Forschung & Lehre
Das kostbare Nass gerecht aufteilen
Die Bauern wollen ihre Felder bewässern, der Energiesektor will mit Wasserkraft Strom gewinnen. Im Grenzgebiet zwischen Kirgistan und Usbekistan prallen diese Interessen unter dem Einfluss des Klimawandels immer stärker aufeinander. Lassen sie sich vereinbaren?
Die Bilder, die Eric Pohl in seinem Büro im zweiten Stock der Uni Pérolles 14 auf dem Bildschirm öffnet, zeigen eine beeindruckende Berglandschaft. Mitten in der kargen Wildnis durchqueren ein knappes Dutzend Pferde und Esel ein breites kiesiges Flussbett. Ein tagelanger Ritt bringt die Forschenden mitsamt ihrem Gepäck an ihr Ziel: den Golubin-Gletscher im Tienschan-Gebirge. Dort schlagen die Forschenden dann für einige Tage ihre Zelte auf, bevor sie eine ähnlich abenteuerliche Reise zum nächsten Messpunkt antreten.
Voll beladene Packesel
Allerdings kann Pohl der Wild-West-Romantik, die seine Bilder in weitgehend unberührter Bergkulisse verströmen, nicht viel abgewinnen. «Das ist kein Urlaub. Die Arbeit in dieser Höhe ist oft sehr anstrengend», sagt er. Zudem gebe es während der zweimonatigen Messkampagne so gut wie keine Privatsphäre. Die Packesel sind voll beladen, sie schleppen – neben allerlei wissenschaftlichem Material – auch den Proviant mit hoch, den die Forschenden jeweils vor der Reise auf dem Basar in Bischkek erstehen. Daraus zaubert der Koch, der Pohl und seine kirgisischen Kolleginnen und Kollegen auf den Expeditionen begleitet, jeden Tag neue schmackhafte Mahlzeiten. Derweil nutzt der Geoökologe Pohl die Zeit am Berg, um seine Messinstrumente zu installieren. Das tönt einfacher, als es ist. Denn Pohl muss im Geröll, durch das der Gletscherabfluss mäandriert, eine Stelle ausfindig machen, an der das Wasser aus den kleinen, sich ständig ändernden Bächlein zusammenkommt – und wo das Messinstrument auch bei Hochwasser möglichst nicht weggeschwemmt wird.
«Am liebsten wähle ich Stellen hinter einem grossen Stein», sagt Pohl und zeigt auf das Bild, wo er in Bauchlage auf einem Felsen zu sehen ist, mit beiden Händen im eiskalten Wasser, um das Messgerät zu befestigen, das den Pegelstand des Abflusses rund um die Uhr aufzeichnet. Wer sich bei diesen Aufzeichnungen eine mehr oder weniger flache Linie vorstellt, liegt falsch: Der Pegelstand kann innerhalb eines einzigen Tages um das Zehnfache schwanken. Denn wieviel Schnee und Eis sich zu einer gegebenen Zeit in Wasser umwandeln, hängt von der für die Schmelze notwendigen Energie ab: In den hohen Lagen im Tienschan bleibt die Lufttemperatur auch tagsüber oft unter null Grad Celsius, doch unter den Sonnenstrahlen schmelzen die Gletscher, erklärt Pohl. Während das Schmelzwasser nachts und frühmorgens nur ein dünnes Rinnsal bildet, kann es – an Tagen, an denen die Sonne voll auf die Eismassen scheint – am Nachmittag zu einem reissenden Gewässer anschwellen.
Doch mit der Messung des Pegelstands ist es noch nicht getan, denn Pohl und seine Kolleginnen und Kollegen möchten wissen, wieviel Wasser zu Tale fliesst – und weiter unten der Landwirtschaft oder dem Energiesektor zur Verfügung stehen. «Deshalb führen wir auch Versuche durch, in denen wir das Wasser färben», sagt Pohl. Der Farbstoff Uranin, den die Forschenden dafür verwenden, leuchtet bei geringen Konzentrationen zwar in einem giftigen Grün, ist aber biologisch unbedenklich. «Wir kennen die Menge des Farbstoffs, den wir hinzugeben. Und messen dessen Konzentration bei unterschiedlichen Pegelständen», führt Pohl aus. «So ergibt sich eine Kalibrierkurve, die den Pegelstand mit der Abflussmenge verbindet.»
Solche Versuche führen Pohl und seine Kolleginnen und Kollegen an mehreren Gletscherzungen durch, während seine Kollegin Martina Barandun und seine Kollegen Enrico Mattea und Martin Hölzle parallel dazu mit so genannten Ablationsmessungen auf den Gletschern beschäftigt sind: «Sie versenken einen Stab tief ins Eis – und messen wie rasch er freigelegt wird», erklärt Pohl. Dabei übersteigt der Eisverlust normalerweise die Abflussmenge, oder in anderen Worten: Nur ein Teil des Schmelzwassers landet im Fluss, ein anderer Teil des Wassers verdunstet und ein weiterer Teil versickert im Boden.
«Obwohl ich eigentlich kein Bergtyp bin – ich mag mehr das Meer –, habe ich die meisten meiner Sommer der letzten zehn Jahren in den zentralasiatischen Gebirgen verbracht», erzählt Pohl. Genau wegen dieser langjährigen Erfahrung vor Ort haben ihn letztes Jahr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Kirgistan, Frankreich, Belgien, Serbien, Grossbritannien und den Niederlanden angefragt, ob er sich am «We-Act» Konsortium beteiligen wolle. Das eingängige Akronym ist vom englischen Projekttitel namens «Water Efficient Allocation in a Central Asian Transboundary River Basin» abgeleitet. Das von der EU mit rund 5,3 Millionen Euro geförderte und von der Technischen Universität in München koordinierte Vorhaben hat zum Ziel, ein Entscheidungshilfesystem für die Wasserzuteilung zu entwickeln.
Verteilkonflikte um knappe Ressource
Das grossangelegte Projekt ist in mehrere Arbeitspakete oder Blöcke aufgegliedert. Pohl ist für den ersten Block zuständig: Er entwickelt neue Messinstrumente und installiert sie vor Ort. (Im wenig bescheidenen Jargon der EU-Forschungsförderungsbürokratie werden die Wasserpegel- und Gletscherablationsmessungen als «hydrometeorologische und glaziologische Echtzeit-Überwachungstechnologie» bezeichnet.) Die Geräte senden die Messresultate automatisch an Satelliten, die sie an besser erschlossene Gebiete auf der Erde weiterleiten. «Am Schluss kommt alles in speziell eingerichteten Datenbanken in den Niederlanden sowie in Kirgistan zusammen», führt Pohl aus.
Ein weiteres Arbeitspaket schätzt den Wasserbedarf in einem Teil des Einzugsgebiets des Syrdarja-Flussbeckens im Grenzgebiet zwischen Kirgistan und Usbekistan ab. Im Vordergrund stehen hier vor allem die Landwirtschaft im Ferghanatal mit ihren bewässerungsintensiven Kulturen sowie der Energiesektor, der mit Wasserkraft Strom erzeugt. Aufgrund des Bevölkerungswachstums in der Region und des Klimawandels, der nicht nur die Gletscher in der Schweiz sondern auch in Zentralasien abschmelzen lässt, dürften die Verteilkonflikte um die zusehends knapper werdende Ressource Wasser in den nächsten Jahrzehnten eher zu- als abnehmen.
Das «We-Act»-Projekt beabsichtigt, das gesamte Wassersystem zu modellieren. Neben den Daten zur Gletschermassenbilanz von Pohl und Barandun, sowie Angaben zur aktuellen und zur geschätzten inskünftigen Wassernachfrage sollen auch Informationen zur Wasserpolitik der beiden Länder in das Modell einfliessen. Hier sind etwa die jeweils vor Ort geltenden Wassertarife und die zwischenstaatlichen Abkommen zur Wassernutzung von Bedeutung. «Wir wollen angesichts des wachsenden Drucks durch den Klimawandel ein Verständnis der Wasserpolitik, der Finanzierungsinstrumente, der Anreize und der Prioritäten der Interessengruppen entwickeln», hält die Projektwebseite fest.
Schliesslich soll ein auf künstlicher Intelligenz fussendes Entscheidungshilfesystem (das darüber hinaus «intuitiv zu bedienen» ist) möglichst «effektive Wasserverteilungsstrategien» vorschlagen. Und also zum Beispiel die Behörden vor Ort informieren, dass ein schneereicher Winter zu erwarten ist – und deshalb der Moment gekommen sein könnte, um den einen oder anderen Stausee aufzufüllen. «Zur Entscheidungsfindung kann aber auch gehören, dass man Einschnitte in Kauf nimmt oder genügsamere Pflanzen anbaut, wenn man im Voraus weiss, dass im nächsten Sommer eine Wasserknappheit droht», sagt Pohl.
Im Laufe seiner langjährigen Arbeit hat der Geoökologe mit vielen kirgisischen Kollegen enge freundschaftliche Beziehungen aufgebaut. «Jedes Jahr kommen auch einige Kirgisen zu uns nach Freiburg, wo wir sie gezielt in Methoden zur Gletscher- und Wasserhaushaltsmodellierung ausbilden», sagt Pohl. Auch beim «We-Act»-Projekt seien Befürchtungen, dass es sich um «imperialistische Forschung» handelnkönnte, also um eines dieser wissenschaftlichen Vorhaben, «bei denen Forschende aus Europa der Lokalbevölkerung erklären, was sie zu tun hat, ohne auf ihre Expertise oder Bedürfnisse einzugehen» glücklicherweise unbegründet: Die Akteure vor Ort würden nicht übergangen, sondern seien von Anfang an eingebunden, meint Pohl.
Zu Beginn sei er dem «We-Act»-Projekt wegen seiner hohen Versprechen kritisch gegenübergestanden, insbesondere dem Teil mit der künstlichen Intelligenz. «Das ist eine Art magische Kiste, die nun überall in der Forschung Einzug hält, und bei der man oft nicht nachvollziehen kann, warum eine Entscheidung getroffen wird», sagt Pohl. Doch nun, wo die Arbeiten angelaufen sind, löst sich seine anfängliche Skepsis immer mehr auf. An den Treffen habe sich gezeigt, dass die Projektpartner ihre Aufgaben sorgfältig und ernsthaft bearbeiteten. Ausserdem: «Wir leben nun mal in einer immer datenreicheren Welt mit komplexen, nicht-linearen Zusammenhängen», sagt Pohl. «Deshalb kann es durchaus sein, dass das Entscheidungshilfesystem Lösungen vorschlägt, auf die wir ohne künstliche Intelligenz nicht gestossen wären.»
Unser Experte Eric Pohl ist Postdoc am Departement für Geowissenschaften der Universität Freiburg.
eric.pohl@unifr.ch