Dossier

Überlebenskampf einer Demokratie

Im Februar 2024 erklärte der Oberste Gerichtshof Indiens Wahl­anleihen für verfassungswidrig. Electoral bonds sind eine Form der politischen Finanzierung und im Grunde nichts anderes als legalisierte Korruption. Welche Auswirkungen hat diese Entscheidung des Supreme Court of India? Wird sie zur Wiederherstellung des Vertrauens in die indische Demokratie führen?

Im Superwahljahr 2024 wählen 64 Länder, also rund 45 Prozent der Weltbevölkerung, ihre neuen Volksvertreter_innen. Leider hat laut V-Dem Index seit 2009 der Anteil der Weltbevölkerung, der in autokratisch regierten Ländern lebt, den Anteil der Bevölkerung in demokratisch regierten Ländern überholt. Indien – mit seinen 1.4 Milliarden Einwohner_innen sicherlich die grösste Demokratie der Welt – ist eines dieser Länder. Während in der Vergangenheit regelmässige Wahlen und friedliche Machtübergaben nie in Frage gestellt wurden, ist in Indien ein demokratischer Rückschritt zu beobachten, der mehr und mehr in einer sogenannten Wahlautokratie (electoral autocracy) mündet.

Der Supreme Court

Der Supreme Court: Kritische Stimmen halten ihn für überlastet, intransparent, unzugänglich und ausweichend. Für seine Bewunderer_innen ist er das «mächtigste Gericht», das sich immer wieder gegen die Exekutive durchgesetzt hat, in einer Vielzahl sozialer, ökologischer und politischer Fragen unabhängig agiert und seine Türen für die Armen und Unterdrückten durch das einzigartige System der «Public Interest Litigation» (Prozessführung im öffentlichen Interesse) geöffnet hat, bei dem schon ein kurzer Brief an das Gericht oder ein Zeitungsartikel dazu führen kann, dass das Gericht suo moto tätig wird. In den letzten zehn Jahren, d.h. in den zwei Amtszeiten der von Narendra Modi geführten Regierung, hat der Supreme Court eine zwiespältige Position eingenommen und es oft versäumt, der Rolle als counter-majoritarian institution gerecht zu werden. Doch nur wenige Wochen vor den gegenwärtigen nationalen Wahlen hat der Supreme Court nun ein Urteil zu den sogenannten electoral bonds gefällt. Ein Urteil, das weitreichende Folgen für die indische Demo­kratie haben könnte.

Anfang und Ende der Electoral Bonds

Das Electoral Bonds Scheme (EBS) ist ein System zur anonymen finanziellen Unterstützung politischer Parteien. Es wurde von der Regierung Modi initiiert, 2017 vom Parlament verabschiedet und im Jahr 2018 umgesetzt. Das EBS beinhaltet die Ausgabe von «Wahlanleihen» durch die Reserve Bank of India (die indische Nationalbank), die von Einzelpersonen oder Unternehmen erworben und innerhalb eines bestimmten Zeitraums von einer politischen Partei eingelöst werden können. Die Umsetzung des Programms erfolgte über die State Bank of India (SBI), einer staatlichen Geschäftsbank, die vollständig von der indischen Regierung kontrolliert wird. Ziel der Gesetzgebung war die Aufhebung bestehender gesetzlicher Beschränkungen für finanzielle Zuwendungen von Unternehmen und Offenlegungspflichten für politische Parteien sowie die Einführung vollständiger Anonymität für Spender. Während des Gesetzgebungsverfahrens sprachen sich mehrere Institutionen, darunter die Election Commission of India (das für die Durchführung von Wahlen zuständige Verfassungsorgan) und die Reserve Bank of India, erfolglos gegen das Gesetz aus.

Mehrere Organisationen, darunter die Association for Democratic Reforms, die Communist Party of India und andere, wandten sich an das Supreme Court, um das Gesetz für verfassungswidrig erklären zu lassen. In einem sehr gut begründeten Urteil erklärte das Gericht – nach fast sechs Jahren – das EBS für verfassungswidrig, da es gegen den Grundsatz freier und fairer Wahlen und das Gleichbehandlungsgebot verstosse, indem es unbegrenzte Spenden von Unternehmen an politische Parteien zulasse. Es stellte ausserdem fest, dass EBS das Recht der Stimmberechtigten auf eine informierte Entscheidung verletzt und damit gegen das Recht auf freie Meinungsäusserung und Informationsfreiheit verstösst. Die verfassungsrechtliche Bedeutung des Urteils liegt darin, dass es die Rolle des Geldes bei Wahlentscheidungen und die damit verbundenen negativen Folgen für den demokratischen Prozess aufzeigt. Das Gericht ordnete ausserdem die sofortige Einstellung der Ausgabe der Anleihen an und forderte die SBI auf, der ECI die Einzelheiten zu jeder Wahlanleihe, einschliesslich Namen des Käufers, des Einlösungsdatums und des Nennwerts der Wahlanleihe sowie die Namen der politischen Parteien offen zu legen. Alle diese Informationen mussten bis zum 6. März 2024 an die ECI übermittelt werden, die ihrerseits die Informationen bis zum 13. März 2024 auf ihrer Website veröffentlichen musste. 

