Dossier

Eine von Menschen verursachte Tragödie

Seit Beginn der so genannten Opioid-Krise sind weltweit schätzungsweise eine Million Menschen an einer Opioid-Überdosis gestorben. Wie ist es dazu gekommen?

Die Verwendung von Opioiden als Teil des pharmakologischen Arsenals ist so alt wie die Disziplin der Pharmakologie und die Anfänge der pharmazeutischen Wissenschaften und der Pharmaindustrie selbst. Die alten Griechen, Inder, Chinesen, Ägypter, Römer, Araber, die Menschen im Mittelalter und die Europäer von der Renaissance bis heute waren alle mit Opium vertraut – einerseits als starkes Schmerzmittel, andererseits aber auch als Suchtmittel. Eine grosse Opioid-Epidemie gab es bereits in den 1880er Jahren, als Morphium weltweit in einem völlig unregulierten Umfeld verkauft wurde. Wenig später kam es mit der «Heroin-Epidemie» zu einer neuen Welle. Die Hoffnung von Bayer AG war, dass Heroin eine nicht süchtig machende Version von Codein sein könnte, eine Art Wundermittel, das wirksam gegen Husten wirkt. Doch schon bald bemerkten Ärzt_innen und Apotheker_innen die Nebenwirkungen – die Patient_innen benötigten immer höhere Dosen und wurden abhängig. Heroin entwickelte sich zu einer Freizeitdroge. Bayer stellte 1913 die Produktion von Heroin ein, aber Heroin und die Heroinabhängigkeit sind bis heute Teil unserer Gesellschaft.

«Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce» Karl Marx

Es scheint, dass in den 1980er Jahren die Lehren aus den früheren Zeiten vergessen, oder, was wahrscheinlicher ist, absichtlich und in krimineller Weise ignoriert wurden. In den 1950er, 60er und 70er Jahren verzichteten die Ärzt_innen im Allgemeinen auf die Verschreibung von Opioiden – ausser beispielsweise in Fällen zur Linderung der Schmerzen von unheilbar kranken Krebspatient_innen. Doch dann begann sich die Haltung der Ärzteschaft und der medizinischen Berufsverbände, die sie beraten langsam zu ändern.

Ein entscheidender Schritt in die falsche Richtung präsentierte sich in Form eines kurzen Briefes, der 1980 in der angesehenen Zeitschrift «New England Journal of Medicine» veröffentlicht wurde. Darin kam man – in drastischem Gegensatz zu den bekannten Fakten – zum Schluss, dass «trotz des weit verbreiteten Einsatzes von Betäubungsmitteln in Krankenhäusern, die Entwicklung einer Abhängigkeit bei medizinischen Patienten ohne Suchtanamnese selten ist.» Dieser Artikel in fünf Sätzen wurde später zum Kernstück einer aggressiven Marketingkampagne von Purdue Pharma, dem Hersteller von OxyContin – einer langsam freisetzenden Form des starken Morphinanalogs Oxycodon – und hyperaggressiven Akteur auf dem schnell wachsenden neuen medizinischen Opioidmarkt. OxyContin wurde 1985 in den USA als bahnbrechendes Palliativmittel zugelassen – vermarktet vor allem wegen seiner angeblich «nicht süchtig machenden» Eigenschaften für chronische Schmerzen. Im Rahmen einer radikalen Marketingstrategie vermarktete das Unternehmen das Medikament aggressiv bei Ärzten, wobei es sich auf falsch dargestellte «wissenschaftliche Erkenntnisse» stützte (z. B. auf den bereits erwähnten Artikel), aber auch auf «Goodies» wie kostenlose Reisen und andere Schmiergeldsysteme für Ärzte. Da Oxycodon aus OxyContin nur langsam absorbiert werde, erreiche es keine hohen «Spitzen»-Blutspiegel, und daher wirke es nur als Schmerzmittel und erzeuge nicht die übliche euphorisierende Wirkung des «Opioid-High» – so hiess es in der überzeugend klingenden – aber völlig falschen – Marketingkampagne.

