Dossier
Stimmt das auch wirklich?
Wahrheit oder Lüge, Leben oder Tod? Asylentscheide können Biographien prägen. Aber wie weiss man, ob die gesuchstellende Person die Wahrheit sagt?
In den letzten Jahren wurden in der Schweiz jährlich um die 15’000 Asylanträge gestellt. Wer die Kriterien erfüllt, kann bleiben. Wer nicht, muss wieder gehen. Selten steht deshalb so viel auf dem Spiel, wie wenn Asylsuchende ihre Geschichte erzählen. Wie kann man wissen, ob eine Erzählung wahr ist, wenn man selbst nicht dabei war?
Gleich zu Beginn des Gesprächs zieht Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europarecht und Migrationsrecht, das Schweizer Asylgesetz aus dem Regal, blättert und wird fündig. «Hier», sagt sie, «Artikel 7: Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen.» Glaubhaft? Absatz 2 und 3 geben Auskunft: «Glaubhaft gemacht ist die Flüchtlingseigenschaft, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden.» Soweit das Gesetz. Lektorin Samah Posse erläutert, was das konkret heisst: «Zunächst einmal geht es darum, offensichtliche Widersprüche zu erkennen. Wenn jemand einmal sagt, er sei drei Tage festgehalten worden und dann sagt, es waren drei Monate, dann stimmt etwas nicht. Das sind die einfachen Fälle. Komplizierter wird es aber bei der Frage, ob man sich überhaupt versteht.»
Verstehen Sie mich?
Sprache ist immer ein Zaubertrick. Jemand hat einen Gedanken und wenn die Kommunikation gelingt, erscheint derselbe Gedanke im Kopf einer anderen Person. Allerdings kann unterwegs allerhand passieren. Das Gespräch mit Progin-Theuerkauf und Posse wurde auf Französisch geführt – von einem deutschsprachigen Journalisten ohne juristische Kenntnisse. Dieser schreibt so gut er kann, was er verstanden hat und Sie, werte Leserin oder werter Leser, tragen wiederum Ihre ganz eigene Brille. Zum Glück gibt’s in diesem Beispiel Sicherheitsmechanismen wie die Korrekturlektüre durch die Expertinnen. Und die Störfaktoren sind nicht sonderlich zahlreich. So stehen die Chancen gut, dass Sie am Ende wirklich das verstehen, was Samah Posse gemeint hat. Im Asylprozess ist es deutlich schwieriger.
«Es beginnt mit der Kultur und dem Bildungsstand», erklärt Samah Posse. «Wir hier am Tisch sind uns einig, wie man eine Geschichte erzählt, wir verwenden dieselben Sprachbilder, wissen wie man etwas strukturiert. Viele Geflüchtete erzählen ihre Geschichten aber völlig anders. Nur schon ihre Art zu erzählen, ist oft schwer nachvollziehbar. Es gibt Leute, die Fragen nicht direkt beantworten, weil das in ihrer Kultur nicht üblich ist. Erst drei Fragen später wird die Antwort auf die frühere Frage eingebaut. Andere sprechen in für uns unüblichen Bildern und Metaphern.» Auch die Übersetzer_innen stehen vor Problemen. «Je nach Dialekt kann dasselbe Wort beispielsweise Haus oder Zimmer heissen. Und die Flüchtenden misstrauen den Übersetzenden auch. Wer ist das? Wird er oder sie wahrheitsgemäss übersetzen? Hat er Kontakte zum Régime daheim?»
Es gibt aber auch ganz konkrete, banale Möglichkeiten für Missverständnisse. «Manchmal erscheinen die Geschichten auf den ersten Blick widersprüchlich, sind es aber nicht, wenn man den Kontext kennt. Sagen wir, Ihre Mutter heisst Marie-Gertrude. Von der Familie wird sie Marie genannt, von ihren Freunden aber Gégé. Wenn Sie beim Erzählen beide Namen verwenden, klingt das, als sprächen Sie von zwei verschiedenen Frauen.»