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Kräftemessen zwischen Exekutive und Judikative

Nun könnte man meinen, dass das Problem damit gelöst ist und das Supreme Court ein Urteil gefällt hat, an das sich die Organe zu halten haben. Dem war aber nicht so. In einem Tauziehen zwischen den Staatsgewalten versuchte die Exekutive, sich der Verfügung des Supreme Court mit der Behauptung zu widersetzen, die Informationen könnten nicht innerhalb der kurzen Frist beschafft werden und ersuchte den Gerichtshof, die Frist um einige Monate zu verlängern. Im Übrigen stünden die Wahlen 2024 vor der Tür, so dass die Informationen erst nach den Wahlen zur Verfügung gestellt werden könnten! Es folgten weitere Anhörungen, bis die SBI schliesslich am 21. März 2024 die Informationen über die gekauften und eingelösten Wahlanleihen vorlegte. Dabei versäumte sie es jedoch, die Angaben der politischen Parteien mit denen der Unternehmen abzugleichen, so dass unklar blieb, welche Unternehmen welche Beträge an welche politischen Parteien gezahlt hatten. Inzwischen haben die meisten politischen Parteien, die Wahlanleihen angenommen haben, die Informationen selbst veröffentlicht, nur die Bharatiya Janata Party (BJP, die Regierungspartei), der grösste Empfänger von Geldern, hat diese Informationen nicht publiziert. Investigativjournalist_innen haben in der zwischenzeit ihre Arbeit getan und den korrupten Charakter des Systems aufgedeckt. Insgesamt wurden Wahlanleihen im Wert von 160 Mrd. Rupien (1,9 Mrd. USD) gekauft, von denen 57 Prozent an die BJP gingen. Die Unternehmen haben sich nicht nur bereitwillig an dem System beteiligt, um an Regierungsaufträge und Ähnliches zu gelangen (der vom Gericht verwendete Begriff ist «quid pro quo»), sondern die ganze Geschichte hat auch deutlich gemacht, wie Bundesbehörden (wie das Central Bureau of Investigation, das Enforcement Directorate usw.) als Instrumente eingesetzt wurden, um Unternehmen einzuschüchtern, damit sie Wahlanleihen für die Regierungspartei kaufen. Je nach Verhalten der Unternehmen wurden Anklagen wegen Geldwäscherei, Steuerhinterziehung usw. erhoben oder fallen gelassen. 

Ein erster Schritt in Richtung Vertrauen

Indiens staatlichen Institutionen werden zunehmend unter Druck gesetzt und vor allem zur Stärkung der regierenden politischen Partei genutzt. In keinem anderen Staat wurden bisher kurz vor den nationalen Wahlen zwei amtierende Ministerpräsidenten inhaftiert, die Bankkonten der grössten Oppositionspartei eingefroren und hunderte Abgeordnete aus dem Parlament geworfen. Zu Beginn dieses Artikels wurde die Frage aufgeworfen, ob dieses Urteil das Vertrauen in Demokratie wiederherstellen wird. Diese Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits schafft dieses verfassungsrechtlich bedeutsame Urteil Vertrauen in juristischen Kreisen, in der Wissenschaft und in weiten Teilen der Bevölkerung, andererseits hätte sich der Gerichtshof schon vor den Wahlen 2019 mit dem Fall befassen und einstweilige Verfügungen zur Aussetzung der EBS erlassen können, um nicht vollendete Tatsachen zu schaffen. Vor dem Supreme Court sind mehrere Fälle hängig, die mit dem Wahlprozess und insbesondere mit den aktuellen Wahlen zu tun haben, aber hier verhält sich der Supreme Court zurückhaltend und scheint nicht gewillt zu sein, einen Missbrauch durch die Regierungspartei zu verhindern, was einige dazu veranlasst hat, dem Supreme Court Justizflucht (judicial evasion) vorzuwerfen. Das Urteil zeigt, dass der Supreme Court zwar nach wie vor unabhängig agiert, aber im gegenwärtigen Klima des demokratischen Rückschritts muss er die Rolle übernehmen, die er in den 1980er und 1990er Jahren innehatte: Die Grundrechte verteidigen und als counter-majoritarian institution agieren.

Unsere Expertin Rekha Oleschak-Pillai ist Senior Research Fellow am Institut für Föderalismus. Die promovierte Juristin forscht und lehrt zu Verfassungsrecht, Föderalismus und Völkerrecht.
rekha.oleschak@unifr.ch