Forschung & Lehre

Der Feind meines Feindes

Von Menschen verschleppte Lebewesen, die sich in neuen Gebieten aus­breiten, sind ein grosses und weitgehend unterschätztes Problem, das massiv zunimmt, sagt der Ökologe Sven Bacher. Das beste Gegenmittel sind Präventionsmassnahmen – und natürliche Feinde.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat kürzlich einen Bericht zu invasiven Arten veröffentlicht. Sie waren an der Erstellung dieses Berichts beteiligt. Was sind die Hauptaussagen?

Sven Bacher: Wir haben für den Bericht in vier Jahren Arbeit das aktuelle Wissen zusammengetragen. Der Bericht ist mehr als tausend Seiten lang. Zusammenfassend stehen drei Punkte im Vordergrund. Erstens: Invasive Arten sind ein riesiges und bisher weitgehend unbeachtetes und unterschätztes Problem. Zweitens: Das Problem ist weltweit massiv am Wachsen. Und drittens: Eigentlich wissen wir, was wir tun müssten, um gegen das Problem vorzugehen. Aber leider tun wir es nicht, denn sonst wäre das Problem nicht am Wachsen.

Wieso wird das Problem unterschätzt?

Im Vergleich zum Klimawandel, der in aller Munde ist und von den meisten Personen um uns herum als wichtigste Bedrohung wahrgenommen wird, erhält die Biodiversitätskrise viel weniger Aufmerksamkeit. Das hat auch damit zu tun, dass wir dieses Phänomen nur schlecht fassen können. Wir haben zwar eine vage Vorstellung, ein Bauchgefühl, das uns sagt, dass wir die Natur schützen und dafür sorgen sollten, dass sie nicht leidet. Aber was genau meinen wir damit? Und wie – mit welchen Indikatoren – messen wir, wie gut es der Natur geht? Die einfachste und naheliegendste Antwort ist der Artenreichtum. Aber es genügt nicht, nur die Arten zu zählen. Denn wir müssen unterscheiden zwischen einheimischen Arten, die sich in Lebensgemeinschaften über lange Zeit aneinander angepasst haben, und gebietsfremden Arten, die wir Menschen verfrachtet und irgendwo, bewusst oder unbewusst, neu angesiedelt haben. Einige dieser gebietsfremden Arten können die einheimischen Lebensgemeinschaften empfindlich stören, auch wenn sie kurzfristig zu einer Erhöhung der Artenzahl vor Ort beitragen. Auch diese Widersprüchlichkeit trägt dazu bei, dass wir – in der allgemeinen Bevölkerung, aber auch in der Wissenschaft – dem Problem der invasiven Arten wenig Beachtung schenken.

Wie viele der gebietsfremden Arten sind invasiv?

Von den weltweit etwas mehr als 37 000 ge­bietsfremden Arten, deren Ausbreitung wir im Bericht dokumentieren, verhalten sich 90 Prozent unauffällig – und sind also unproblematisch. Nur bei etwa 10 Prozent oder 3500 Arten haben wir Nachweise, dass sie Probleme verursachen. Etwa indem sie sich ausbreiten, oft auf Kosten von einheimischen Arten. Im Bericht verwenden wir den englischen Begriff «impact», der sehr breit gefasst ist und eine Veränderung eines Systems bezeichnet. Das Spektrum reicht von geringen Beeinträchtigungen einzelner Individuen, zum Beispiel wenn Bäume wegen der Konkurrenz von invasiven Pflanzen langsamer wachsen und weniger Samen produzieren, bis zum lokalen oder sogar globalen Aussterben von einheimischen Arten. Aber im Bericht gehen wir auch auf Veränderungen ein, die sich vor allem auf Menschen auswirken. Das ist zum Beispiel bei verschleppten Landwirtschaftsschädlingen der Fall. Oder auch bei der Wasser­hyazinthe, einer invasiven Schwimmpflanze, die in Afrika die Oberfläche ganzer Seen überwuchert – und es den lokalen Fischern verunmöglicht, ihre Netze auszuwerfen.

© Getty Images | Der Rüsselkäfer, natürlicher Feind der invasiven Wasserhyazinthe.

Im Bericht steht an prominenter Stelle, dass für dessen Erstellung die enge Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern von Indigenen sehr wichtig war.

