Dossier

Fliegensex

Zur Neurobiologie des Reproduktionsverhaltens im Miniaturformat.

Die meisten von uns kennen sie nur als unliebsame Gäste im sommerlichen Komposteimer – die nur wenige Millimeter kleine Fruchtfliege Drosophila melanogaster. In der Biologie und Medizin hat der Winzling als Versuchstier Grosses erreicht: Er hat neun Forschenden zum Nobelpreis verholfen und wichtige Erkenntnisse in der Genetik, Entwicklungs- und Verhaltensbiologie und Immunologie ermöglicht. Im letzten Jahrzehnt hat man das Nervensystem der Fliege, das ungefähr 200’000 Nervenzellen enthält, mit neuen Techniken in grossem Detail untersucht, wobei das sogenannte Konnektom, d.h. sämtliche Verbindungen zwischen allen Nervenzellen, kartiert wurde. Wie diese Schaltkreise des Fliegengehirns Verhalten und Körperfunktionen des Tieres steuern, ist allerdings noch grösstenteils ein Rätsel. Mit ein paar Ausnahmen: das Sexualverhalten beispielsweise der Fliegen ist durch neuro­biologische Forschung vergleichsweise gut verstanden.

Unterschiede zwischen Weibchen und Männchen

Warum sind es gerade die Schaltkreise für Sex, die von der Wissenschaft so gründlich untersucht wurden? Etwas Voyeurismus mag beigetragen haben, der Hauptgrund liegt aber sicherlich darin, dass schon lange Bereiche im Fliegengehirn bekannt waren, in denen sich unterschiedliche Nervenzellen bei Männchen und Weibchen finden. Einige Typen an Nervenzellen findet man nur in einem der beiden Geschlechter, andere liegen in beiden Geschlechtern vor, zeigen aber geschlechtsspezifische Verzweigungsmuster. Die Vermutung lag nahe, dass diese besonderen Nervenzellentypen Verhaltensweisen der Tiere steuern, die ebenfalls in Männchen und Weibchen unterschiedlich sind: zum Beispiel männliches Balzverhalten, Kopulation, Aggression zwischen Rivalen oder die Eiablage des Weibchens. Tatsächlich wurden für alle diese wichtigen Schritte der Fortpflanzung Nervenzellen identifiziert, deren Aktivität für das jeweilige Verhalten notwendig oder sogar ausreichend ist. Werden die Zellen mit genetischen Methoden abgetötet oder stillgelegt, verschwindet das Verhalten, werden aber die Zellen in isolierten Fliegen experimentell aktiviert, zeigen die Fliegen das Verhalten, ohne dass dieses angebracht wäre. Derartige Versuche haben allerdings auch gezeigt, dass männliche und weibliche Fliegen die meisten Schaltkreise und den allgemeinen Bauplan des Nervensystems teilen.  Durch kleine Manipulationen kann nämlich männliches Verhalten in Weibchen ausgelöst werden, auch wenn sich ein Grossteil ihres Nervensystems in weiblicher Konfiguration befindet.

Die Art und Weise, wie männliches und weibliches Gehirn sich unterscheiden und sexuelles Verhalten steuern, ist bei Säugetieren übrigens erstaunlich ähnlich wie in Fliegen. Auch Mäuse haben geschlechtsspezifischen Nervenzellen und Schaltkreise in bestimmten Gehirnbereichen, die Partnerwahl, Paarung und Brutpflege kontrollieren.

So verführt man als Fliege

Um das Interesse von Herrn Drosophila zu erregen, genügt manchmal ein fliegengrosses, sich bewegendes Objekt – ein schwarzer Punkt auf einem Bildschirm oder ein Stückchen Radiergummi, von trickreichen Forschenden mit versteckten Magneten gesteuert. Er eilt herbei. Falls es sich um eine Fliege handelt, wird mit einer kurzen Berührung des Vorderbeins geprüft, ob sich weitere Bemühungen lohnen. Fliegen tragen Geschmackssensoren an den Beinen. Mit diesen erkennen sie schnell die Kohlenwassersstoffverbindungen auf der Körperoberfläche ihres Gegenübers. Diese fungieren als Sexualpheromone und geben Auskunft über Geschlecht und Artzugehörig­keit. Auch subtilere Information, wie zum Beispiel Alter und vorhergehende Sexualpartner können über Geschmack und Geruch in Erfahrung gebracht werden. Wenn das Männchen entscheidet, mit der Balz zu beginnen, folgt es dem Weibchen zunächst auf Schritt und Tritt. Es benutzt einen ausgestreckten Flügel als Musik­instrument: mit präzisen Vibrationen erzeugt es ein rhythmisch brummendes Liebeslied. Weibchen erkennen am Muster des Lieds die Artzugehörigkeit des Männchens und zeigen sich viel schneller paarungsbereit, wenn korrekt vorgesungen wird. Im Gehirn des Weibchens hat man spezifische Nervenzellen identifiziert, die aktiv werden, wenn das Weibchen das Liebeslied hört oder männliche Pheromone über die Geruchsbahnen wahrnimmt. Diese Zellen integrieren also die Hauptmerkmale des potenziellen Partners. Gleichzeitig erhalten sie interne Information darüber, ob das Weibchen sich schon einmal verpaart hat und empfängnisbereit ist. Die weiblichen zentralen «Sex-Nervenzellen» im Gehirn sind über Schaltkreise mit Nervenzellen verbunden, die die weiblichen Genitalien ansteuern und dort zur Öffnung von zwei kleinen Exoskelettplatten führen, was die Kopulation möglich macht.

