Forschung & Lehre
Worte wie Heimweh
Als Mitglied der Familie der deutschsprechenden Länder hat die Schweiz ein Recht auf Varianten – so genannte Helvetismen. Diese aufzuspüren und im Duden-Synonymwörterbuch für die Primarschule zu vermerken, war die Aufgabe von Regula Schmidlin und Melanie Bösiger.
Ein Synonymwörterbuch ist eine feine Sache. Oder treffender ausgedrückt: Ein wertvolles Werkzeug, wenn es darum geht, im schriftlichen Ausdruck das passende Wort zu finden. Auch an Deutschschweizer Primarschulen steht den Schüler_innen ein solches Wörterbuch zur Verfügung, herausgegeben vom Duden-Verlag. Die Kinder dürfen es verwenden, wenn es etwa darum geht, einen Aufsatz über den Urlaub bei der Oma zu schreiben. Oder eben: über die Ferien bei der Grossmutter.
Nadeln im Heuhaufen
Als Mitglied der schweizerischen Duden-Kommission übernahm die Sprachwissenschaftlerin Regula Schmidlin die Aufgabe, das Synonymwörterbuch «Sag es besser! Treffend formulieren – Primarschule» für die Schweizer Ausgabe zu überarbeiten. Zusammen mit Diplomassistentin Melanie Bösiger hat Prof. Schmidlin sich an die Arbeit gemacht. «Zuerst ging es darum, Wörter, die nur in Deutschland gebräuchlich sind, zu erkennen und mit einem überall gebräuchlichen Wort oder mit einem Helvetismus zu ersetzen», erklärt Schmidlin den Vorgang. So wurde aus dem Fasching die Fasnacht oder «auf Krawall gebürstet» mit dem in der Schweiz gebräuchlichen Adjektiv «angriffig» ersetzt. Wie aber kommt man diesen hauptsächlich in Deutschland verwendeten Ausdrücken – so genannten Teutonismen – auf die Spur? «Wir haben das Lehrmittel durchgeschaut und jene Wörter angestrichen, die gemäss unserer Expertise und unserem Bauchgefühl in der Schweiz nicht gebräuchlich sind. Unsere beiden Unter-Assistentinnen haben diese Auswahl dann mithilfe so genannter Korpora geprüft», erläutert Melanie Bösiger. Korpora sind riesige Textsammlungen, in denen man elektronisch prüfen kann, wie gebräuchlich ein Wort ist und in welchen Regionen es besonders häufig vorkommt. «Wörter wie ’Frau’ oder ’Baum’ erscheinen in den Korpora aus der Schweiz, Deutschland und Österreich etwa gleich häufig. Es handelt sich dabei also um gemeindeutsche Wörter. Nehmen wir aber ’Maturand’, ’Maturant’ und ’Abiturient’, so sehen wir eine ganz andere Verteilung.» Taucht ein Wort nicht oder nur ganz selten auf in einem Schweizer Korpus, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Teutonismus – oder um einen Austriazismus.
Ein Helvetismus ist ein völlig legitim gebrauchtes Wort der offiziellen Schweizer Standardsprache, z.B. «allfällig» für «etwaig». Und nicht, wie bisweilen irrtümlich angenommen, ein Dialektwort, das sich ins Hochdeutsche geschlichen hat – das wäre eine Dialektinterferenz, z.B. «gumpen» für «springen». Ein schmaler Grat, der ein gutes Sprachgefühl voraussetzt, wenn man zu entscheiden hat, ob ein Wort jetzt Einzug in die Schweizer Standardsprache halten darf – oder eben nicht. «Hinzu kommt, dass die Sprache in stetem Wandel ist», sagt Regula Schmidlin. «Das ’Morgenessen’ etwa ist ein Helvetismus. Je länger, je mehr wird aber auch in der Schweiz das Wort ’Frühstück’ gebraucht.» Dann gibt es jene Helvetismen, die den Sprung ins Gemeindeutsche geschafft haben und im Duden nicht mehr den Zusatz «schweizerisch» tragen. Ein solches Wort ist «Heimweh». Wenn Regula Schmidlin davon spricht, schwingt Freude mit über diese Schweizer Schöpfung: «Das Wort ’Heimweh’ haben die Schweizer Söldner geprägt. Es drückt ein bestimmtes Gefühl aus, für welches es davor noch kein Wort gab. Es hat eine Lücke gefüllt und wird jetzt im ganzen deutschen Sprachraum verwendet.»
