Dossier

Wieso Ameisen anders altern

Dass eine erhöhte Fruchtbarkeit mit einer geringeren Lebenserwartung einhergeht, gilt für fast alle Lebewesen. Aber nicht für Ameisenköniginnen. Sie legen Unmengen von Eiern und werden trotzdem bis zu 30 Jahre alt. Wie machen sie das?

Das Leben hält sich nicht an starre Vorgaben. Deshalb gibt es in der Biologie auch fast keine Regel ohne Ausnahme. Das gilt auch für den Grundsatz, dass Lebewesen in Sachen Fortpflanzung und Langlebigkeit einen Kompromiss finden müssen. Wie zahlreiche Befunde bei Tieren – einschliesslich uns Menschen – belegen, geht eine erhöhte Fruchtbarkeit mit einer geringeren Lebenserwartung einher. In anderen Worten: Wer seine Energie in die Fortpflanzung steckt, stirbt in aller Regel früher. «Doch für Ameisenköniginnen stimmt das nicht», sagt Matteo Negroni. Sie legen Unmengen von Eiern und können dabei bis zu 30 Jahre alt werden, während ihre unfruchtbaren Töchter als Arbeiterinnen in der Kolonie im Schnitt schon nach wenigen Monaten sterben.

Im Interesse des Super-Organismus

Negroni ist seit früher Kindheit von Insekten angezogen und hat schon in der Primarschule angefangen, sie zu sammeln. Auch jetzt noch, mehr als zwanzig Jahre später, tritt seine Faszination für die Krabbelwesen im Gespräch deutlich zutage. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Departement für Biologie der Universität Freiburg verfolgt Negroni dieselbe Fragestellung, mit der er sich schon in seinem Doktorat an der Johannes Gutenberg Universität Mainz in Deutschland auseinandergesetzt hat: An was liegt es, dass die Ameisenköniginnen so lange leben? «Das hat unter anderem auch mit der Arbeitsteilung zu tun», erklärt Negroni und zeigt auf seinen Unterarm. «Mein Körper ist aus unterschiedlichen Zellen zusammengesetzt, die zusammen eine Einheit bilden.» Ähnlich verhalte es sich bei einer Ameisenkolonie. Sie besteht zwar aus verschiedenen Individuen, die jedoch voneinander abhängen und sich aufgrund ihrer sozialen Organisation zu einem sogenannten Super-Organismus zusammenschliessen. Wenn man die Ameisenkolonie als Einheit auffasst, liegt es im Interesse des ganzen Super-Organismus, der Königin ausreichende Ressourcen für das Eierlegen bereitzustellen und sie gut zu beschützen.

In Mainz hat Negroni mit einer Ameisenart gearbeitet, bei der – in Abwesenheit der Königin – auch die Arbeiterinnen Eier legen können. Doch als Negroni die Königinnen aus seinen Versuchskolonien entfernte, wurden die dominantesten Arbeiterinnen nicht nur fruchtbar, sondern prompt verlängerte sich dadurch auch ihre Lebensdauer. Wie sich in weiteren Versuchen herausstellte, aktivierten die fruchtbaren Arbeiterinnen mit dem Eierlegen auch gleich die Gene für ihre körpereigenen Reparaturmechanismen. Das Ausbilden der Eierstöcke steht bei den Ameisen also direkt mit einer grösseren Widerstandsfähigkeit gegen das Altern in Zusammenhang.

Analyse von sozialen Flüssigkeiten

Im Mai 2021 ist Negroni als Postdoktorand an die Universität Freiburg gestossen, zur Forschungsgruppe von Prof. Adria LeBoeuf, die sich der Analyse von sozialen Flüssigkeiten widmet. So nennen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Gemisch an Substanzen, das viele kolonienbildende Insekten, wie etwa Ameisen oder Bienen, untereinander austauschen. Im Gegensatz zu den Bienen, wo es auch Arten gibt, deren Vertreterinnen als Einzelgängerinnen ihr Leben fristen, leben alle Ameisenarten in Gruppen. «Alle Ameisen sind sozial», sagt Negroni. Ungefähr die Hälfte der Ameisenarten zeigt ein Verhalten, bei dem ein Individuum ein anderes füttert, indem es einen Teil des Mageninhalts erbricht – und von Mund-zu-Mund an seinen Artgenossen weitergibt.

 © studio-ko.ch

In den Anzuchträumen von LeBoeufs Forschungsteam liegen durchsichtige Plastikschachteln auf einer Reihe von Regalen. In jeder Schachtel krabbeln Ameisen einer an­deren Art herum. Um festzustellen, wer gerade wem was weitergibt, greifen die Forschenden auf unterschiedliche Methoden zurück. So mischen sie zum Beispiel einen fluoreszierenden Farbstoff in die Nahrung, die sie einer Handvoll Ameisen der Kolonie, die sie gerade untersuchen, präsentieren. Mit Videokameras können sie dann verfolgen, wie aufgrund der Mund-zu-Mund-Fütterung immer mehr Ameisen zu leuchten beginnen.