Ja, das kennt man als Europäer weniger, weil auf unserem Kontinent nur noch im hohen Norden kleine Restpopulationen von indigenen Gemeinschaften zu finden sind. Doch in anderen Bereichen der Welt gibt es viel mehr Leute, die von und mit der Natur leben. Diese Personen merken auch rascher als wir, wenn sich Probleme in der Natur entwickeln. Und aus diesem Erfahrungswissen heraus haben viele von ihnen auch schon verschiedene Strategien entwickelt, wie man mit invasiven Arten umgehen kann. Deshalb ist es sehr wertvoll, diese Leute einzubeziehen.

Der Bericht stellt fest, dass invasive Arten weltweit Unheil anrichten – und dass in Afrika am wenigsten Auswirkungen von invasiven Arten nachgewiesen sind.

Ja, aber aufgepasst: Das heisst nicht, dass invasive Arten in Afrika weniger Schäden verursachen als in anderen Regionen der Welt. Sondern, dass wir weniger gut informiert sind, weil wir für Afrika weniger Daten zur Verfügung haben als etwa für Europa oder Nordamerika. Dieses Ungleichgewicht in den Daten hat auch bei der Endverhandlung der Zusammenfassung unseres Berichts für politische Entscheidungsträger – der so genannten «summary for policy makers» – grosse Bedenken ausgelöst, weil sich viele afrikanische Staaten unterrepräsentiert und übergangen fühlten. Umso mehr, als invasive Arten für viele Menschen in Afrika tatsächlich ein grosses Problem darstellen, allein schon für die Nahrungsversorgung, denn dort wird mehr lokal konsumiert als bei uns. In Europa ist das Problembewusstsein in der Bevölkerung viel weniger weit entwickelt, weil wir Landwirtschaftsschädlinge einfach mit Pestiziden bekämpfen. Wir haben hier in der Schweiz auch weniger Schwierigkeiten mit invasiven Arten. Wir sorgen uns vielleicht, dass sich die Tigermücke bei uns bald auch nördlich der Alpen etabliert. Aber die Ausbreitung der Tigermücke wird von Politik und Behörden meist isoliert betrachtet – und nicht als Teil eines viel grösseren und übergreifenden Problems verstanden. Und vor allem fehlt in unseren Breitengraden auch das Verständnis, dass sich unser Kauf- und Reiseverhalten in anderen Regionen der Welt negativ auswirkt.

Was spielt bei der Verschleppung von Arten eine grössere Rolle: der Tourismus oder der Warenhandel?

Die Antwort hängt davon ab, auf welche Gruppe von Lebewesen man fokussiert. So werden etwa invasive Pflanzen oft von Touristen verschleppt. Wer zum Beispiel in Patagonien wandern geht, hat an den Schuhen meist noch Schmutz kleben, der von Schweizer Bergen stammt. In diesem Schmutz stecken Pflanzensamen: Sie würden staunen, wie viele verschiedene Pflanzen sich aus dem Dreck in den Schuhprofilen züchten lassen. Bei Tieren hingegen kommen andere Mechanismen zum Zug. Hier spielt der Internethandel eine grosse Rolle, der es Personen ermöglicht, sich – anonym und komplett unreguliert – auch exotische Haustiere zuzulegen. Wer möchte, kann Ameisen kaufen. Und zwar auch Ameisenarten, die als invasive Arten bekannt sind. Und die nachgewiesenermassen schon starke Schäden angerichtet haben, etwa im Mittelmeerraum, aber auch in den Tropen.

Dass gebietsfremde Ameisen Schäden verursachen, kann ich mir gut vorstellen. Aber mich hat erstaunt, dass in der Top-10-Liste der Arten mit dem grössten «impact» auch Füchse und Ziegen vorkommen.

