Dossier

Vertrauen im Fluss der Feder

In ihren Reflexionen entwirren die Expert_innen Julia Straub und Kilian Schindler die Fäden von Identität und Vertrauen in der Literatur. Ihre Analysen regen zum Nachdenken über die Strukturen unserer Gesellschaft an.

Worüber forschen Sie beide?

Julia Straub: Ich arbeite zu den Themen Genre-Bildungen in der Gegenwartsliteratur und Mutterschaft. Dabei untersuche ich, wie Mutterschaft in verschiedenen literarischen Genres des 21. Jahrhunderts erfahren und erlebbar gemacht wird. Zusätzlich habe ich mich immer wieder mit dem Thema Vertrauen beschäftigt, intensiv zum autobiografischen Schreiben geforscht und einen Sammelband zum Thema Authentizität herausgegeben.

Die Mutterfigur weckt ein gewisses Urvertrauen, das dann aber auch massiv verletzt werden kann. Gretchen in Goethes Faust etwa tötet ihr Kind. 

Julia Straub: Das ist eine archetypische Vorstellung von Mutterschaft. In den Texten, die ich analysiere, dekonstruieren die Schriftstellerinnen die Erfahrungen der Mutterschaft sowie das Mutterrollenbild. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie Rabenmütter sind, aber die Diskussion um regretting motherhood besteht. Es ist bereits ein Vertrauensbruch, wenn eine Mutter sagt: «Ich bedauere, dass ich Mutter bin.» Dies kann als Schmähung des eigenen Kindes betrachtet werden, auch wenn es das eigentlich gar nicht ist. Es ist die Erfahrung oder die soziale Institution der Mutterschaft, die persönlich als Belastung oder Verlust empfunden wird. In Hybrid-Romanen, die life writing mit Fiktion vermischen, wird diese Mutterschaftserfahrung tendenziell kritisch beleuchtet. Dadurch wird das ungebrochene Vertrauen in die Mutter neu bewertet.
Kilian Schindler: Aktuell beschäftige ich mich mit der Frage der Verstellung. Inwiefern kann man dem Gegenüber vertrauen? Ob die andere Person wirklich ist, wer sie vorzugeben scheint. Konkret interessiert mich das vor allem im Kontext des Reformationszeitalters, in der Erfahrung von Verfolgung: religiöser, teilweise politischer Verfolgung und der Frage, wie darauf reagiert wird. Es gibt zum Beispiel das Märtyrertum, die Emigration, oder die Möglichkeit, dass die eigenen von einer Mehrheitsgesellschaft, einer kirchlichen oder staatlichen Autorität als häretisch betrachteten Ansichten einfach verborgen werden: Nach aussen hin zeigt man sich konform mit der vorgegebenen Glaubensrichtung, doch innerlich befindet man sich im Exil. Inwiefern kann man also dem Gegenüber eigentlich vertrauen, dass er_sie ein_e gute_r Christ_in ist?

Und das wird als Nikodemismus bezeichnet? 

Kilian Schindler: Genau!

Sie sind auch Experte für Shakespeare. Wie lassen sich die Themen wie Vertrauen und Misstrauen hier zusammenbringen?

