Interview

Lust am Lesen

In einem facettenreichen Interview diskutieren Expert_innen aus verschiedenen Bereichen über die Bedeutung des Lesens in ihrem persönlichen und beruflichen Leben sowie über die aktuellen Herausforderungen und Chancen, die das Lesen in unserer Gesellschaft prägen.

Was bedeutet Lesen für Sie persönlich und beruflich?

Ariane Schwab: Lesen ist eine Praktik, die sich immer weiter ausdifferenziert, je älter ich werde, in allen unterschiedlichen Kontexten, in denen ich lebe. Sei es im Beruf, wo ich natürlich wissenschaftliches Lesen pflege, das mich zum Teil davon abhält, zu Hause zu lesen. Mit meinen Kindern lese ich viel und gerne. In all seinen Kontexten hat das Lesen immer wieder eine andere Bedeutung. Es kann einerseits erholend und bereichernd sein, mir neues Wissen beschaffen, oder auch Erfahrungen und Erlebnisse geben, die ich sonst in meinem Leben vielleicht nicht hätte.
Arnd Beise: Dadurch, dass ich Literaturwissenschaftler bin und es meine Arbeit ist, Belletristik, also literarische Texte, wissenschaftlich zu erforschen und zu analysieren, gibt es gar keine Trennung zwischen beruflichem und privatem Lesen. Aber es gibt natürlich einen Unterschied zwischen informierendem Lesen z. B. eines Beipackzettels, damit ich die Tabletten richtig einnehme, und dem literarischen Lesen.

Johanna Jutzet, haben Sie auch eine Déformation professionnelle?

Johanna Jutzet: Ich glaube, ein bisschen weniger, weil ich entschieden habe, dass ich nur lese, was ich will. Ich würde sagen, dass bei mir kein grosser Unterschied besteht zwischen beruflichem und sonstigem Lesen. Als ich mich mit der Thematik auseinandergesetzt habe, wurde mir bewusst, dass es einerseits dieses solitäre Lesen, aber auch dieses Gemeinschaftserlebnis von Vorlesen oder ganz vielen anderen Möglichkeiten gibt.

Was beschäftigt Sie wissenschaftlich?

Claudia Leopold: Mich interessiert, was genau passiert, wenn wir einen Inhalt, einen Zusammenhang verstehen oder nicht verstehen. Worin genau besteht der Unterschied? Aus der Forschung wissen wir, dass es unterschiedliche Ebenen des Verstehens gibt. Interessant ist das Konzept des mentalen Modells: Das ist eine Art abstraktes Bild des Gelesenen, welches räumliche Beziehungen zwischen funktionalen Elementen darstellt. In meiner Forschung untersuche ich die Wirkung von visuell räumlichen Lernstrategien. Ebenso ist bekannt, dass das Verstehen kein trockener, abstrakter Prozess ist. Wenn jemand z. B. etwas über Werkzeuge liest, werden im Gehirn Bereiche aktiviert, die auch bei tatsächlichen Handlungen mit Werkzeugen aktiviert sind. Dies verweist auf neue Möglichkeiten für die Förderung von Leseprozessen hin.
Ariane Schwab: Mein Forschungsinteresse knüpft dort an, wo Menschen noch nicht lesen können: Wie werden Kinder an Textwelten herangeführt, also an Lesepraktiken, die wir mit ihnen schon in sehr frühen Jahren ausüben können? Da geht es um diese Erlebnisräume, die Sie, Frau Leopold, ansprechen. Im Sinne von ko-konstruktiven Prozessen, in denen wir gemeinsam in  Bilderbüchern Bild und Verbaltext erkunden. Kinder haben dabei ihre eigenen Zugänge. Auch digitale Möglichkeiten des Lesens interessieren mich, denn schliesslich eröffnen sie uns allen neue Räume und auch hier können wir wieder von Modellen lernen, wie wir strategisch in diesen Textwelten vorgehen können.
Arnd Beise: Das ist in meinem Bereich natürlich vollkommen anders. Als Literaturwissenschaftler setze ich das Verstehen voraus; aber wir bemühen uns, die Texte richtig zu verstehen. Und dann diskutieren wir darüber, was wir verstehen, z. B. was uns Texte sagen können, sowohl über die Vergangenheit als auch über die Gegenwart. Wir interpretieren also Texte und müssen im Unterricht sicherstellen, dass Texte nicht missverstanden werden.
Johanna Jutzet: Mir könnte es eigentlich egal sein, ob die Leute die Bücher effektiv lesen. Sie sollen einfach Bücher kaufen (lacht). Ich finde es spannend, wenn ich sehe, wie viele Kinder in den Laden kommen, die lesen und die ganz genau wissen, was sie lesen wollen. Das finde ich ganz toll. Die Frage ist immer, wie man möglichst viele Leute in den Laden bringt und dafür sorgt, dass sie mit einem Buch wieder rausgehen.