Das sind Arten, die schon vor 150 bis 200 Jahren verschleppt wurden. Da war die Menschheit noch anders drauf. Damals galten Kolonialismus und Sklavenhandel als etwas Gutes. In Europa gab es Gesellschaften, deren Zweck darin bestand, Tiere wie Ziegen, Schweine, Hühner, Katzen, Igel und Füchse in die Kolonien zu exportieren, damit die Siedler sich auch in der neuen, exotischen Umgebung an den Tieren erfreuen konnten, die sie schon von daheim kannten. In Australien sind deswegen zahlreiche Beuteltiere ausgestorben. Oft haben Seefahrer auch Ziegen auf kleinen Inseln ausgesetzt, damit sie auf der Rückreise wieder anlegen, einige Tiere jagen und sich mit Frischfleisch versorgen konnten. Aber Ziegen haben die Eigenschaft, Pflanzen bis zum Boden wegzufressen, so dass nur noch die Wurzeln übrig bleiben. Zahlreiche Pflanzen in Europa haben sich an diese Art des Frasses angepasst und können aus den Wurzeln heraus wieder neue Triebe bilden. Doch die einzigartige Vegetation, die sich zum Beispiel auf isolierten Inseln wie Galapagos entwickelt hat, verträgt diesen Frass gar nicht gut, dort haben die Ziegen riesige Schäden verursacht.

Im Bericht steht, dass invasive Arten an mehr als der Hälfte der Fälle von weltweitem Aussterben schuld oder zumindest beteiligt sind. Das ist eine unerwartet grosse Zahl.

In der öffentlichen Wahrnehmung galten bisher Landnutzungsänderungen als grösster Verursacher des Artensterbens. Die Hauptbotschaft des vor vier Jahren erschienenen Weltbiodiversitätsberichts war: Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht. Das tönt dramatisch. Aber erstens geht es hier um Arten, die noch nicht ausgestorben sind. Und zweitens ist diese Zahl eine grobe Schätzung. Wenn wir uns auf die harten Fakten konzentrieren und uns auf die Arten beschränken, die nachgewiesenermassen ausgestorben sind, wie wir das in unserem Bericht gemacht haben, dann sind etwas mehr als tausend Arten verschwunden. Unter diesen dokumentierten Fällen von Artensterben sind tatsächlich 60 Prozent aufgrund von invasiven Arten ausgestorben. Für mich zeigt die grosse Diskrepanz zwischen den tausend dokumentierten Fällen und der Million Arten, die vom Aussterben bedroht sind, dass es keinen Sinn ergibt, die verschiedenen Faktoren – also etwa Klimawandel, Landnutzungsänderungen, invasive Arten oder Umweltverschmutzung – gegeneinander auszuspielen. Denn eigentlich geht es nicht darum, welcher Faktor schlimmer und welcher weniger schlimm ist. Sondern darum, dass man dringend etwas tun muss, wenn man die Natur erhalten möchte.

Eigentlich lohnt es sich nur schon aus finanziellen Gründen, etwas gegen invasive Arten zu unternehmen. Denn sie verursachen riesige Kosten, wie der Bericht festhält.

Ja, und zwar in der Höhe von 423 Milliarden Franken – pro Jahr! Auch diese Zahl beruht nicht auf Schätzungen, sondern auf belegten Tatsachen. Weil nicht alle Schäden dokumentiert sind, und weil noch nicht alle Datenquellen in die Schadensdatenbank integriert sind, müssen wir sogar davon ausgehen, dass es zudem noch eine grosse Dunkelziffer gibt.

Wie setzen sich diese Kosten zusammen?

92 Prozent der Kosten sind direkte ökonomische Auswirkungen von invasiven Arten. Im Bericht bezeichnen wir sie als Schadenkosten. Darunter fallen etwa Ernte­einbussen oder die Beschädigung der Infrastruktur. Nur acht Prozent sind Massnahmenkosten. Sie umfassen den finanziellen Aufwand, der betrieben wird, um invasive Arten zu bekämpfen und zurückzudrängen.

Wie sind diese Kosten global aufgeteilt?

Der grösste Teil der Kosten entfällt auf die industrialisierten Länder in Europa und Nordamerika. Wie bei den Belegen für die Auswirkungen von invasiven Arten war es auch bei den Kosten schwierig, für zahlreiche Entwicklungsländer verlässliche Zahlen zu finden. Wenn man die Summen weltweit zusammennimmt, verursachen invasive Arten Folgekosten, die sich mit denen von grossen Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Überschwemmungen vergleichen lassen. Meine Kolleginnen und Kollegen, die das Kapitel über die finanziellen Auswirkungen verfasst haben, haben ausserdem gezeigt, dass die Schadensumme dramatisch steigt: Sie hat sich in den letzten 30 Jahren alle zehn Jahre vervierfacht.

Hat das damit zu tun, dass in diesem Zeitraum auch die Reisetätigkeit und die globalen Warenflüsse zugenommen haben?