Die Krux mit der Lebenserfahrung
Grundsätzlich wird nach Unstimmigkeiten gesucht, nach Dingen die nicht plausibel oder eben nicht glaubhaft sind. Bei den groben Eckdaten kann dies relativ gut gelingen. Manche Geflüchteten versprechen sich einen Vorteil davon, sich als älter oder jünger auszugeben oder je nach politischer Situation aus einem anderen Land zu kommen. Das lässt sich teils mit medizinischen Methoden, teils durch das Abfragen von Ortskenntnissen oder das Identifizieren des Dialekts relativ gut überprüfen. Schwieriger ist es in den Details. Etwa, wenn eine Geschichten der normalen Lebenserfahrung widerspricht. Nur hat ein Schweizer Richter aber nicht die Lebenserfahrung einer geflüchteten Afghanin. «Unsere Lebenserfahrung sagt, dass es gut ist, wenn man sich ausweisen kann. Andernorts ist es gut, wenn man nicht erkannt wird.» Hinzu kommt, dass das Verhalten in Extremsituationen tatsächlich unlogisch sein kann. «Ich habe die Geschichte einer Frau gehört, die, als die Bomben fielen, ihr Kind auf den Rücken geschnürt hat und zur Grenze marschiert ist. Erst dort stellte sie fest, dass sie nicht ihr Kind, sondern nur einen Rucksack trug.»
Wovon man nicht sprechen kann
«Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier oft mit traumatisierten Menschen zu tun haben», sagt Posse. «Manche haben Dinge erlebt, von denen sie noch gar nicht sprechen können. Oder nicht sprechen ‹dürfen›.» Besonders schwierig sind Fragen der Ehre und der gesellschaftlichen Tabus. Viele Frauen erleben sexuelle Gewalt. «In vielen Gesellschaften wird es der Frau angelastet, wenn sie vergewaltigt wird. Sie ist es dann, die die Familienehre beschmutzt hat. Eigentlich müssten die Frauen davon erzählen; es würde ihre Chancen auf Asyl bzw. eine vorläufige Aufnahme verbessern. Aber es sind Dinge, die persönlich traumatisch und gesellschaftlich stigmatisiert sind. Das Erzählen kann das Trauma wieder aktivieren oder sie in Konflikt mit ihrem verinnerlichten Wertesystem bringen. Und sie sitzen Menschen gegenüber, die sie nicht kennen. Also versuchen sie, gleichzeitig zu reden und zu schweigen. Dass dabei am Schluss inkohärente Geschichten entstehen, ist völlig logisch.»
Für die Asylsuchenden steht enorm viel auf dem Spiel. Ist die eigene Geschichte «gut» genug? Entspricht sie den Kriterien des Schweizer Gesetzes? Was für Kriterien sind das überhaupt? Nicht alle gehen deshalb das Risiko ein, wirklich die eigenen Erlebnisse zu erzählen. Warum auch? Es gibt Geschichten, von denen man weiss, dass sie funktioniert haben. Diese werden manchmal sogar gehandelt. Ist es da nicht schlauer, auf Nummer sicher zu gehen? «Ich kenne einen Richter, der sich mal in einer juristischen Zeitschrift zu einer für ihn glaubwürdigen Geschichte geäussert hat», sagt Progin-Theuerkauf. «Von dem Moment an hat er genau diese Geschichte immer wieder gehört.»
Die beiden Expertinnen bringen mehr Beispielen, als hier Platz haben. Alle illustrieren sie, wie schwierig die Kommunikation ist. «Was es bräuchte, wäre mehr Zeit. Man kann Asylverfahren nicht endlos beschleunigen, auch wenn das politisch vielleicht Punkte bringt. Man muss sich die Zeit nehmen können, um Vertrauen zu schaffen. Es braucht Fingerspitzengefühl und gut ausgebildete Übersetzer_innen. Die Befragenden müssen zudem über hervorragende Kenntnisse der Herkunftsländer verfügen. Es braucht einfach sehr viel Hintergrundwissen, um die Geschichten einordnen zu können. Was zudem helfen würde, wäre die Interviews aufzuzeichnen. Manchmal heisst es im Nachhinein, etwas sei falsch übersetzt oder so nie gesagt worden. Da wäre es einfacher, wenn man sich die entsprechende Stelle noch einmal anhören könnte.»
Gibt es bei all diesen Schwierigkeiten denn auch Dinge, die das Verständnis erleichtern? «Kinder!», lacht Samah Posse und Sarah Progin-Theuerkauf pflichtet ihr bei. «Kinder erzählen meist ungezwungen, sind noch viel weniger von kulturellen Erzählmethoden und Tabus geprägt und ganz allgemein ziemlich offene Bücher.»
Unsere Expertin Sarah Progin-Theuerkauf ist Professorin für Europarecht und Migrationsrecht und beschäftigt sich insbesondere mit Asylrecht, Menschenrechten und Personenfreizügigkeit.
Unsere Expertin Samah Posse ist Lektorin am Institut für Europarecht und Koordinatorin des CAS Migrationsrecht und des CAS Asylverfahren. Zuvor war sie Gerichtsschreiberin am Bundesverwaltungsgericht. Sie forscht zu Asyl-, Ausländer- und Datenschutzrecht.