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Ein Sieg für die Wissenschaft

Der Historiker Jonathan Pärli wollte Akten zur «Affäre Musey» untersuchen – und erhielt sie nicht. Er zog bis vors Bundesgericht. Und gewann.

Jonathan Pärli, Ihnen wurde Recht gegeben in der Frage nach Akteneinsicht im Bundesarchiv zum Fall Mathieu Musey. Wieso interessieren Sie sich für Musey?

In meiner Dissertation beschäftigte ich mich mit der Geschichte des Aktivismus in der Asylfrage zwischen 1973 und den späten 1990ern. Da tauchte der Name Mathieu Musey immer wieder auf – und zwar zunächst in Form eines Schlagworts, etwa in der Presse oder der Asylbewegung. «Wie die Affäre Musey gezeigt hat…», «Wie wir vom Fall Musey wissen…». Musey war damals also schweizweit bekannt – mir aber sagte er nichts. Wenn ich meine Quellen verstehen wollte, musste ich wissen, wer er war und wie sein Name zur Causa wurde.

Und wer war Mathieu Musey?

Klar ist: Er kam 1940 in Belgisch-Kongo zur Welt und lebte ab 1963 in Italien, wo er in Padua und Rom Philosophie und Theologie studierte. 1970 kam er in die Schweiz, doktorierte zunächst in Freiburg über Claude Lévy-Strauss und versuchte anschliessend, sich in Bern zu habilitieren. In dieser Zeit gründete er mit einer Frau aus seiner Heimat eine Familie. 1985 beantragte  er politisches Asyl, was vom «Blick» reisserisch thematisiert wurde. Von da an ging es hoch zu und her. Zur cause célèbre geworden, tauchte die Familie Musey 1987 für fast ein Jahr auf einem abgelegenen Hof im Jura unter, bis sie in einer «filmreifen  Kommandoaktion» («Blick») in die Mobutu-Diktatur ausgeschafft wurde. Mathieu Musey ist letztes Jahr in Kinshasa gestorben. Weil ich zuvor noch mit ihm in Kontakt stand, weiss ich: Er wollte seine Geschichte aufgearbeitet sehen.

Was machte Musey denn für Ihre Dissertation so spannend?

Dass er ein ungewöhnlicher Asylsuchender war. Einer, der öffentlich wortgewaltig auftreten konnte. Im Versteck schrieb er ein Manuskript mit dem Titel «L’asile en Suisse: nègres s’abstenir, ou, la démocratie à l’épreuve». Meist haben Asylsuchende keine Stimme. Musey schon. Nur schon das macht ihn interessant.

Zudem ging es damals schnell um viel mehr als «nur» das Schicksal einer afrikanischen Familie. Musey war – etwas schematisch formuliert – für die offizielle Schweiz sowie bürgerliche und rechte Kreise ein besonders dreister Asylbetrüger. Für die Asylbewegung, die «andere Schweiz», war er hingegen ein Paradebeispiel dafür, dass dem Staat alle Mittel recht waren, um sich Flüchtlinge aus dem Globalen Süden vom Hals zu halten.

Musey wollte also, dass Sie seine Geschichte aufarbeiten. Warum verweigerte Ihnen das Staatssekretariat für Migration (SEM) dennoch den Zugang zu den Akten?

Das müssen Sie das SEM fragen. Grund­sätzlich sind Personen- oder Fallakten wie jene Museys 50 Jahre lang geschützt. Geschützt, wohlgemerkt, nicht gesperrt! Man kann trotzdem Einsicht erhalten – etwa, wenn man zeigen kann, dass die betroffenen Personen einverstanden sind oder dass es sich um wichtige – sprich: damals bekannte – Figuren der Zeitgeschichte handelt.

Das haben Sie gemacht.