Ja, das ist so. Wir sehen in unseren Daten überall den gleichen Entwicklungstrend, bei Pflanzen genauso wie bei Tieren oder Krankheitserregern. Wir begegnen nicht nur den schon bekannten gebietsfremden Arten, die sich immer weiter ausbreiten, sondern vor allem immer öfter Arten, die neu gebietsfremd sind. Für uns ist das ein klares Zeichen dafür, dass Lebewesen in zunehmendem Masse verschleppt werden.

Was kann man gegen die Ausbreitung invasiver Arten tun?

Am wirksamsten sind Präventionsmassnahmen. Internationale Gesetze schreiben zum Beispiel vor, dass Pflanzensendungen vor dem Versand auf das Vorkommen von Schädlingen kontrolliert werden müssen. Das wird aber leider nur bei ein bis zwei Prozent der Sendungen gemacht. Die Sendungen könnten auch sterilisiert werden, die Methoden hierfür sind längst etabliert. Aber weil sie kosten, besteht ein Anreiz, solche Hygienemassnahmen zu umgehen.

Wenn eine invasive Art früh genug in einem neuen Gebiet entdeckt wird, kann sie häufig noch erfolgreich ausgerottet werden. Doch wenn sie sich am neuen Ort schon festgesetzt und ausgebreitet hat, wird es schwieriger. Dann kann man häufig nur noch versuchen, sie an der weiteren Ausbreitung zu hindern. Konventionelle Methoden wie etwa das Versprühen von Pestiziden sind teuer, mit einem sehr grossen Aufwand verbunden und gehen zudem mit Nebenwirkungen einher. Oft kommen nur noch biologische Agenten als Lösung in Frage.

Wie bitte: Invasive Arten zurückdrängen, indem man weitere gebietsfremde Arten aussetzt?

Ja, ich weiss, wegen der Aga-Kröte, die vor allem in Australien grosse Probleme verursacht, hat diese Methode einen schlechten Leumund. Doch die Kröte wurde vor über 80 Jahren zur Bekämpfung von Zuckerrohrschädlingen angesiedelt, zu einer Zeit, als man nicht viel über biologische Bekämpfung wusste – und einfach schaute, was nach der Freilassung passierte. Seither ist allerdings viel passiert. Heute sind Freilassungen gesetzlich geregelt. Und es ist vorgeschrieben, dass biologische Agenten vor der Freilassung umfassend getestet werden. Es gibt zahlreiche Erfolgsgeschichten. So stammt die vorhin erwähnte Wasserhyazinthe, die in Afrika ganze Seen überwuchert, ursprünglich aus Südamerika. Dort lebt auch ein kleiner Rüsselkäfer, der sich auf die Schwimm­pflanze spezialisiert hat und nichts anderes frisst. Dieser Käfer hat sich im Viktoriasee als spektakuläre Lösung erwiesen und die invasive Pflanze so weit zurückgedrängt, dass sie überhaupt keine Probleme mehr verursacht und die Fischer wieder normal ihrem Handwerk nachgehen können.

Was ist die IPBES?

Die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem (IPBES) – auch Weltbiodiversitätsrat genannt – ist eine UN-Organisation, die 2012 ins Leben gerufen wurde.

Die IPBES gilt als die wichtigste unabhängige Quelle für fundierte multidisziplinäre Wissenschaft über Biodiversität und Ökosystemleistungen. Sie hat das Ziel, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft über den Zustand und die Entwicklung der biologischen Vielfalt und deren Bedeutung für die Menschheit zu informieren, den Bedarf an Kapazitäten und Aktivitäten zu priorisieren sowie die Gewinnung relevanten Wissens zu unterstützen. Zur IPBES gehören Mitgliedstaaten und Beobachter wie etwa UNO-­Institutionen, Forschungseinrichtungen oder Universitäten. IPBES übernimmt eine ähnliche Rolle wie der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC).

Aktuell sind 139 Staaten Mitglied von IPBES, darunter auch die Schweiz.

 www.ipbes.net/ias (Bericht)

Unser Experte Sven Bacher ist Professor für angewandte Ökologie an der Universität Freiburg. Er hat als koordinierender Leitautor des Kapitels über die Auswirkungen von invasiven Arten am neuen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES mitgeschrieben.

sven.bacher@unifr.ch