Nur einem?

Johanna Jutzet: Ich bringe schon eine gewisse kapitalistische und wirtschaftliche Komponente mit. Wenn ich aber sehe, dass z. B. unsere junge Auszubildende mehr liest als wir alle zusammen, dann denke ich, die Zukunft des Lesens ist zumindest bei einigen sehr begeisterten jungen Menschen gesichert. Das stimmt mich optimistisch.

© Christian Doninelli

Ariane Schwab ist Professorin für Fachdidaktik Deutsch an der HEP | PH FR.
ariane.schwab@edufr.ch

Auf dem 3. Platz des Wortes des Jahres 2023 steht «leseunfähig». Was halten Sie davon?

Johanna Jutzet: Ich glaube, wir haben viel mehr Ablenkung als sonst. Ich will nicht alles auf Smartphones und Digitales schieben, aber ich denke schon, dass das Zeitfresser sind. Mit dem Lesen lässt sich wunderbar Langeweile überbrücken, aber in einem kindlichen Leben gibt es heute weniger Langeweile, weil man z. B. das iPad hat. Das Wort «Leseunfähigkeit» klingt gar nicht schön und es kommt mir etwas suspekt vor.
Arnd Beise: Ich möchte das unterstützen. Ich glaube, es geht gar nicht um Leseunfähigkeit, sondern allenfalls um Leseunwilligkeit. Wenn wir einen längeren literarischen Text lesen wollen, müssen wir uns eine Zeitinsel schaffen. Wir müssen bereit sein, zu sagen: «Ja, das ist eine wertvolle Zeit, die ich mit Lesen verbringe und nicht eine vertane Zeit.» Da kommt es natürlich stark drauf an, wie das gesellschaftlich im Allgemeinen bewertet wird.
Ariane Schwab: Mir gefällt dieser Blick sehr, weil er auf das System und unsere Gesellschaft ansetzt, und nicht auf das Subjekt. Der Begriff zielt aber auf das Subjekt ab. Als Lesedidaktikerin, der es um diese Lesesubjekte geht, möchte ich den Blick doch auch auf die Gesellschaft richten. Wie PISA zeigt, schaffen es einige nicht, sich in der literalen Welt so zu bewegen, dass sie auch Erfolg haben können. Was wollen wir für eine Gesellschaft? Eine, die es verbietet, ein nicht-zielgerichtetes Lesen zu finden oder eine, die Räume schafft, in denen es für einmal nicht um den Output oder PISA-Resultate geht, sondern um Lese­inseln, innerhalb derer wir Texte entdecken, und uns zurückziehen können?
Claudia Leopold: Bezogen auf die PISA-­Studie finde ich wichtig, dass der aktuelle Lernstand der Schüler_innen regelmässig erfasst wird. Wenn wir auf die PISA-Ergebnisse schauen, zeigen diese, dass ein Viertel Kompetenzniveau 2, d. h. die Mindestkompetenzen beim Lesen, nicht erreicht. Eine Lesekompetenz auf Niveau 2 bedeutet, dass jemand das Thema in einem Text identifizieren kann, einfache Schlussfolgerungen ziehen kann und ein basales Textverständnis hat. Ich finde das noch nicht alarmierend, denn die Schweiz liegt insgesamt betrachtet über dem OECD-Durschnitt. Dennoch sollte auf dieses Viertel geachtet werden und Interventionen sind angebracht. Vor allem, wenn berücksichtigt wird, dass die Gruppe der leseschwachen Schüler_innen zugenommen hat.

© Christian Doninelli

Claudia Leopold ist Professorin am Zentrum für Lehrerinnen- und Lehrerbildung der Universität Freiburg.
claudia.leopold@unifr.ch

Haben Sie denn konkrete Strategien, wie darauf geachtet werden soll?

