Dossier

Some fuck and others get fucked

Die Erfindung des heterosexuellen Codes unter patriarchalem Vorzeichen: eine queere Kritik.

In der Literatur der Gegenwart ist Sex oft mit Unbehagen assoziiert, so wie in «Die Ehe», von Natascha Wodin (1997), wo eine Frau von ihrem Verlobten im Walddickicht in die Sexualität eingeführt wird: Ich hatte mir Überwältigendes von diesem Ereignis erwartet, [...] doch schließlich war da nur der Ast, der sich mir, während ich auf dem Waldboden lag, von hinten in den Rücken bohrte, Harald stieß mich mit seinem Gewicht immerzu in diesen Ast, so daß ich, da ich nicht den Mut hatte, ihn auf meine missliche Lage aufmerksam zu machen, die ganze Zeit mit nichts anderem beschäftigt war als damit, den Schmerz zu unterdrücken und meine Angst vor dem nächsten Hineingestoßenwerden in das messerscharfe Holzstück unter mir.

Diese unbefriedigende Szene spielt sich in den 1960er Jahren ab. Grosse Erwartungen an die Liebe, die in unangenehme körperliche Erlebnisse münden, meist auch, weil die weiblichen Figuren sich weder getrauen, ihre missliche Lage, noch ihre sexuellen Wünsche zu offenbaren, prägen die Literatur des 20. Jahrhunderts. Sind nach der dritten sexuellen Revolution um 2000 die ängstlichen Frauen und die schlechten Liebhaber aus der Literatur verschwunden? Im kürzlich erschienenen Roman «Die Sache mit Rachel» (Caroline O'Donoghue (2023/2024) heisst es: Mit zwanzig in einer längeren Partnerschaft ist der Sex der deprimierendste überhaupt. Als Teenager sind zumindest alle bereit, anspruchslos zu sein. Beide Seiten sind peinlich berührt, niemand weiß, was er tut, und es wird unentwegt gefragt «Alles okay?» und «Fühlt es sich gut an?». [...] Wenn man als junge Frau über sein [sic] Sexualleben spricht, ist es durchaus verlockend, sich in kleinen melancholischen Exkursen darüber zu verlieren, wie man mit schweren Lidschlägen an die Decke gestarrt hat, während ein stumpfer Kerl heftig in einen hineinstieß.

Sowohl die Ehefrau als auch die postadoleszente Studentin erleben Sex als Enttäuschung, ihr Unbefriedigt-Sein als selbstverschuldeten Makel. Protagonistinnen, deren Eintritt in die Heterosexualität zeitlich früher liegt, wie etwa Thomas Manns Rosalie («Die Betrogene», 1953) weisen sich keine Schuld zu, dass Sex nichts Grossartiges ist; sie pflegten «Wollust auf sein [des Mannes] Begehren» hin, eigene sexuelle Wünsche waren ihnen fremd, genauso fremd wie der Gedanke, als Liebhaberin unzureichend zu sein. Die passivische Struktur, mit der Rosalie ihr Sexualleben beschreibt, bezieht sich auf einen Weiblichkeitsdiskurs (der 1910er Jahre), der seit 100 Jahren vergangen ist. Die Paradigmen, nach denen weibliche Sexualität bewertet wird, haben sich inzwischen längst zugunsten eines Sexpositivismus gewandelt. Jungfräulichkeit ist für Frauen kein Statussymbol mehr, sondern sexuelle Kompetenz auszustrahlen, gilt für alle Geschlechter als erstrebenswert; viel mehr Spass als ihren Vorgängerinnen macht es den emanzipierten Frauen, glauben wir den literarischen Gestal­ten, trotzdem nicht, mit Männern ins Bett zu gehen.

Der heterosexuelle Code

Dieser Befund kann nun weder zufällig sein noch gänzlich den Männern angelastet werden. Viel wahrscheinlicher sind wir mit einer strukturellen Misslichkeit konfrontiert, die in den Gedanken der Frauenfiguren lesbar ist, welche niemals in der Paarbeziehung offengelegt wird. Dem Unbehagen zum Trotz bieten vor allem die Frauenfiguren des neuen Jahrtausends ihren Liebhabern ein mehr oder minder perfektes pornografisches Rollenspiel: Sie seufzen und verzehren sich an den richtigen Stellen und antworten auf die Frage «Fühlt es sich gut an?» mit lautem Ja. Der Aufwand, sich als kompetente Sexualpartnerin zu präsentieren, ist gegenüber den sittsamen Gattinnen früherer Epochen, von denen nur Stillhalten erwartet wurde, zwar gestiegen, bedauerlicherweise konstatieren aber im Stillen auch die Jasagerinnen dasselbe wie Manns Heldin: «[Der Mann] begehrte mich, und ich ließ mir’s gefallen.» Woher kommt die unschöne Metapher des «Hineingestoßen­werdens», die auch in die Gegenwartsliteratur Eingang findet und die so gar nicht nach sexpositiver Frau klingt? Sie kündet von einem phallozentrischen Code der Heterosexualität, der ziemlich antiquiert erscheint. Er wurde in einem streng patriarchalischen Kontext generiert, in dem Frauen Männern in keiner Hinsicht gleichgestellt waren.

