Forschung & Lehre

Biologische Zauberkünstler

Klein, aber oho: Zebrafische sind in der Lage, bei Bedarf eine neue Schwanzflosse herzustellen oder Schäden an ihren Herzen zu flicken. Die Forschungsgruppe um Anna Jazwinska arbeitet an der Entschlüsselung dieser erstaunlichen Fähigkeiten.

Wenn ein Plattwurm in der Mitte entzweigerissen wird, wächst aus dem Vorderteil ein neuer Schwanz – und aus dem Hinterteil ein neuer Kopf. Auch Seesterne und einige weitere Wirbellose verfügen über die an ein Wunder grenzende Fähigkeit, aus einem Bruchteil den ganzen Körper wiederherzustellen. Doch im Laufe der Evolution ist dieses Regenerationspotenzial zusehends kleiner geworden. Auf den ersten Blick erstaunt, dass eine so nützliche Fähigkeit, wie verlorene Körperteile zu ersetzen, bei der Weiterentwicklung des Lebens irgendwann abhandenkommt. Doch beim zweiten Blick fällt auf: Je komplexer der Körperbau, desto schwieriger wird es, funktionstüchtige Ersatzteile zu erzeugen.

Endloses Regenerations­vermögen

Deshalb ist das Wiederherstellungspotenzial der evolutionsgeschichtlich jüngeren Wirbeltiere limitiert. Während zum Beispiel der menschliche Körper in der Lage ist, wenige Millimeter dicke Fingerkuppen zu ersetzen, die ein Rasenmäher bei einem Unfall abtrennt, verfügen einige Fische und im Wasser lebende Molche über die Fähigkeit, ganze Gliedmassen neu auszubilden. «Sie gelten als Meister der Regeneration», sagt Anna Jazwinska. «Sie können sogar mehrmals hintereinander den selben Körperteil herstellen. Ihr Regenerationsvermögen ist unerschöpflich.» Schon seit mehr als zehn Jahren erforschen die Biologieprofessorin und ihr Team an der Universität Freiburg die verschiedenen Mechanismen, die dieser verblüffenden Eigen­schaft zugrundeliegen.

Für ihre Versuche züchten und untersuchen sie Zebrabärblinge. In den vielen kleinen blauen Plastikbecken, die in einem Raum hinter dem Labor der Forschungsgruppe auf mehreren, bis zur Decke reichenden Regalen stehen, schwimmen rund 4000 dieser kleinen Süsswasserfische, die wenige Zentimeter lang werden und das Zebra in ihrem Namen fünf blauen Längsstreifen zu verdanken haben. Zebrabärblinge stammen ursprünglich aus Gewässern im Stromgebiet des Ganges. Weil sie jedoch genügsam und also leicht zu halten sind, und weil sie sich zahlreich vermehren (ein Weibchen laicht wöchentlich bis zu 100 Eier ab), sind die kleinen Fische heute weltweit in zahlreichen Biologielaboren anzutreffen, wo sie als Modellorganismen intensiv erforscht werden.

Zartes und weiches Gewebe

Jazwinska und ihr Team studieren die Heilungsprozesse, die einsetzen, wenn man den Zebrabärblingen zum Beispiel die Schwanzflosse abschneidet. «Wir ahmen damit eine Situation nach, in der die Fische von Fressfeinden gebissen werden», sagt Jazwinska. An der Wunde bildet sich zuerst «ein sehr zartes und weiches Gewebe», das in der Fachsprache Blastem genannt wird. Es besteht aus sogenannten Vorläuferzellen, also aus ausgereiften Körperzellen im Stumpf, die aufgrund der Verletzung ihre molekulare Uhr zurückgedreht und sich zurückentwickelt haben, in einen Zustand, in dem sie sich vermehren können. Im Verlauf von drei bis vier Wochen entsteht aus dem Blastem eine komplett neue Schwanzflosse. «Dabei verschiebt sich das Blastem immer weiter nach hinten», sagt Jazwinska. «Noch ist nicht geklärt, wie die Zellen ihre genaue Lage erkennen und wie sie merken, wann die Schwanzflosse zu Ende ist. Aber nach drei bis vier Wochen weist die neue Flosse die gleiche Struktur und Musterung auf wie die alte.»

Weil die Vorläuferzellen im Blastem sich nur teilweise zurückentwickeln, können sie nur eine begrenzte Auswahl von verschiedenen Zellen bilden. So entstehen etwa aus spezialisierten Muskelvorläuferzellen neue Muskeln. Und aus Vorläuferzellen für Knochen entwickeln sich neue Knochenzellen. «Wegen dieser Spezialisierung sind die Vorläuferzellen im Blastem der Fische nicht mit einem erhöhten Tumorrisiko verbunden», sagt Jazwinska. Dadurch unterscheiden sie sich von menschlichen Stammzellen, von denen sich die regenerative Medizin aktuell zwar sehr viel verspricht, aber bei denen die Gefahr, einen Krebs auszulösen, ein leider noch ungelöstes Thema ist.