Ariane Schwab: Lange hat man nicht darauf geachtet, dass Kinder diese basalen Kompetenzen genügend ausbilden können, damit ihre Arbeitsgedächtnisse entsprechendauch frei sind, um an diese Verstehensprozesse herangehen zu können. Die Lese didaktik versucht mittlerweile, vielmehr darauf zu setzen, dass das «Lesen üben» einen sportiven Charakter kriegt, dass man z. B. in Tandems liest und die Leseflüssigkeit trainiert. Wenn Lesende fliessend lesen können, können wir strategisch vorgehen: Wie können wir jetzt einen Text knacken?
Arnd Beise: Das Spielerische scheint mir da sehr wichtig zu sein, nicht so sehr das Sportive. Wenn Eltern und Kinder z. B. zusammen lesen und über das, was sie gelesen haben, auch reden, dann kommt man ins Gespräch, und darüber kommt auch das Verstehen relativ leicht zustande. Ich glaube, ein Problem ist, wenn die Lesenlernenden allein gelassen werden. Eltern sollten ihren Kindern vorlesen und mit ihnen über die Geschichten diskutieren. Das sage ich jetzt als Laie und Vater (lacht).
Johanna Jutzet: Ich weiss nicht, ob Sie schon mal von Silent Reading Raves gehört haben. Das ist der neue Trend aus dem englischsprachigen Raum: Man trifft sich an einem Ort und alle lesen für sich. Zum Beispiel kann dafür eine Buchhandlung länger offenbleiben. Auch für Erwachsene muss Lesen also nicht nur ein solitäres Erlebnis sein.
Arnd Beise: Das hat zu tun mit dem wissenschaftlichen Lesen, denn der wissenschaftliche Austausch über Lektüre im Seminar besteht darin, dass alle Zuhause denselben Text gelesen haben, und dann spricht man zusammen darüber und versteht dadurch den Text besser.
Claudia Leopold: Ich glaube, wichtig ist auch die Lesemotivation der Schüler_innen. Wenn nur wenig Motivation für das Lesen vorhanden ist, werden sie seltener geeignete Strategien anwenden. Motivation ist aber für sich betrachtet noch nicht hinreichend, es braucht auch die richtige Herangehensweise, Wissen über geeignete Lesestrategien und die Fähigkeit, das eigene Lernen zu steuern.
Arnd Beise: Aus reinem Vergnügen zu lesen, müsste doch auch ein wichtiges Motiv sein. Es ist nicht nur die Möglichkeit, etwas zu lernen, sondern die Welt auch besser auszuhalten und Freude zu haben.
Claudia Leopold: Sie sprechen die intrinsische Motivation an. Das heisst, jemand liest, weil er oder sie Freude an der Tätigkeit des Lesens selbst hat oder weil der Inhalt für die Person besonders bedeutsam ist.

Arnd Beise, verändert sich das Lesen Ihrer Studierenden in der Zeit des Studiums?

Arnd Beise: Ich hoffe, dass es sich verbessert. Das passiert automatisch durch die Routine, die man erwirbt. Mit mehr Leseerfahrung sieht man immer mehr in Texten und versteht sie besser. Es ist einfach eine Frage der Zeit. Lesenlernen kostet Zeit und Lesen kostet Zeit. Diese müssen wir uns nehmen und anderen geben.
Ariane Schwab: Ich glaube, wir müssen auch aushalten, dass wir im Leben immer wieder neu Lesen lernen müssen. Das ist etwas, das gerade im Hochschulkontext manchmal etwas schwierig ist, weil sich die Leute auf Neues einlassen müssen. Diese neuen Herausforderungen sind aber auch das Interessante am Lesen.

© Christian Doninelli

Arnd Beise ist Professor am Departement für Germanistik der Universität Freiburg.
arnd.beise@unifr.ch

Ariane Schwab, von der Pädagogischen Hochschule aus werden von Studierenden Erzählanlässe in der Buchhandlung veranstaltet. Was erhoffen Sie sich daraus?

Ariane Schwab: Das Zielpublikum sind 3- bis 8-Jährige. Es wird stark auf die Lese­praktiken fokussiert. Nicht in allen Familien werden diese Lesepraktiken im selben Masse gelebt. Ein Problem unserer Gesellschaft ist auch, dass nicht alle Lesepraktiken legitimiert sind. In meinem Forschungsprojekt bin ich viel in Kindergärten unterwegs. Dort merke ich, dass anderssprachige Kinder zuhause sehr wohl Lesepraktiken einüben, aber die sind in der Schule nicht legitimiert, weil sie in anderen Sprachen stattfinden, weil sie über Textsorten stattfinden, die für die Schule nicht relevant sind. Das Vorlesen könnte ermöglichen, dass wir über die Generationen hinweg gemeinsam das Lesen praktizieren. Die Studierenden führen die Kinder an Geschichten heran, die sie selbst noch nicht lesen können.