Des Weiteren führte Purdue Pharma überdies ein sogenanntes «Patienten-Starter-Coupon-Programm» für OxyContin ein, mit welchem Patient_innen ein kostenloses, zeitlich begrenztes Rezept für einen Vorrat von 7 bis 30 Tagen erhielten – bis 2001 wurden etwa 34’000 solcher Gutscheine eingelöst. Auch von Seiten der Krankenhausverwaltungen wurde Druck ausgeübt: Sie machten die Ärzt_innen zunehmend dafür verantwortlich, dass jede_r einzelne Patient_ in vollumfänglich zufrieden ist. War dies nicht der Fall, wurden beispielsweise Gehalts- oder Bonuszahlungen zurückgehalten. Viele Ärzt_innen fühlten sich daher unter Druck gesetzt, Opioide zu verschreiben, wenn Patient_innen danach verlangten.

Die aggressivste Werbung, die Purdue Pharma gemacht hat, war jene für die Verwendung von Opioiden auf dem schnell wachsenden Markt für «nicht-maligne Schmerzen». Im Klartext: Teenager-Mädchen mit einer Weisheitszahn-Extraktion oder Snowboarder mit gebrochenem Bein. Dies führte zu einem 10-fachen Anstieg der OxyContin-Verschreibungen für diese Art von Schmerzen, von etwa 670’000 im Jahr 1997 auf rund 6,2 Millionen im Jahr 2002. Die Schätzungen des Gewinns von Purdue Pharama und damit der Familie Sackler schwanken zwischen 4 und 12 Milliarden Dollar.

Aus der Fotoserie USA Opioid crisis © Jérôme Sessini | Magnum Photos. März 2018, USA, Chillicothe, Ohio. Jessica, 27, ist schwanger und hat bereits zwei Kinder. Vor acht Jahren erhielt sie wegen ihrer Skoliose opioidhaltige Schmerzmittel und wurde süchtig. Danach stieg sie auf Heroin um.

Vom Schmerzmittel zur Droge

Was ist das typische Schicksal einer Person, die von Opioiden abhängig wird? In vielen Fällen beginnt es mit einer ärztlichen Verschreibung eines Opioids – oft für eine medizinische Routinesituation. Bei gewissen Menschen führt bereits eine mehrtägige oder wochenlange kontinuierliche Opioide-Einnahme zu einer erheblichen Abhängigkeit. Es gibt viele biologische und soziologische Faktoren, die dafür prädisponieren.

Die süchtige gewordene Person geht also wieder zum Arzt und verlangt eine Verlängerung des Rezepts. In den 1990er und 2000er Jahren wurde dieser Vorgang recht locker kontrolliert. Als später einige Kontrollen eingeführt wurden, musste der oder die Süchtige einen «freundlichen» Arzt finden, der das Rezept dennoch ausstellen würde. Wenn keine Rezepte mehr zu bekommen waren, versuchten die Süchtigen, OxyContin auf der Strasse zu kaufen – für deutlich höhere Kosten. Oder anders gesagt: Wenn die Verfügbarkeit von Original-OxyContin in «pharmazeutischer Qualität» abnimmt, werden andere Möglichkeiten gesucht. Dazu gehören andere Opioide wie Morphin und Heroin, die ebenfalls auf der Strasse erhältlich sind, aber da sie in illegalen Chemiefabriken hergestellt werden, sind die Reinheit und die Wirkung dieser Drogen sehr unterschiedlich, was das Risiko einer Überdosierung erheblich steigert. Eine andere Möglichkeit ist der Umstieg auf Fentanyl. Dieses synthetische Opioid, das etwa 100-mal stärker ist als Morphin, wurde ursprünglich für die Behandlung von Krebsschmerzen entwickelt und sollte über Pflaster auf die Haut der Erkrankten aufgetragen werden. Doch angesichts der aktuellen Opioid-Situation ist es oft die letzte Station auf dem verzweifelten Weg eines oder einer Opioid-Abhängigen. Fentanyl hat einen tieferen «Strassenpreis» als OxyContin. Da Fentanyl so potent ist und seine Reinheit und damit seine Wirksamkeit so variabel sind, ist das Risiko einer Opioid-Überdosis bei Fentayl-Süchtigen noch höher als bei Heroin- oder OxyContin-Konsument_innen.