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Um ein möglichst vollständiges und umfassendes Bild der Regeneration zeichnen zu können, vergleicht das Team um Jazwinska mehrere unterschiedliche Heilungsprozesse. So interessieren sich die Forschenden neben der Regeneration der Schwanzflosse etwa auch dafür, wie sich das Herz der Zebrafische von einer Verletzung erholt. Für diese Fragestellung haben die Forschenden eine besondere Technik entwickelt, die den Fischen möglichst wenig Schmerzen bereitet. Und die gemäss Jazwinska zudem zuverlässige, das heisst gut reproduzierbare Resultate liefert. Die Forschenden kühlen eine dünne Nadel in flüssigem Stickstoff ab – und halten sie dann während 20 Sekunden an das Herz. «Die Zebrafische haben kein Brustbein, ihr Herz liegt gleich unter der Haut und ist viel leichter zugänglich als bei uns», sagt Jazwinska. Diejenigen Zellen, die im direkten Kontakt mit der Nadel stehen, sterben ab, weil das Wasser in ihrem Inneren zu Eiskristallen gefriert, was die Zellen schliesslich zum Platzen bringt.

Dass die Frostbeulen am Herzen von den Fischen gut vertragen werden, merken die Forschenden um Jazwinska auch daran, dass sich die Fische normal verhalten: Sie schwimmen und fressen. «Sie sind auch nach dem kleinen Eingriff imstande, die lebenden kleinen Krebstierchen zu fangen, mit denen wir sie füttern», sagt Jazwinska. Die von der Kälte ausgelösten Verletzungen lassen sich ein Stück weit mit den Schäden nach einem Herzinfarkt vergleichen, meint Jazwinska. Denn obwohl die Infarktschäden aus einem anderen Grund entstehen – die Zellen sterben ab, weil sie nach einem Gefässverschluss keinen Sauerstoff mehr kriegen –, betrifft der Herzinfarkt wie auch die Erfrierung jeweils nur einen bestimmten Bereich des Herzmuskels.

Bei uns Menschen bleibt das Herz nach einem Infarkt ein Leben lang geschädigt. Das hat auch damit zu tun, dass das menschliche Herz eine Hochleistungspumpe ist, die einem Blutdruck von über 120 Millimeter Quecksilbersäule widerstehen muss. Ein solcher Druck würde das zart-weiche Reparaturgewebe sofort auseinanderreissen. Um einen allfälligen Schaden im Muskel möglichst rasch einzugrenzen, muss das menschliche Herz deshalb Narben bilden. Doch bei den Fischen genügt ein Druck von 2.5 Millimeter Quecksilber, um das Blut durch den kleinen und horizontal angeordneten Körper zu pumpen. «Die Zebrabärblinge haben keine Veranlagung zur Narbenbildung», sagt Jazwinska. So heilen die Schäden an ihren Herzen innerhalb von vier Wochen vollständig aus.

Ob eine Verletzung komplett ausheilt oder ob sie stattdessen vernarbt, hängt nicht nur vom Blutdruck, sondern unter anderem auch davon ab, welche Eiweiss- oder Kollagenfasern im Wundverschluss zu finden sind. Während Säugetierzellen vor allem das Kollagen 1 ausscheiden, nutzen Zebra­bärblinge in erster Linie das Kollagen 12, erklärt Jazwinska. Die beiden Versionen gehören zur gleichen Eiweissfamilie und sind zwar eng miteinander verwandt, doch die feinen strukturellen Unterschiede in den Fasern beeinflussen das Verhalten der Zellen in ihrer Umgebung: Während das Kollagen 1 zur raschen Bildung eines reissfesten Pfropfens beiträgt, sorgt das Kollagen 12 für ein Gerüst, an dem sich die Zellen entlanghangeln können, um in etwas mehr Zeit einen voll funktionstüchtigen Ersatz herzustellen.

Wie das Team um Jazwinska herausgefunden hat, können die Heilungsprozesse am Herzen mit bestimmten Chemikalien wie etwa Vitamin D angekurbelt und mit anderen Substanzen, wie etwa dem Stresshormon Cortisol, abgebremst werden. In der Tat verlangsamt sich der Neubau des Herzmuskels wenn die Fischchen sozial gestresst sind. «Für einen Versuch haben wir mehrere Fische jeweils für eine Stunde pro Tag in ein kleines Becken getan. Das genügte, um die Regeneration des Herzens zu hemmen», sagt die Entwicklungsbiologin.

Erstaunlicherweise wirkte sich der Dichtestress der Zebrabärblinge nur auf die Heilungsprozesse im Herzen aus. Auf die Bildung einer neuen Schwanzflosse hatte das jeweils einstündige Gedränge im Wasserbecken allerdings keinen Einfluss, obwohl die beiden Reparaturprozesse zumindest auf molekularer Ebene auf sehr ähnlichen Mechanismen beruhen. Dass die Heilung des Herzens und die Heilung der Wunde am Schwanz offensichtlich unterschiedlich auf sozialen Stress reagieren, zeigt für Jazwinska jedenfalls: «Es gibt nicht nur schwarz und weiss. Die Regeneration ist ein wundersamer, hochkomplexer und sehr empfindlicher Vorgang.»

Unsere Expertin Anna Jazwinska ist Professorin am Departement für Biologie der Universität Freiburg.
anna.jazwinska@unifr.ch