. Wir haben alle nur den Background unseres speziellen Fachs, aber nicht den Gesamtüberblick – in der Praxis wissen wir oft nicht, was wir genau tun sollen. Die Rechtsprechung selbst steht auch noch ganz am Anfang. Ein paar Sachen sind strafrechtlich relevant, aber der grosse Rest nicht. Wer sich strafbar macht, erhält zudem meistens eine kleine Busse, die nicht schmerzt. Wer mit Zwangsprostitution so viel Geld verdient, zahlt auch problemlos 10’000 Franken Strafe.

Sie haben dem Thema kürzlich eine Tagung gewidmet.

Samah Posse: Genau, um den Dialog und Austausch zu fördern. Wer sich mit dem Ausländerrecht befasst, hat auch häufig Fragen zum Strafrecht und umgekehrt. Die Expert_innen sind vielfach frustriert, weil sie die Ausbeuter_innen teilweise kennen, diese aber die Opfer so stark einschüchtern, dass es notwendig ist, Leute aus dem eigenen Team zu infiltrieren, um an Informationen zu kommen. Diese exponieren sich, bringen sich selbst in Gefahr, nur um dann wieder mit ihrer Arbeit von vorne anfangen zu müssen, weil die Opfer meistens nicht als Zeugen aussagen wollen und dann schnell ausgeschafft werden. Menschenhändler_innen kennen sich sehr gut mit dem Gesetz aus und wissen, dass sie nahezu unantastbar sind. Genau deshalb müsste man die Opfer besser schützen.

Sarah Progin-Theuerkauf: In einem Strafverfahren will oft niemand Zeug_in sein. Wenn der einzige Zeuge die Aussage verweigert, dann kann man nichts mehr machen. Wenn dann kein Asylgesuch gestellt wird, muss das Opfer das Land sofort verlassen.

Samah Posse: Es wäre gut, eine einzige zuständige Behörde zu haben; die straf-, ausländer- und asylrechtlich Überprüfungen im Bereich von Menschenhandel vornimmt und ein Dossier von Anfang bis Ende behandelt.

Haben Social Media und die Globalisierung den Menschenhandel noch verstärkt?

Sarah Progin-Theuerkauf: Ich glaube schon. Es ist einfacher, die Leute zu kontaktieren. Man kann vieles durch falsche Bilder transportieren, etwa in dem man zeigt: «Schau mal, da sitzt jemand im Mercedes in der Schweiz. Komm doch auch! Auch du kannst schnell reich werden.» Und man kann die Leute auch besser kontrollieren, weil man mehr Informationen über sie hat.

Samah Posse: In den Vereinigten Arabischen Emiraten werden aktuell viele afrikanische Frauen als Sklavinnen zur sexuellen Ausbeutung rekrutiert. Es sind häufig junge, schöne Frauen, die man über Social Media kontaktiert und denen man dann die Würde nimmt, sobald sie angereist sind. Man nennt sie oft die «Toiletten-Frauen» oder «Mülleimer-Frauen», die zu sexuellen Praktiken mit Tieren oder zum Essen von Fäkalien gezwungen werden. Einige von ihnen verschwinden und werden nie mehr gefunden. Einzelne Frauen brechen nun das Schweigen und die sozialen Medien werden mittlerweile auch genutzt, um zu denunzieren und andere zu warnen. Die sozialen Medien sind daher ein zweischneidiges Schwert; man kann sie im Guten wie im Schlechten nutzen.

Samah Posse ist Lektorin am Institut für Europarecht, Koordinatorin des
CAS Migrationsrecht und des CAS Asylverfahren und Lehrbeauftragte an der Universität Neuenburg.

samah.posse@unifr.ch

Sarah Progin-Theuerkauf ist Profes­sorin am Lehrstuhl für Europarecht und europäisches Migrationsrecht und Co-­Direktorin mehrerer Institute und Zentren, darunter dem Institut für Europarecht.

sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch