Dossier

Land der Dichter und Denker

«Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden», stellte Friedrich Schiller 1796 fest. Johann Wolfgang von Goethe bekräftigte: «Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens.»

Um 1800 war die Auflösung des Deutschen Reichs, die bereits im Mittelalter begonnen hatte, an ihr Ende gekommen. 1806 wurde das «Heilige Römische Reich Deutscher Nation» auf Wunsch Napoleons von den deutschen Fürsten liquidiert. Tatsächlich gab es auch vorher kein «Deutschland»: Spätestens seit dem Westfälischen Frieden 1648 war «Deutschland» in rund 300 kleine und kleinste «Herrschafften eingetheilet, welche einander nichts zu befehlen» (Christian Wernicke 1685) hatten oder sich sogar bekriegten.

Die Poeten aber dichteten trotzdem für und über Deutschland; mitunter nicht einmal auf Deutsch. Nicodemus Frischlin zum Beispiel pries 1585 die Überlegenheit des neuzeitlichen Deutschlands gegenüber der Antike auf Latein in seinem Drama «Iulius Redivivus». Hier treten der im Titel genannte Gaius Julius Caesar samt seinem ehemaligen Widersacher Marcus Tullius Cicero freundschaftlich wiederbelebt auf, um sich von dem ebenfalls wiederbelebten Hermann, dem Cherusker, und dem erst 1540 verstorbenen Humanisten Eobanus Hessus belehren zu lassen, dass das humanistisch gebildete Deutschland das antike Rom weit übertreffe. Cicero ist begeistert: «Jch gäntzlich wehn | Teütschland sey worden gar Athen»; und auch Caesar gibt zu: «seelig ist diß landt.»

Die Gedanken sind frei

In der Gelehrtenrepublik träumte man von Deutschland; politisch blieb «Deutschland (…) durch seine alte und neue Schwachheit ganz Nullität», wie sich Johann Gottfried Seume um 1800 ausdrückte. Wenn man freundlich sein wollte, nannte man es das Land der Dichter und Denker. Während Franzosen, Russen und Briten sich als Nationen konstituiert und unter sich «das Land» und «das Meer» aufgeteilt hätten, sei das Land der Deutschen ein «Luftreich des Traums» geblieben, meinte Heinrich Heine 1844 und bekannte zugleich: «Denk ich an Deutschland in der Nacht, | Dann bin ich um den Schlaf gebracht, | Ich kann nicht mehr die Augen schließen. | Und meine heißen Tränen fließen.» Heine weinte, weil «deutsch» und «frei» zwei Wörter zu sein schienen, die man seinerzeit nicht zusammen denken konnte, wenn Freiheit nicht bloss die des Gedankens in der Gelehrtenrepublik meinen sollte.

Immerhin gab es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber auch einige wenige Schriftsteller, die an eine baldige Demokratisierung Deutschlands glaubten. Georg Büchner zum Beispiel spottete über die deutsche Kleinstaaterei: «KÖNIG PETER. Werden die Gränzen beobachtet? CEREMONIENMEISTER. Ja, Majestät. Die Aussicht von diesem Saal gestattet uns die strengste Aufsicht. (Zu einem Bedienten.) Was hast Du gesehen? ERSTER BEDIENTE. Ein Hund, der seinen Herrn sucht, ist durch das Reich gelaufen. CEREMONIENMEISTER (zu einem andern). Und Du? ZWEITER BEDIENTE. Es geht jemand auf der Nordgränze spazieren, aber es ist nicht der Prinz, ich könnte ihn erkennen. (…) ERSTER BEDIENTE. Halt! Ich sehe was! Es ist etwas wie ein Vorsprung, wie eine Nase, das Übrige ist noch nicht über der Gränze; und dann seh’ ich noch einen Mann und dann noch zwei Personen entgegengesetzten Geschlechts. CEREMONIENMEISTER. In welcher Richtung? ERSTER BEDIENTE. Sie kommen näher. Sie gehen auf das Schloß zu. Da sind sie.» («Leonce und Lena», 1837.) Und er hoffte mit seinem Ko-Autor Friedrich Ludwig Weidig, ja war sich zeitweilig sogar sicher, dass sich auch «in Deutschland» bald «das Volk» erheben und «seine Fürsten», die «es zerfleischten und schunden», hinwegfegen würde: «Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser, die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet», rief er den hessischen Bauern stellvertretend für das deutsche Volk zu und prophezeite: «Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn. Das deutsche Volk ist Ein Leib, ihr seyd ein Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Scheinleiche zu zucken anfängt. Wann der Herr euch seine Zeichen gibt (…), dann erhebet euch und der ganze Leib wird mit euch aufstehen. (…) Ihr bautet die Zwingburgen, dann stürzt ihr sie, und bauet der Freiheit Haus.» («Der Hessische Landbote», 1834.) Die Geschichte zeigt, dass dieser Optimismus haltlos war. Immerhin sah es 1848 kurzfristig so aus, als könnte ein neues Deutschland entstehen. «Auf die Trompeten geblasen, | Deutschland, Deutschland ist frei!» Aber wie Adolf Glaßbrenner in einem seiner «Verbotenen Lieder» bereits geahnt hatte: Es war nur «ein grüner Traum.» Die Revolution von 1848/49 ging als «gescheiterte Revolution» in die Geschichtsschreibung ein.