Der Ansicht war ich auch. Ich wusste, dass ich mein Begehren gut begründen musste. Darum hatte ich schnell nach Herrn Musey zu suchen begonnen. Aber das SEM akzeptierte schliesslich weder meine detaillierten Ausführungen zum historischen Gewicht des Falls, noch Museys per DHL für viel Geld um die halbe Welt transportierte Einwilligungserklärung. Gemäss SEM hätte ich zusätzlich eine Kopie eines gültigen Ausweises von Musey sowie Einverständniserklärungen und Passkopien von seiner Frau und seinen Kindern vorlegen müssen. Dabei wusste ich, dass Musey gar keinen gültigen Pass hatte! Und als alter, kranker Mann konnte er sich so einen auch nicht einfach so besorgen – schon gar nicht im damals sehr unruhigen Kinshasa. Ich sage nur: für DHL ist der Kongo ein «Hochrisikoland». Nur schon der Kontakt mit Musey selbst war technisch, sprachlich und logistisch nicht immer einfach. Die Suche nach seinen Verwandten und deren Dokumenten wäre nochmals sehr aufwändig geworden. Sie war aus meiner Sicht aber auch unnötig: Ich hatte von Anfang an angeboten, Frau und Kinder in meiner Diss nicht zu erwähnen.

Auch dass Musey eine bekannte Figur gewesen war, überzeugte das SEM nicht?

Nein. In der Absage, die ich im November 2018 erhielt, schrieb es unter anderem: «Die Dokumente im Dossier N-126971 betreffen nicht derart bekannte Personen, als dass das Interesse der Aufarbeitung der Geschichte dem Persönlichkeitsschutz der betroffenen Personen vorgehen würde». Dabei hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die Affäre Musey derart hohe Wellen geschlagen hatte, dass im März 1988 fünfzig Nationalrätinnen und Nationalräte eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) forderten. Spätestens in diesem Moment wurde mir klar, dass es hier nicht nur um meine Promotion, sondern auch um grundsätzliche Fragen des Archiv­zugangs und der Forschungsfreiheit ging. So etwas darf man nicht durchgehenlassen.

Was ging da in Ihnen vor? Haben Sie den Kugelschreiber an die Wand geknallt? Sagten Sie sich «denen zeig ich’s»?

Die Verweigerung und wie sie begründet wurde, war wie eine Tür mit einem eilig hingepinselten «öffnen verboten». Natürlich sollen Asylakten nicht sofort für jedermann einsehbar sein. Da gibt es berechtigte Datenschutzinteressen. Der konkrete Fall aber schien mir historisch ironisch. Gemäss Argumentation des SEM konnte der Familie Musey im Hier und Jetzt Verfolgung drohen, wenn Informationen aus dem über dreissig Jahre zurückliegenden und behördlicherseits in Bausch und Bogen verworfenen Asylgesuch bekannt wurden. Ich verlangte also eine Verfügung, die ich beim Bundesverwaltungsgericht (BVerG) anfechten konnte.

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Lassen Sie mich hier eine kurze Klammer auftun: Irgendwann merkten Sie, dass Sie den Fall Musey von Ihrer Dissertation entkoppeln mussten. Sonst hätten Sie diese bis heute nicht einreichen können.

Anfangs hatte ich noch die Hoffnung, die Akten rasch erhalten und in die Diss integrieren zu können. Aber schon beim SEM ging es nicht sehr schnell vorwärts und das BVerG hat sich dann gar geschlagene zwei Jahre Zeit genommen, um ein Urteil zu fällen. In meinem Manuskript habe ich deshalb notgedrungen nur mit jenen Unterlagen gearbeitet, die ich im Archiv der Bewegung sowie in Mediendatenbanken et cetera gefunden habe. Jetzt hoffe ich, dass ich die Dissertation möglichst bald mit einer Publikation zur Affäre Musey ergänzen kann, die sich wirklich auf alle Quellen stützen kann.

Damit zurück ans Bundesverwaltungsgericht. Auch dieses entschied gegen Sie. Weshalb?

Das ist im Einzelnen vielschichtig. Im Wesentlichen hat das BVerG aber die Argumentation des SEM gestützt, dass ich die Akten bis Ablauf der Schutzfrist nicht einsehen darf, weil ich nicht nachgewiesen habe, dass sämtliche erwähnten Personen mit der Konsultation einverstanden sind.