Heute werden durch Fentanyl und ähnliche synthetische Substanzen viermal mehr Leute getötet als durch verschreibungspflichtige Opioide, wobei die Anzahl an Männern, die Drogen konsumieren und daran sterben deutlich höher ist als der Anteil an Frauen. Tatsächlich hat die US-Drogenbehörde im Jahr 2022 bereits so viel Fentanyl an der Grenze beschlagnahmt, dass es für den Tod der gesamten US-Bevölkerung ausreichen würde – in den ersten zwei Monaten des Jahres 2023 wurde ebendiese Menge bereits überschritten!

«Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten» Albert Einstein

Der Wechsel von pharmazeutisch hergestellten Opioiden zu illegal hergestellten Opioiden spiegelt sich in den sich ändernden Todestrends wider. Vor 2015 wurden die meisten Opioid bedingten Todesfälle in den USA durch verschreibungspflichtige Opioide verursacht, und es gab kaum Todesfälle durch Fentanyl und ähnliche synthetische Substanzen. Heute werden durch Fentanyl und ähnliche synthetische Substanzen viermal mehr Leute getötet als durch verschreibungspflichtige Opioide. Im Jahr 2020 wurden in den USA etwa 75 Prozent aller Opioid-Todesfälle durch Fentanyl und ähnliche synthetische, illegale Substanzen verursacht.

Im Wesentlichen beruht Sucht darauf, dass süchtig machende Substanzen – in diesem Fall Opioide – bestimmte neuronale Schaltkreise im Gehirn «kapern», die normalerweise physiologische «Belohnungsfunktionen» erfüllen. Diese Belohnungsfunktionen funktionieren grösstenteils durch die Stimulierung eines Neurotransmitters namens Dopamin. Opioide steigern die Produktion dieser Substanz und erzeugen ein «Belohnungs»-Gefühl (ohne physiologischen Nutzen). Mit der Zeit nimmt die Wirkung des Opioids ab (aufgrund eines pharmakologischen Prozesses, der als Desensibilisierung oder Toleranz bezeichnet wird), was die süchtige Person dazu veranlasst, immer höhere Dosen oder stärkere Formen des Opioids zu nehmen.

Bei wiederholter Einwirkung von Opioiden passen sich die Neuronen an und verändern ihre molekulare Zusammensetzung so, dass sie in Abwesenheit des Opioids nicht mehr richtig funktionieren und verschiedene unangenehme physiologische Reaktionen hervorrufen. Diese werden als Entzugssyndrom bezeichnet und können sich auf vielfältige Weise äussern, z. B. durch Angstzustände, Zittern, Unruhe, Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit und Erbrechen.

Die süchtige Person wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um diese Situation zu vermeiden und wird weiterhin die wiederholte Verabreichung der Droge anstreben.

Strafe erhalten – so what?

Nach einer immer grösser werdenden öffentlichen Empörung wurden schliesslich wesentliche Klagen angestrengt. Purdue stimmte der Verhängung der höchsten Strafen, die jemals gegen einen Pharmahersteller verhängt wurden, zu – einschliesslich einer Geldstrafe von 6 Mrd. USD. Ausserdem hat ein Konkursgericht die Auflösung des Unternehmens beschlossen. Dennoch leugnet die Familie jegliches persönliche Fehlverhalten.

Diese Strafen werden die Epidemie nicht stoppen und werden niemanden ins Leben zurückholen. Ja, sie werden gesellschaftlich geächtet. Führende Artgalerien und grosse Universitäten, die üppige Spenden erhalten haben, versuchen, sich von der Familie Sackler zu distanzieren und nehmen keine Spenden mehr an. Aber fast keine dieser Institutionen hat das Geld zurückgegeben (das viele als Blutgeld bezeichnen), noch haben sie sich verpflichtet, diese Gelder umzuleiten, um die durch die Opioid-Epidemie verursachten Verwüstungen zu lindern.