In anderen Versuchen hatten es die Forschenden um Adria LeBoeuf auf die molekulare Zusammensetzung der sozialen Flüssigkeit abgesehen. Zu Beginn, als LeBoeuf noch als Postdoktorandin in Lausanne war, musste sie, um an Proben des Erbrochenen der Ameisen zu kommen, stundenlang dem emsigen Wuseln zuschauen. Und jeweils rasch eine Glaspipette zwischen die Mundwerkzeuge der zwei bis vier Ameisen halten, die gerade begonnen hatten, sich zu küssen. «In der Regel wurde dadurch die Übertragung gestoppt, aber in seltenen Fällen war es möglich, bis zu Sub-Mikroliter-Volumina der sozialen Flüssigkeit zu gewinnen», hielten LeBoeuf und ihre Kolleginnen und Kollegen 2016 beim Beschreiben der Methode im Fachbeitrag fest. «Für die natürliche Probeentnahme braucht es viel Geduld», sagt Negroni. «Heute verwenden wir eine andere Methode.» Denn in Lausanne hat LeBoeuf gezeigt, dass sich die soziale Flüssigkeit auch beim sanften Auspressen von einzelnen Ameisen einsammeln lässt. In beiden Fällen kommt der Inhalt eines speziellen Abteils des Verdauungstrakts der Ameisen hoch, ihres sozialen Magens. «Lange ging man davon aus, dass es sich dabei einfach um aufgenommene Nahrung, also um exogene Substanzen, handelt», sagt Negroni. Doch dann wiesen die Forschenden um LeBoeuf nach, dass der soziale Magen auch endogene Moleküle enthält, die die Ameisen eigens hinzufügen.

Botenstoffe im Erbrochenen

Im Erbrochenen der Ameisen fanden die Forschenden verschiedene Botenstoffe, etwa RNA-Moleküle und Hormone, aber auch eine Vielzahl unterschiedlicher Proteine, für die sich Negroni nun besonders interessiert. Er führt als Beispiel spezielle Vorratsproteine auf, die von den Arbeiterinnen hergestellt werden. Das kostet Stoffwechsel-Energie und ist somit «metabolische Drecksarbeit», wie Negroni sagt. Konsumiert werden die Proteine von den Larven, die aus den Eiern schlüpfen und sich zu neuen Arbeiterinnen entwickeln. Aber natürlich profitiert auch die Königin von der ausgelagerten metabolischen Arbeit: Sie kann umso mehr Eier legen, je mehr energiereiche Proteine sie in ihrer Nahrung vorfindet.

Bei den Rossameisen der Art Camponotus floridanus, auf die Negroni in Freiburg sein Hauptaugenmerk richtet, gibt es zwei verschiedene Gruppen – oder Kasten – von Arbeiterinnen. Die Futterjägerinnen sind ausserhalb des Ameisenbaus tätig. Sie schlagen sich dort den Bauch voll und geben dann den Inhalt ihres sozialen Magens an die Pflegerinnen weiter, die die anfallenden Arbeiten im Inneren des Ameisenbaus erledigen. Wenn die Pflegerinnen dann ihrerseits ihren eigenen sozialen Magen leeren, um mit dem Erbrochenen die Königin zu füttern, ist die soziale Flüssigkeit nicht nur mit Vorratsproteinen angereichert, sondern auch mit Proteinen, die als Antioxidantien wirken und sogenannte Sauerstoffradikale abfangen und chemisch unschädlich machen können.

Auf solche Antioxidantien greift auch die Kosmetikindustrie zurück. Sie verspricht damit, einer zahlungskräftigen Kundschaft etwa die Haut straffen und Falten entfernen zu können. Doch bei der Frage, ob sich aus seinen Untersuchungen zur Langlebigkeit von Ameisenköniginnen auch Erkenntnisse für die Verlängerung der Lebensspanne bei uns Menschen ableiten lassen, winkt Negroni ab. Auch wenn sich einige Mechanismen auf molekularer Ebene ähneln, gibt es einen fundamentalen Unterschied: Die soziale Lebensweise der Ameisen hat zur Folge, dass sich die natürliche Selektion nicht nur auf die Individuen auswirkt, sondern auch auf die übergeordnete Einheit, den Super-Organismus. «Dadurch verändert sich der Selektionsdruck», sagt Negroni. Die bittere Wahrheit lautet also, dass ein fruchtbares und langes Leben vorerst nur den Ameisenköniginnen vorbehalten bleibt.

Unser Experte Matteo Negroni ist Postdoc am Laboratory of Social Fluids des Departements für Biologie.
matteo.negroni@unifr.ch