Dossier

Kaufen auf Pump

In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Kauf auf Raten auf. Matthias Ruoss zeigt in seiner Habilitation auf, was diese neue Kreditform für Folgen hatte. Namentlich für proletarische Frauen waren sie einschneidend.

Im Februar 1883 erhielt die Zürcherin Alwina Schütz Besuch von Jacob Kubli, einem Vertreter der Nähmaschinenfirma Singer. Er bot ihr eine Nähmaschine für 165 Franken an. 21 Franken wären sofort zu zahlen, der Rest in monatlichen Raten von 12 Franken. Alwina Schütz unterschrieb den Kaufvertrag. Hätte sie sofort den ganzen Preis zahlen müssen, wäre das Geschäft nicht zustande gekommen. Der Schreinerlohn ihres Mannes reichte dafür nicht, schliesslich mussten damit auch die Miete bestritten und zwei kleine Kinder aufgezogen werden.

Der Vorgang mag aus heutiger Sicht wenig spektakulär erscheinen. Kaufen auf Pump ist gang und gäbe. Für die damalige Zeit aber war es etwas Neuartiges. Man kannte zwar das Anschreiben im Laden, was auch eine Art Warenkredit ist. Der funktionierte jedoch anders. Die Kundinnen holten im Laden, was sie brauchten, und bezahlten, wenn sie flüssig waren. Der Ladenbesitzer kannte seine Kundinnen und liess jene anschreiben, denen er vertraute. Geldkredite wurden armen Schluckern, wie der Familie Schütz, gar nicht erst gewährt. Die Gläubiger liehen nur Personen Geld aus, die Boden oder Immobilien als Sicherheit besassen. Alwina Schütz hatte weder das eine noch das andere.

Den Ratenkredit gewährte man ihr aus einem anderen Grund: Sie konnte arbeiten. Das unternehmerische Kalkül war, dass sie mit der Nähmaschine nicht nur Kleider für sich und ihre Familie nähte, sondern auch Heimarbeit verrichtete. Mit dem, was sie dabei verdiente, sollten die Raten abgestottert werden. «Mich hat interessiert, warum die Unternehmen mit dem neuen Kreditformat vor allem verheiratete Frauen aus Unterklassen ansprachen», sagt Ruoss. Waren sie vertrauenswürdiger? Der Hauptgrund war ein anderer: Die Ehemänner gingen in der Regel einer Lohnarbeit nach und waren damit weitgehend ausgelastet. Bei verheirateten Frauen lag hingegen noch Arbeitskraft brach. Mit dem Abzahlungsgeschäft stand ein Druckmittel zur Verfügung, um diese zu erschliessen. Ihre Arbeit wurde wie die ihrer Ehemänner zu einer Ware oder «kommodifiziert», wie der sozialwissenschaftliche Begriff dazu heisst. Die Güter, die am häufigsten über Warenkredite verkauft wurden, waren denn auch solche, mit denen sich Geld verdienen liess. Neben Nähmaschinen waren das Möbel. Mit Betten, Tischen und Stühlen wurden sogenannte «Chambres garnies» eingerichtet, die untervermietet wurden.

Unsicher und doch rentabel

«Es hat mich überrascht, wie stark die Kredite auf Arbeit und Arbeitskraft vertrauen», sagt Ruoss. Denn diese Grundlage war sehr unsicher. Setzte etwa eine Krise der ohnehin wenig stabilen Bekleidungsindustrie zu, bekamen Heimarbeiterinnen keine Aufträge mehr und konnten die Raten nicht mehr bezahlen. «Laut den zeitgenössischen Stimmen waren die Kreditausfälle massiv», sagt Ruoss. «Doch für Singer, die Millionen von Nähmaschinen auf Abzahlung verkaufte und vor dem Ersten Weltkrieg zu einem der grössten Unternehmen weltweit aufstieg, zahlte sich das Geschäft aus.» Auch deshalb, weil das Unternehmen die Nähmaschine zurückholen konnte, wenn eine Rate nicht bezahlt wurde. Im Vertrag wurde festgehalten, dass der Kreditgeber bis zur letzten Rate Eigentümer der Sache blieb. Bei Zahlungsverzug konnte er sie zurückfordern. Das erfuhr auch Alwina Schütz. Ein halbes Jahr nach dem Kauf der Nähmaschine musste sie vor Gericht erscheinen, weil sie Raten nicht bezahlt hatte. Die Singer Company verlangte ihr Eigentum zurück. Wie im Gerichtsprotokoll zu lesen ist, hatte Alwina Schütz dagegen nichts einzuwenden. Sie fand es jedoch ungerecht, dass sie ihre Anzahlung von 21 Franken nicht zurückbekam. Umso mehr als ihr Jacob Kubli versprochen habe, ihr Arbeit zu verschaffen, was nicht geschehen sei. Der Richter hatte für diesen Einwand jedoch kein Gehör.