Le peintre et son modèle – Emile Chambon 1934 | © 2024, ProLitteris, Zurich (Foto Primula Bosshard)

Männliche Fliegen haben ähnliche, aber anders verschaltete zentrale «Sex-Nervenzellen» in denen Sinneswahrnehmungen und interne Informationen miteinander verrechnet werden. Erreichen diese Zellen einen gewissen Aktivitätslevel, beginnt das Männchen mit der Balz.

Wenn ein Fliegenweibchen seine Jungfräulichkeit verliert, ändert sich viel in ihrem Leben: Essensvorlieben, Schlafgewohnheiten, Gedächtnisleistung und das Interesse an Sex. Sie beginnt mit der Eiablage und wehrt die Avancen weiterer Männchen meistens ab. Auch in ihrem Darm und in ihren Geschlechtsorganen werden Zellen aktiv, nehmen vermehrt Nährstoffe auf und produzieren neue Eier. Sex hat Gehirn und Körper der Fliegenfrau umprogrammiert, ähnlich wie eine menschliche Frau sich von einer Schwangerschaft und den damit verbundenen Hormonveränderungen verwandelt fühlen mag.

Warum hat schon Sex allein bei den Fliegen eine solche grosse Auswirkung auf Verhaltensmuster und physiologische Vorgänge? Die Antwort ist ein kleines Peptid, das sogenannte «Sex-Peptid», das vor über dreissig Jahren in einem Labor in Zürich entdeckt wurde. Nur Männchen produzieren Sex-Peptid und übertragen es zusammen mit Spermien und anderen Botenstoffen im Seminalplasma bei der Kopulation an ihre Partnerinnen. Die Weibchen nehmen Sex-Peptid mit sensorischen Nervenzellen im Uterus wahr, und dieses Signal wird ins Gehirn weitergeleitet. So kann sich Fliegenfrau auf ihr «Bauchgefühl» verlassen, wenn es darum geht, den Lebensstil auf Mutterschaft umzustellen. Gibt es Sex-Peptid auch beim Menschen? Nicht genau in dieser Form, aber wie bei den Fliegen sind auch im menschlichen Seminalplasma hunderte von Botenstoffen und Signalmolekülen, die beim Sex übertragen werden und die weiblichen Organe, das Immunsystem, Befruchtung und Implantation beeinflussen. Die allermeisten der menschlichen Seminalplasma-Moleküle sind nur noch nicht so genau untersucht, wie es in Drosophila möglich war!

Konflikte zwischen Sexualpartnern

Ein Fliegenweibchen legt bis zu 500 Eier im Leben. Die Spermien, die sie benötigt, um all diese Eier zu befruchten, kann sie bereits bei einer einzigen Kopulation erhalten und in speziellen Speicherorganen wochenlang mit sich tragen. Trotzdem haben die meisten Weibchen öfter Sex, und mit verschiedenen Partnern. Weil es einfach Spass macht? So genau kann man das natürlich nicht wissen, ob oder wie Fliegen Lust empfinden, während ihre Sex-Nervenzellen aktiv sind…. Eine evolutionsbiologische Erklärung für weibliche Promiskuität (in der Fachsprache: ein polyandrisches Paarungssystem), sind unter anderem Vorteile, die sich daraus ergeben, wenn die Nachkommen genetisch unterschiedlich sind. Weibchen tendieren dazu, die englische Redewendung: «Don’t put all eggs in one basket!» zu befolgen, und sammeln Spermien von unterschiedlichen Männchen, um mit deren Erbgut eine diverse Brut zu produzieren. Fliegenmännchen müssen also immer damit rechnen, dass Balz und Sex «vergebliche Liebesmüh» waren und ihre Vaterschaft usurpiert wird. In der Evolution haben sich daher Signalstoffe wie Sex-Peptid entwickelt, die die Empfängnisbereitschaft des Weibchens herabsetzen. Männchen, die besonders viel in die Produktion von Sex-Peptid investieren, können ihre Partnerinnen länger davon abhalten, mit einem anderen zu kopulieren, und zeugen somit mehr Nachkommen.

Fazit: Fliegensex ist durchaus mit Konflikt zwischen den beiden Geschlechtern beladen, da sich die optimalen Fortpflanzungsstrategien für Männchen und Weibchen unterscheiden.

So kurios wie es scheinen mag, ist das Sexleben von Insekten nicht nur für die neurobiologische Forschung von Bedeutung. Klimawandel und Zerstörung natürlicher Habitate führen sowohl zur Ausbreitung von schädlichen oder krankheitsübertragenden Arten, als auch zum Verlust von unersetzlichen Bestäubern. Wenn wir das Fortpflanzungsverhalten von Insekten besser verstehen, kann dies helfen, effektive Strategien für die Schädlings­bekämpfung und den Artenschutz zu entwickeln.

Unsere Expertin Anne von Philipsborn ist Professorin für molekulare und zelluläre Neurowissenschaften an der Abteilung für Medizin.
annevonphilipsborn@unifr.ch