© raphael.ganz@bluewin.ch
Sehnsucht nach Deutschland

Theodor Fontane, einer der führenden Realisten, schrieb 1852, es gelte nunmehr alle «Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult» zu «verschließen» und sich abzufinden. Die Literatur dieser Zeit ist geprägt durch den Geist der Resignation. «Hoffen wir Alle auf dem Wege der Geduld und Entsagung zu unserm Recht zu kommen. (…) Wir sind Alle zur Entsagung geboren», lautete die Parole (Willibald Alexis, 1852).

Unterdessen mehrte sich die Sehnsucht nach einem einigen Deutschland, an dessen «Wesen / Einmal noch die Welt genesen» möge, wie es Emanuel Geibel formulierte («Deutschlands Beruf», 1861). Es «wuchs (…) die junge Pflanze der deutschen Einheit heran, bis jener Tag kam, da ein Ruf allgemeiner Entrüstung das ganze Deutschland zu dem Kampf gegen den Erbfeind unter die Waffen rief. In jenem Augenblicke gab es keine Main­linie, keinen Norden und Süden mehr, es gab nur noch eine – deutsche Nation», schwärmte Anfang der 1870er Jahre ausgerechnet die Schwester des oben zitierten Propheten der Freiheit, Luise Büchner, und verkannte Otto von Bismarck als Garanten von «Freiheit und Recht».

Von Liebe und Hass

Friedrich Nietzsche hatte schon in den 1870er Jahren geklagt, die Jugend werde zu «zeitiger Grauhaarigkeit» erzogen. Doch einige klagten wie Georg Heym 1910: «ich ersticke noch mit meinem brachliegenden Enthousiasmus in dieser banalen Zeit», und er wünschte sich, dass endlich etwas Mitreissendes geschehe; etwa, «daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein».

Dieser Krieg wurde Wirklichkeit, und in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verblutete die expressionistische Generation. Vergeblich warnte in der kurzen Weimarer Republik Kurt Tucholsky davor, Deutschland den Nationalisten zu überlassen: Auch «wir lieben dieses Land (…) mit dem gleichen Recht» wie «die Mehrzahl der nationalen Esel (…). Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ‹Deutschland› gedacht wird» («Heimat», 1929). Nach 1933 sorgten die Nazis dafür, dass derer, die Tucholsky erwähnte, bei dem Wort «Deutschland» nicht mehr gedacht wurde.

In Folge des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland geteilt. In der BRD erkannte Heinrich Böll 50 Jahre nach dem Erscheinen von Manns «Untertan» noch immer «das Zwangsmodell einer untertänigen Gesellschaft», gegen das die meisten Schriftsteller_innen engagiert anschrieben. In der DDR war Geschichtsoptimismus vorgeschrieben, doch Brecht entlarvte dessen Zwangscharakter schon 1953 in den Versen: «Wenn der Eiserne sie prügelt | singen die Musen lauter»; Thomas Brasch brachte die Tragödie des sozialistischen Drittels von Deutschland 1977 auf den Punkt: «Vor den Vätern sterben die Söhne.»

Das Leiden hat ein Ende

Die Implosion des sogenannten Ostblocks ermöglichte 1990 den Beitritt der DDR zur BRD; seither gibt es wieder ein Deutschland. Den literarisch Schreibenden fiel dazu wenig ein. Das Feuilleton feierte in den 1990er Jahren die «Normalisierung» Deutschlands und seiner Literatur, weil literarisch scheinbar nicht mehr an Deutschland gelitten wurde. Die Literatur verkam kurzzeitig zu einem Archiv der Alltagskultur.

Das Thema «Deutschland» wurde im 21. Jahrhundert aber eine Domäne der Literatur von Autor_innen, die als Kinder von Immigrant_innen in Deutschland geboren wurden. «Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin. Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit» in dem «kalten, herzlosen Land», summiert zum Beispiel die Erzählerin der 1986 in Karlsruhe geborenen Fatma Aydemir ein Einwandererschicksal in dem Roman «Dschinns» (2022), mit dem sie zu Recht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangte und für den sie 2023 den Preis der LiteraTour Nord bekam.

Unser Experte Arnd Beise ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte am Departement für Germanistik.
arnd.beise@unifr.ch