Der Gerichtsfall zeigt, dass sich neben Kreditgebenden und -nehmenden noch weitere Akteure mit den Abzahlungsgeschäften beschäftigten. Polizei, Verwaltung und Justiz etwa sorgten dafür, dass die Kreditgeber zu ihrem Recht kamen. «Der Staat schützte allerdings nicht nur die Gläubiger, sondern auch die Schuldner», betont Ruoss. Die Eingriffe der öffentlichen Hand berücksichtigten verschiedene Interessen und waren vielschichtig. So verboten die Gesetzgeber in allen deutschsprachigen Ländern die sogenannte Verwirkungsklausel, die besagte, dass der Kreditgeber nicht nur sein Eigentum zurückbekam, sondern auch alle bereits bezahlten Raten behalten durfte. «Der Staat schaltet sich als Moderator – man könnte auch sagen: als Vertrauensvermittler – in das Kreditverhältnis ein.»

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Disziplinierungsvehikel

In ähnlicher Weise wirkten philanthropische Organisationen wie die in der Schweiz verbreiteten gemeinnützigen Gesellschaften. Sie positionierten sich als Intermediäre zwischen den Kreditnehmenden und den Fabrikanten. Entweder in dem sie fällige Raten übernahmen oder indem sie selbst Maschinen kauften und den armen Haushalten in die Stube stellten. Verbunden jeweils mit viel moralischer Anleitung: Die Empfängerinnen und Empfänger ihrer Hilfe sollten sich ans Arbeiten gewöhnen, ein Haushaltsbudget führen, nicht herumlungern. «Die philanthropischen Organisationen haben dabei geholfen, dass Produktionsmittel aus den Fabrikhallen in die Arbeiterhaushalte gelangten, damit sich die Familien aus eigener Kraft aus dem Schlamassel arbeiten können.»

Für Frauen waren Ratenkredite ambivalent. Einerseits brachte es ihnen mehr Spielraum. Verheirateten Frauen war es im 19. Jahrhundert eigentlich verboten, Verträge abzuschliessen, es galt das System der Geschlechtsvormundschaft. Streng genommen, war es nicht möglich, dass Frauen an der Haustüre eine Nähmaschine oder ein Möbel kaufen konnten. Also behalf man sich mit einem Trick und dehnte den schwammigen Rechtsbegriff der Schlüsselgewalt. Er besagt, dass die Ehefrau Geschäfte ohne ihren Ehemann abschliessen darf, wenn dies für die Haushaltsführung notwendig ist. Dazu zählte man nun auch das Abzahlungsgeschäft, jedenfalls wenn es Dinge betraf, die sich auch als Produktionsmittel eigneten. «Das war ein Fortschritt, auch wenn die Frauenbewegungen weit mehr gefordert haben», sagt Ruoss. «Die Privilegien des Hausherrn sind damit eingeschränkt worden.»

Pikant an der Neuerung war, dass trotzdem der Ehemann für die Schulden haftete. «Das hat gelegentlich zu Konflikten geführt», erzählt Ruoss. Das wurde unter anderem in Tausenden Zeitungsinseraten von verärgerten Ehemännern sichtbar. Sie alle hatten ungefähr den gleichen Wortlaut, wie jenes des Wiener Steindruckers Josef Moses, das 1870 im Neuen Wiener Tagblatt erschienen ist: «Ich warne hiermit Jedermann, meiner Frau Geld oder Waare zu borgen, da ich keinen Kreuzer bezahle. Dies Jedermann zur Richtschnur.» Auf eine vertrauensvolle Paarbeziehung lässt das nicht schliessen.

Doppelbelastung

Der Zorn der Männer darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass an der patriarchalen Hierarchie innerhalb der Familie nicht gerüttelt wurde. So gaben die Gesetzgeber den Ehemännern das Recht, ihren Gattinnen die Schlüsselgewalt zu entziehen. Und: Mit der Flexibilisierung der Schlüsselgewalt wurde auch der rechtliche Grundstein für die geschlechtsspezifische häusliche Arbeitsteilung gelegt. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch bringt es 1912 auf den Punkt: «Die Frau führt den Haushalt.» Gerade weil sie weiterhin die ganze Care Arbeit machen musste, stand sie der Wirtschaft als billige Arbeitskraft zu Verfügung.

Die Frage, ob der Ratenkredit für Arbeiterhaushalte und namentlich die Frauen etwas Gutes oder etwas Schlechtes war, lasse sich nur in Einzelfall beantworten, sagt Ruoss. «Das wussten auch zeitgenössische Beobachtende. Die einen sagten, es empowert, die anderen sagten, es mache abhängig. Als Kapitalismushistoriker interessiert mich aber vor allem die Tatsache, dass Ratenkredite die Arbeitskraft von proletarischen Frauen aktivierten. Wohlstand und Überschuldung sind beides mögliche Effekte produktiver Verschuldung.» 

Auch wenn ihr weiteres Schicksal nicht bekannt ist, dürfte die Familie von Alwina Schütz zu denen gehört haben, die durch Kredite erst recht in Schwierigkeiten gerieten.

Unser Experte Matthias Ruoss ist Historiker und lehrt und forscht am Departement für Zeitgeschichte und am Interdisziplinären Institut für Ethik und Menschenrechte der Universität Freiburg. 2022 schloss er sein Habilitationsprojekt «Auf Pump. Ratenkredite im industriellen Kapitalismus 1860–1910» ab. Das Buch erscheint diesen Herbst beim Wallstein Verlag. Neben der Geschichte des Kapitalismus gehören die Geschlechtergeschichte der Arbeit und die Geschichte der Armut und der sozialen Arbeit zu seinen Schwerpunkten.
matthias.ruoss@unifr.ch