Erfreulich am BVerG-Entscheid war nur, dass das Gericht kurzen Prozess machte, als das SEM plötzlich auch noch «überwiegende öffentliche Interessen» – sprich: Staatssicherheit – aus dem Hut zaubern wollte. Das war einerseits argumentativ lächerlich vonseiten des SEM; vor allem aber war es zutiefst unredlich. Erst forderte man mich auf, alle möglichen zusätzlichen, teuren und zeitlich aufwändigen Nachweise bezüglich Einwilligung der Betroffenen zu erbringen – womit man suggerierte, dass ich Einsicht erhielte, wenn ich all das lieferte – und dann spielte man vor Gericht plötzlich die Karte «öffentliche Interessen» aus, die jede Einwilligung von privater Seite sowieso übertrumpft hätte. Dass eine öffentliche Institution den Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben derart mit den Füssen trat, erschien mir als äusserst stossend.

Auch deshalb zogen Sie den Entscheid weiter vors Bundesgericht.

Ja. Allerdings ist das etwas, das man als Historikerin oder Historiker nicht einfach mal rasch macht. Offenbar bin ich der erste Unihistoriker, der bis ans Bundesgericht gelangt ist. Das Zeit- und Kostenrisiko ist erheblich, der Ausgang höchst ungewiss! Bei all dem profitierte ich sehr davon, dass mein Vater Rechtsprofessor und mit dem Thema Datenschutz besonders vertraut ist. Er hat allerdings kein Anwaltspatent. Und als ich bei einer renommierten Zürcher Kanzlei anfragte, hiess es dort «interessant, aber um prozessfähig zu sein, brauchen Sie eine Kriegskasse von 20’000 Franken». Das wäre mein halber Jahreslohn gewesen. Ich konnte den Weg ans Bundesgericht nur gehen, weil es in meinem Umfeld Leute gab, die mich unterstützten. Zudem gab es einen Kreis von Leuten, die Mathieu Musey persönlich gekannt hatten und die wollten, dass ich der Sache auf den Grund zu gehen versuchte. Ich erhielt so gewisse finanzielle Garantien, damit ich den Rechtsweg überhaupt wagen konnte.

Die Unterstützung von verschiedenen Seiten – so etwa von Ihrem Doktorvater Damir Skenderovic – war aber nicht nur finanzieller Natur.

Damir Skenderovic hat ein Referenzschreiben zuhanden des SEM verfasst, in dem er darlegte, wie wichtig es ist, dass die Akten erforscht werden können. Ausserdem liess er mich machen. Er hätte auch sagen können, ich solle mich nicht in einem Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang verlieren, der mich nur aufreibt. Ihm war zum Glück sofort klar, dass der Streit um den Aktenzugang nicht getrennt von der Geschichte Museys zu betrachten war. Auch wenn ich vor Bundesgericht verloren hätte, wäre es wichtig gewesen, darüber zu schreiben, warum es über dreissig Jahre nach den Ereignissen noch immer so schwierig war, die staatlichen Akten dazu erforschen zu können.

Im Verfahren ging es um Fragen, die auch für die zeitgeschichtliche Forschung an sich bedeutsam sind. Deshalb war auch Sacha Zala, der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG), ein wichtiger Ansprechpartner.

Dann, im März 2022, kam endlich die erlösende Botschaft: Das Bundesgericht gab Ihnen Recht. Wie haben Sie die Zeit nach dem Urteil erlebt? Es kam vieles zusammen. Ebenfalls im März wurde ich auch zum zweiten Mal Vater. Und im April oder Mai teilte mir Sacha Zala mit, dass die SGG einen Preis für Forschungsfreiheit schaffen wird und ich erster Preisträger sein soll. Mir war allerdings klar: Dabei geht es nicht primär um mich, sondern darum, Aufmerksamkeit für die Anliegen der Forschung zu schaffen – was ja auch funktioniert hat. Es gab einen ausführlichen Artikel in der NZZ und später weitere Berichte in anderen Medien. Die vielen positiven Reaktionen aus meinem Umfeld und unter Historikerinnen und Historikern haben mich natürlich sehr gefreut. Diese Resonanz erstaunt nicht, wenn man weiss, wie oft historische Forschung behindert wird; sei’s von Privaten oder von Behörden. Aber gerade deswegen kann die Moral meiner Geschichte nicht sein, dass man halt einfach bis vor Bundesgericht gehen muss. Im Gegenteil: Mein Fall zeigt, dass dies normalerweise fast unmöglich ist. Es sind die archivrechtlichen Spielregeln, die – besonders im Streitfall – viel forschungsfreundlicher gestaltet werden müssen.

Und wie sind da die Perspektiven? Wird es aufgrund Ihres Erfolgs künftig leichter werden, Akten einzusehen?