Bei Erhebungen werden die Kinder häufig nach der Anzahl Bücher im Haushalt gefragt. Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Anzahl Bücher der Erziehungsberechtigten und der Lese­fertigkeit?

Johanna Jutzet: Ich frage mich, inwiefern ein Kind, das in einem Haushalt aufwächst, wo es viele Bücher gibt, wo das Lesen aber nicht praktiziert wird, besser lesen kann. Ich weiss nicht, ob die Präsenz der Bücher entscheidend ist.
Arnd Beise: Ich habe Kollegen, die darüber klagen, dass ihre Kinder nicht lesen; und ich weiss, dass da Tausende von Büchern herumstehen. Wichtiger sind die gemeinsamen Praktiken.
Ariane Schwab: Mich interessiert es in meinem Forschungsprojekt, ob es zu Hause ein Bücherregal gibt. Ich fände es aber schwierig, daraus den Schluss zu ziehen, dass deshalb besonders viel oder wenig gelesen wird. Gibt es zu Hause aber Bücher, so kann man auch literale Praktiken ausüben und vormachen. Manche Lehrpersonen berichten darüber, dass Kinder teilweise nicht wissen, wie ein Buch gehalten wird. Das muss auch erst gelernt werden.

© Christian Doninelli

Johanna Jutzet ist Buchhändlerin und Kodirektorin in der Lüthy Kanisiusbuchhandlung in Freiburg.
johanna.jutzet@buchhaus.ch

Johanna Jutzet, können Sie ein Kinderbuch nennen, das Sie häufig empfehlen?

Johanna Jutzet: «Gust der Mechaniker» von Leo Timmers. Es ist ein Wimmelbilderbuch, das es schafft, den Leser als eine Art Detektiv mitzunehmen. Ich habe es oft verschenkt und verkauft und erhalte nur positive Rückmeldungen. Wenn die Kinder es ein- oder zweimal gelesen haben, dann kann man fragen: «Was denkst du, was jetzt als nächstes passieren wird?»
Claudia Leopold: Was sie hier ansprechen, ist eine sinnvolle Lesestrategie, nämlich die des vorausschauenden Lesens. Sie ist in vielen Leseförderprogrammen zu finden und kann von Erwachsenen ohne grossen Aufwand angeregt und angeleitet werden.
Ariane Schwab: Viele Lesestrategien können mit solchen Bilderbüchern modelliert werden, weil das Kind partizipieren kann. Davon gibt es viele Bücher auf dem Markt.
Arnd Beise: Die Haltung des Detektivs muss gepflegt werden. Denn ist man ein guter Detektiv, ist man auch ein guter Literaturwissenschaftler. Wir gehen permanent auf Spurensuche im Text, versuchen Zusammenhänge zu verstehen oder herzustellen. Das macht uns zu kleinen Sherlocks.

Zum Schluss: Gibt es Mythen, rund um das Lesen, die sich immer noch halten und die Sie dekonstruieren wollen?

Ariane Schwab: Viele. Etwa, dass man viel lesen muss, um lesen zu können.
Claudia Leopold: Oder auch der Mythos, dass man alles Gelesene behalten muss. Manche Schüler_innen lesen einen Textabschnitt im Lehrbuch mit dem Ziel, sich mit dem Gelesenen zu füllen «wie ein leeres Gefäss». Das funktioniert allerdings nur kurzfristig, weil der Prozess der Wissenskonstruktion eine eigene Verarbeitung und Neustrukturierung des Gelesenen voraussetzt und am individuellen Vorwissen ansetzt.
Johanna Jutzet: Dass es wertvolle und weniger wertvolle Literatur gibt! Ich finde das hemmend. Es gibt z. B. Eltern, die ihren Kindern sagen: Du darfst ein Buch auswählen, aber keinen Comic oder Manga. Wenn die Leute das Gefühl haben, sie dürften nur «Anständiges» lesen, dann haben sie vielleicht keine Lust mehr darauf, weil es «zu anstrengend» ist. Die Leute sollen einfach lesen, was sie wollen.