Amerikanismen, Britizismen, Austriazismen, Teutonismen: Die jeweiligen Varianten sind Ausdruck der Plurizentrik jener Sprachen, die in verschiedenen Ländern und/oder Regionen gesprochen und als Amtssprachen verwendet werden. «Sie sind Teil der Identifikation, des Wir-Gefühls», fügt Regula Schmidlin hinzu. «Die Varianten widerspiegeln sozio-kulturelle Aspekte einer Gesellschaft. Auch wenn sie nur etwa 5 Prozent des Wortschatzes ausmachen».
Aus Till wird Celine
So stellte auch Melanie Bösiger beim Überprüfen des Synonymwörterbuchs für die Primarschule schnell fest, dass es um weit mehr als um das reine Aufspüren von Helvetismen geht. Auch die freien Beispielsätze, die den Wortgebrauch jeweils illustrieren, wurden teilweise überarbeitet. «Mit Namen etwa, die in der Deutschschweiz kaum vorkommen, haben unsere Primarschüler_innen weniger Anknüpfungspunkte. Deshalb wurde aus Till kurzerhand Celine», schmunzelt Bösiger. Auch Ausländer_innen tragen in der Schweiz andere Namen als in Deutschland. So ist bei uns der Anteil Menschen aus der Türkei kleiner, dafür leben mehr italienischstämmige Personen in der Schweiz. Aus Cem wurde Alessandro. «Wir haben mit Migrations- und Vornamensstatistiken gearbeitet, um abschätzen zu können, welche Eingewanderten welche Vornamen bevorzugen», erzählt Bösiger.
Genauso wie Namen gehören auch Orte zum Kontext, der in den Beispielsätzen in einzelnen Fällen an die Schweiz angepasst wurde. In der Schweizer Ausgabe des Lehrmittels wurden die Berlinerinnen zu Freiburgerinnen, die Nordsee zum Seeland und das Watt gar zum Gletscher. «In Bezug auf Orte haben wir uns auf die Intuition verlassen», so Melanie Bösiger. Komplizierter war es mit Schulbezeichnungen, da diese ja auch in der Schweiz nicht einheitlich sind. «Hätten wir als Synonym für ’Schule’ alle in der Schweiz vorkommenden Bezeichnungen aufgeführt, wäre das Buch jetzt wohl um eine Seite länger!» Im Rahmen des Schulumfelds galt es auch, die Noten anzupassen: Wer in Deutschland sagt, er wolle auf eine «Drei» kommen, meint damit in der Schweiz eine «Vier». «Es ist wichtig, dass die Beispiele für die Primarschüler_innen vertraut klingen und die entsprechenden Bilder wecken in den Kopfkinos der Kinder.»
Nebst den inhaltlichen und kulturellen Schweizer Besonderheiten gibt es auch Morphologie- und Rechtschreibe-Helvetismen, die gegebenenfalls angepasst werden müssen. Unser Plural von «Bogen» etwa lautet neben «Bogen» auch «Bögen». In Bezug auf Rechtschreibe-Varianten ist häufig ein bestimmter Buchstabe mitbeteiligt: «Bei uns schreiben wir Sauce und nicht Soße – schon nur, weil wir kein scharfes S oder Eszett, wie der Buchstabe ß heisst, verwenden», führt Melanie Bösiger aus. Wieso gibt es dieses ominöse Eszett in der Schweiz eigentlich nicht? «Es gab immer wieder Diskussionen, ob man das an der Schule lehren sollte. Ein Argument dagegen war der Platzmangel auf der Tastatur, weil wir als viersprachiges Land ja auch noch Platz für französische Sonderzeichen brauchen.» Eine Erklärung, die, laut Bösiger, heute nicht mehr Sinn mache angesichts der vielen möglichen Tastenkombinationen. Jedenfalls wird das Eszett in der Schweiz bereits seit den 1930er Jahren nicht mehr an Schulen gelehrt. 1974 beschloss auch die Neue Zürcher Zeitung, die lange als einzige Tageszeitung noch mit Eszett schrieb, auf dieses künftig zu verzichten.
Wozu das alles?