Das wird sich ehrlich gesagt zeigen müssen. Aber es gibt Gründe zu hoffen, dass das Urteil eine gewisse Signalwirkung erhält. Das Bundesgericht hat das Urteil zur Publikation vorgesehen – was es nur bei Leit­entscheiden tut. So oder so wird man sich künftig schon beim Einsichtsgesuch auf das Urteil berufen können. Auch für die derzeit im Parlament hängige Frage, ob das Archivgesetz von 1999 revidiert werden soll, scheint mir der Entscheid und das ganze langjährige Verfahren wichtige Lehren zu enthalten.

Ich vermute, Sie arbeiten jetzt an Ihrer Habilitation, die sich um den Fall Musey dreht?

Nein. Zum einen habe ich die Akten noch immer nicht gesehen. Das Verfahren läuft noch. Das Urteil des Bundesgerichts ist ein grosser Erfolg, aber formell hat Lausanne nicht auf Einsicht entschieden, sondern den Entscheid des BVerG aufgehoben. Dieses muss nun also «im Licht der Erwägungen» des höchsten Gerichts nochmals neu beurteilen, ob ich Einsicht erhalte oder nicht.

Zum andern verlangen die Konventionen in unserem Fach für die Habilitation nach einem anderen Thema, einer anderen Epoche und einem anderen geografischen Raum, als jenen, die man in der Dissertation bearbeitet hat. Und ich freue mich auch darauf, mein nächstes grosses Forschungsprojekt einem neuen Thema zu widmen. Das heisst allerdings nicht, dass ich mit der Asylgeschichte und der Figur Musey bereits abgeschlossen habe. Bekomme ich Zugang zu den Akten, gedenke ich damit etwas zu machen, das sich an die interessierte Öffentlichkeit richtet. Ob das in Form eines Podcasts oder eines Buches bei einem guten Publikumsverlag sein wird, ist aber noch offen. Allerdings haben Sie mit dem Stichwort Habilitation auch ein Problem benannt…

Und zwar welches?

Die ganze Aufmerksamkeit, der SGG-Preis, der Erfolg für die Forschungsfreiheit: Das ist alles schön und gut. Aber was im akademischen Betrieb wirklich zählt, ist im Rahmen der Habilitation schnellstmöglich ein zweites Buch zu einem anderen Thema zu publizieren. Dafür sollte ich alles andere hintanstellen. Anderes wäre angesichts der überaus spärlichen unbefristeten Stellen und der herrschenden Logik des Wissenschaftsbetriebs irrational. Die Arbeitsbedingungen im akademischen Mittelbau haben es inzwischen ja bis nach Bundesbern geschafft.

Die Arbeitssituationen im Mittelbau sind ein internationales Problem. Im deutschsprachigen Raum wurden unter dem Hashtag  #IchbinHanna Themen wie Hierarchien, Abhängigkeiten, Machtmissbrauch oder zu wenige unbefristete Stellen diskutiert. In England, den USA und Frankreich und wohl auch darüber hinaus gibt es ähnliche Debatten.

Umso mehr freue ich mich, dass der Nationalrat die Petition Academia überwiesen hat und der Bundesrat nun einen Bericht über die Arbeitsbedingungen im Mittelbau erstellen und prüfen muss, ob eine signifikante Anzahl permanenter Positionen für Postdoc-Forschende geschaffen werden kann. Ich hoffe wirklich, dass es in diesem Bereich nun in der Schweiz und anderswo endlich vorwärtsgeht.

Und in ein paar Jahren gleisen Sie dann auf einer unbefristeten Stelle ein grosses Projekt zum Fall Musey auf?

Einverstanden! Aber: Ich glaube, da sind Sie optimistischer als ich, was das Tempo der Politik angeht.

Unser Experte Jonathan Pärli hat an der Universität Freiburg kürzlich seine Disser­­­tation verteidigt. Seit August 2021 ist er Bereichs­assistent Geschichte der Moderne am Department Geschichte der Universität Basel. Seine Forschungsinteressen liegen in der Geschichte sozialer Bewegungen, der Migrations- und Asylgeschichte, der Bildungsgeschichte so-  wie in der Geschichte und Theorie der Geschichtsschreibung.
jonathan.paerli@unifr.ch