Leda und der Schwan – Charles Sellier, 19. Jahrhundert | © Getty Images

Als im 19. Jahrhundert «gesunde Menschen» durch ein Konzept, das in früheren Epochen unbekannt war, als «heterosexuell» definiert wurden, erklärten die Sexualwissenschaftler Menschen zwar zu Triebwesen, aber sie wiesen Frauen nur einen passiven Trieb zu, nämlich den, durch den Mann begehrt, geliebt und geschwängert werden zu wollen. Das Weib verhält sich bei der Begattung mehr leidend als handelnd. Die Rolle, welche ihr die Natur zugeschrieben hat, ist die des «Empfangens», während der Mann der tätig zeugende Teil ist (Dr. Karl Weißbrodt: «Die eheliche Pflicht», 1879). Mit der Natur im Bunde wurde die Sexualität zwischen Mann und Frau zu einem Verhältnis erklärt, das dies- und jenseits des Bettes dadurch markiert ist, dass «some fuck and others get fucked». Die Feministin Catharine MacKinnon setzte in «Toward a Feminist Theory of the State» (1989) dieses ungleiche Verhältnis zwischen Mann und Frau analog mit Ausbeutungsstrukturen im Kapitalismus.

Der Begriff «Heterosexualität» sollte nicht in erster Linie als eine Bezeichnung für das gegenseitige Begehren oder gar die Liebe von Mann und Frau verstanden werden. Er war im 19. Jahrhundert ein weiteres Mittel einer Entzauberung der Welt, um ein Machtverhältnis zu naturalisieren. Als der Einfluss der Kirche auf die Sitten der Menschen geringer geworden war, dienten naturwissenschaftliche Sinndeutungen der Sexualkon­trolle. Die Ejakulation des Mannes erklärten die Sexuologen zum eigentlichen Zweck jeder heterosexuellen, also normgerechten sexuellen Handlung. Diese gilt auch weiterhin als das Symbol für den gelungenen sexuellen Akt, selbst in Texten, die ein weibliches Lesepublikum ins Auge fassen. Zwar gilt heute, dass weibliche Figuren ihren Genuss deutlich zum Ausdruck bringen sollen, aber sie verharren dennoch in der Objektrolle, in scheinbarer Autonomie äussern sie ihre an den Mann angepassten Wünsche und betonen, wie sehr sie den Geschlechtsakt mit ihm ersehnen. Was libertär klingt, folgt einer ziemlich langweiligen Dramaturgie, die als Gussform für patriarchale Vorherrschaft aus dem 19. Jahrhundert stammt, Frauen objektifiziert und Männer auf eine phallische Funktion reduziert. Bereits im Zuge der zweiten Welle der Frauenbewegung wiesen französische Philosophinnen darauf hin, dass auch in der Psychoanalyse weibliche Sexualität immer von männlichen Parametern aus gedacht wird, was wohl in der Konsequenz hiesse, auch in ihren Träumen könnten Frauen der Erotisierung ihrer Passivität nicht entkommen.

Der Segen des Queeren

Literatur vermittelt keine faktischen Wahrheiten, legt aber Strukturen offen, die im Alltagsdiskurs verschleiert sind. Dass der heterosexuelle Akt meist nicht sehr beglückend ist, beklagen auch die im Spiel der Heterosexualität scheinbar bevorzugten Männer, die sich auf Potenz und Leistung reduziert fühlen. Freilich ist dieser Befund weder Anlass für grundsätzlichen Hetero-Pessimums noch ein Appell, dass jede_r der zweigeschlechtlichen Liebe abschwören müsse, denn wir alle können von dem Segen einer queeren Weltsicht profitieren, die Menschen nicht zu Sklaven prokreativer Sexualakte und materieller Evidenzen erklärt. Codes, gerade beengende, sind brechbar.

Der Zauber der Sexualität ist weder nur auf biologistische Gesetze noch auf unbezwingliche Sozialformen reduzierbar. Wenn Männer und Frauen ihrer sexuellen Zuneigung folgen und diese nicht als puren Trieb und intrinsisch angelegten Wunsch nach Fortpflanzung erfahren, dann entfernen sie sich bereits in einem queeren Sinne vom Konzept der Heterosexualität. Diese Entfernung vom Konzept macht die Heterosexualität erst im begrifflich reinen Sinn «sexuell». Sie wird dadurch erotischer und ist genaugenommen verqueerter. Queer ist nämlich alles, was auf heteronormative Vorgaben pfeift, kein Identitätslabel, sondern eine kritische Denkbewegung. Die Erfinder der Heterosexualität hätten schon die zuneigende Begeisterung der Frau, die sich nicht nur «hingibt», als nicht durch die (von ihnen definierte) Natur bestimmt bemängelt.

Wenn sich Menschen begehren und diese Menschen als ein weiblich und ein männlich gelesener Mensch auftreten, sich ihr Begehren vielleicht sogar vordergründig jeweils darauf richten sollte, was als Differenz wahrgenommen wird, ja selbst, wenn das Paar ein aktiv/männlich-passiv/weibliches Rollenspiel präferiert, greift auch dort queerer Widerstand, sobald das Begehren wirklich gegenseitig ist und nicht vordergründig auf Kinderzeugung oder Machtinte­ressen zielt. Ist der Geliebte mehr als der Phallus und die Geliebte mehr als ein Objekt, wird der (heterosexuelle) Code schon irgendwie durch (queeren) Zauber zersetzt.

Unsere Expertin Katja Kauer ist Queertheoretikerin und Genderforscherin. Sie vertritt derzeit sowohl eine Professur für Genderstudies als auch eine für die Literatur des 18. und 19. Jahrhundert an der Universität Tübingen und lehrt an der Unifr über Liebe aus queerer Perspektive.
katja.kauer@unifr.ch