Im Zeitalter von Youtube, TikTok & Co. konsumieren bereits Primarschüler_innen regelmässig Beiträge in Deutscher Standardsprache und werden entsprechend geprägt. Warum also ist es so wichtig, eine Schweizer Ausgabe dieses Grundschulwörterbuchs zu haben? Drückt da ein Quäntchen Patriotismus durch? «Wenn es um Plurizentrik geht, ist die Diskussion um Ideologie schnell zur Stelle», bestätigt Regula Schmidlin. «Im Vordergrund steht aber der authentische Sprachgebrauch. Die Varianten machen nur einen kleinen Anteil aus. Sie werden aber in Schweizer Texten oft geschrieben. Es geht hier darum, den Kindern Wörter zur Seite zu stellen, die zum hiesigen Sprachschatz gehören.» Ausserdem, so Schmidlin, sei die Anpassung von Lehrmitteln für einen bestimmten Sprachmarkt gang und gäbe, seit es Lehrmittel gibt. Dass das Synonymwörterbuch von Zeit zu Zeit – die letzte Überarbeitung war 2008 – auf Teutonismen und Helvetismen geprüft wird, sei kein Politikum. «Es ist auch Marketing», lacht Regula Schmidlin. «Das Buch verkauft sich in der Schweiz besser, wenn da draufsteht: Schweizer Ausgabe.»
Fluch oder Segen
Es braucht ein ausgeprägtes Sprachgefühl, um sich zwischen den Varietäten des Deutschen und zwischen Standard und Dialekt fliessend bewegen zu können. Genau diese Agilität, welche ein Leben in der Deutschschweiz für Deutschsprechende voraussetzt, fördert aber offenbar auch das Gespür für Sprachen. «Studien haben gezeigt, dass das Hin- und Herspringen zwischen Standardsprache und Dialekt unser Sprachbewusstsein verfeinert», erklärt Schmidlin. So auch eine Arbeit einer Kollegin aus Salzburg: «Die Studie zeigt, dass Kinder, die Dialekt sprechen, in Bezug auf das Erkennen von Sprachnuancen Vorteile haben. Sie haben ein feineres Ohr und können auch Unterschiede zwischen familiärer und gehobener Sprache besser erkennen.» Ist es also ein Vorteil, mit einem Dialekt als Muttersprache aufzuwachsen – oder überwiegen trotzdem die Nachteile? «Ein Nachteil ist, dass sich Menschen, die als Alltagssprache einen Dialekt verwenden, in der Standardsprache mündlich oft weniger fliessend ausdrücken. Dafür konnte man feststellen, dass Deutschschweizer Kinder in gewissen orthographischen Bereichen weniger Fehler machen als deutsche. Sie profitieren davon, dass ihre Standardsprache etwas näher an der Schrift ausgesprochen wird. So sprechen sie zum Beispiel das Wort ’Vater’ so aus, wie man es schreibt, und nicht ’Vata’, was bei deutschen Kindern eine Fehlerquelle sein kann.»
Eben erst haben Regula Schmidlin und Melanie Bösiger die Druckfahnen für die Neubearbeitung des Synonymwörterbuchs der Primarschulen abgeliefert – und schon brütet Schmidlin über den nächsten Helvetismen. Diesmal geht es darum, den grossen DUDEN, also das Deutsche Universalwörterbuch, auf Vordermann zu bringen in Sachen Schweizer Varianten. «Helvetismen sind bereits seit 1929 im Duden verzeichnet», betont Regula Schmidlin. Dasselbe gilt für Austriazismen. Mit sprachlichem Spürsinn und Korpusrecherchen prüft die Kommission, ob jene Helvetismen, die der Duden aufführt, noch gebräuchlich sind und ob sie als standardsprachlich gelten können. Auch neue Helvetismen können zur Aufnahme vorgeschlagen werden. Auf dem Bildschirm von Regula Schmidlin prangt hervorgehoben das Verb «krosen». Schweizerisch für «kratzen» oder «rauschen». Das Wort klingt in den Ohren der Linguistin zu sehr nach Mundart. Es krost, sozusagen, im sinnbildlichen Gehörgang.
Unsere Expertin Regula Schmidlin ist Professorin für Germanistische Linguistik am Departement für Germanistik. Sie hat zur Variation der deutschen Standardsprache geforscht. Aktuell leitet sie ein Forschungsprojekt zum Erwerb von Textkompetenz auf Sekundarstufe II. Sie war zudem an verschiedenen Wörterbuchprojekten beteiligt.
regula.schmidlin@unifr.ch
Unsere Expertin Melanie Bösiger ist Diplomassistentin in der Germanistischen Linguistik und schreibt eine Doktorarbeit über Relativsätze im Schweizerdeutschen (etwa: de Ma, mit dem wo ich Tennis spiele). Nebenbei arbeitet sie beim Schweizerischen Idiotikon, dem Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache.
melanie.boesiger@unifr.ch