Die meisten hochrangigen Mitglieder der Familie Sackler, die eine führende Rolle bei der Verursachung der «Opioid-Krise» spielten, sind verstorben und können daher nicht mehr vor Gericht stehen. Aber Richard Sackler, der seit 1971 in verschiedenen Führungspositionen im Unternehmen tätig war, lebt noch. Er ist derjenige, der das Unternehmen bei Rechtsstreitigkeiten, eidesstattlichen Erklärungen und Insolvenzverfahren vertritt, er ist derjenige, der verzweifelte und herzzerreissende Aussagen von Opioid-Krisenopfern und ihren Familienangehörigen miterlebt, und er ist derjenige, der immer noch behauptet, dass er oder sein Unternehmen keine Verantwortung für die Krise trägt.

Es gibt viel zu lernen, aber einfache oder schnelle Lösungen sind nicht offenbar. Die Probleme der Opioid-Krise zeigen, dass grundlegende Reformen des Gesundheitswesens notwendig sind, um die Interessen von Patienten_innen zu schützen. Regierungsbehörden sind nicht in der Lage drohende Probleme zu antizipieren oder existierende Probleme effizient zu entschärfen: Solche Fähigkeiten müssten neu aufgebaut werden. Die Regelungen zu Interessenskonflikten müssen vollständig überarbeitet werden, um den Einfluss von Unternehmen auf die medizinische Praxis, die medizinische Forschung und die öffentliche Gesundheitspolitik einzudämmen. Regierungen, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft müssen neue Ansätze entwickeln, um sich vor dem Einfluss von profitmotivierten Unternehmen schützen zu können, ihre Integrität zu wahren und das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen. Und während wir auf die oben genannten Ziele hinarbeiten, müssen wir unsere Politik sowie die Richtlinien für die Verschreibung von Opioiden überarbeiten.

Wir sollten auch die Art und Weise ändern, wie wir chronische Schmerzen behandeln. Nicht, indem wir mehr Rezepte ausstellen, sondern indem wir alternative pharmakologische und nicht-pharmakologische Therapien in Betracht ziehen. Und, nicht zuletzt, müssen wir uns um die Leidtragenden kümmern: Wir müssen die Bussgelder und Strafen sowie alle anderen Geldquellen, die wir finden können, für die Behandlung, Heilung, Rehabilitation und vielleicht sogar für die finanzielle Entschädigung der Millionen von Opfern dieser Krise verwenden.

Situation in der Schweiz

Auch in der Schweiz gibt es Anzeichen dafür, dass Opioide ein ernstzunehmendes Problem werden könnten. Die Zahl der Anrufe bei Tox Info Suisse im Zusammenhang mit Opioiden – und davon ein grosser Teil mit OxyContin – hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Heute gibt es in der Schweiz etwa 25’000 abgegebene Opioid-Drogeneinheiten pro 100’000 Einwohner_innen, aber nur vier gemeldete Opioid-Vergiftungen pro 100’000 Einwohner_innen. In den USA sind es über 25 Opioid-Vergiftungen pro 100’000 Einwohner_innen. Die Daten deuten also darauf hin, dass in der Schweiz die meisten der abgegebenen Opioide sachgerecht verwendet werden und nur ein relativ geringer Anteil an Personen geht, die die Droge missbrauchen. Die zunehmende Tendenz (ein jährlicher relativer Anstieg der Vergiftungen um 10 Prozent) zeigt jedoch, dass die Situation ständige Aufmerksamkeit erfordert.

Unser Experte Csaba Szabo ist Leiter der Abteilung Pharmakologie der Universität Freiburg. Seine Forschungsinteressen sind oxidativer Stress, Stickstoffmonoxid, Schwefelwasserstoff und die Pathogenese von Herz-Kreislauf-, Entzündungs- und neurologischen Erkrankungen. Prof. Szabo gehört zu den meistzitierten Forschenden der Welt («Highly Cited Researchers», Clarivate Analytics, 2022).
csaba.szabo@unifr.ch