Kilian Schindler: Eine wichtige Entwicklung der frühen Neuzeit ist die Vorstellung von Politik als Performance, wofür Machiavelli steht. Die Vorstellung des Images eines Herrschers ist bei Machiavelli zentral. Es geht darum, ob es notwendig sei, die traditionellen fürstlichen Tugenden tatsächlich zu besitzen oder nicht. Hier ist Machiavelli revolutionär: Sein und Schein sind nicht das Gleiche. Es reicht also, wenn ein_e Fürst_in tugendhaft, mild und gerecht erscheint, ohne es sein zu müssen. Es entsteht ein wachsendes Bewusstsein dafür, wie wichtig Propaganda oder Imagepflege für einen erfolgreichen politischen Stil sind. Bezogen auf Shakespeare gibt es den offensichtlichen Vergleich zwischen dem Medium des Theaters, das auf Verstellung beruht, und der Politik als Theater. Metaphern, die Politik als Theater betrachten, sind bei Shakespeare und seinen Zeitgenossen häufig zu sehen. Ein Paradebeispiel wäre Richard III. in der gleichnamigen Tragödie Shakespeares. Es ist eine Reflexion darüber, wie Theatralität nicht nur eine Praxis auf der Bühne ist, sondern auch in einem weiteren Rahmen existiert, sei es in der Politik oder im Falle religiöser Minderheiten, die ihren Glauben verbergen müssen, um der Verfolgung zu entgehen. In dieser Zeit besteht ein grosses Bewusstsein dafür, dass das Vertrauen in die Identität der anderen, dass diese wirklich sind, wer sie vorgeben zu sein, grundsätzlich erschüttert ist. Dies hat paranoide Tendenzen zur Folge, wie die rechtshistorische Zunahme der Folter im englischen Kontext des 16. Jahrhunderts zeigt, wo mit Gewalt versucht wird, das Innere, das im Gegensatz zum Schein steht, zum Vorschein zu bringen. Der Begriff des self-fashioning, ein bekannter Begriff in der Literaturwissenschaft, bezeichnet auch diese dunkle Seite: die Angst davor, dass den Autoritäten und den religiösen Minderheiten politisch umstürzlerische Fantasien nachgesagt werden und dass ihnen nicht zu trauen ist.

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Sie haben vorhin noch das Märtyrertum genannt. Was hat es damit auf sich? 

Kilian Schindler: Das Märtyrertum ist gewissermassen der Gipfel der Authentizität. Indem sich der Märtyrer oder die Märtyrerin kompromisslos in seiner oder ihrer religiösen Identität offenbart, steht er_sie im Gegensatz zum Nikodemismus. Allerdings ist das Märtyrertum auch Gegenstand polemischer Verzerrungen. In konfessionellen Propagandaschriften stellt sich beispielsweise oft die Frage, ob ein_e Märtyrer_in wirklich für Gott und die eigenen Überzeugungen stirbt oder für den eigenen Ruhm und weil er_sie ein_e politische_r Umstürzler_in ist.

Da wir über erkenntnistheoretische Vertrauenskrisen sprechen: Was ist mit Sherlock Holmes?

Julia Straub: Das Gegenteil von Vertrauen ist Misstrauen oder ein Mangel an Vertrauen in irgendeiner Form, wie etwa Unsicherheit, Skeptizismus, Zweifel oder auch ein affektives Unbehagen. Im Kontext des 19. Jahrhunderts findet eine Erschütterung der menschlichen Selbstauffassung statt. Verschiedene Einflüsse aus der Biologie, der Evolutionstheorie, den Religionswissenschaften mit neuen biblischen Lesarten sowie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte generell kommen zusammen. Die Wissenschaften werden allmählich als Disziplinen konsolidiert, die an Universitäten unterrichtet werden. Wissenschaft ist immer weniger nur ein Privileg der aristokratischen Upper Class, sondern wird mit der Zeit zunehmend auch für Individuen aus breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich. Jemand wie Sherlock Holmes glaubt und vertraut nicht mehr unmittelbar, sondern setzt auf empirisches, forensisches Denken und rationale Erklärungen anhand von Spuren. Ich benutze Sherlock Holmes gerne als Beispiel für die Studierenden, um zu zeigen, wie ein investigativer Zugang zur Welt und zum Weltverständnis sogar in der Populärkultur aufkommt.
Kilian Schindler: Das Aufkommen der Detective Fiction ist auch eine Reaktion auf die Anonymität der Grossstadt, die im 19. Jahrhundert entsteht. Man weiss nicht mehr, wer der eigene Nachbar eigentlich ist. Ich denke, dass die Digitalisierung  verschiedener Lebensbereiche, etwa das Online-Dating, diesen Effekt zusätzlich verstärkt. Eine spontane These wäre, dass wir uns wieder in einem Anonymisierungsschub befinden, der eine gewisse Nostalgie hervorruft, etwa in Form von Sehnsucht nach dem Viktorianischen Zeitalter, etwa nach Steampunk, um das Bedürfnis, das Gegenüber zu identifizieren, zu befriedigen.

Warum ist es Leser_innen so wichtig, die Identität hinter einem Werk zu kennen, etwa beim autobiografischen Schreiben oder im Fall von Elena Ferrante?

Julia Straub: Das autobiografische Schreiben ist mittlerweile ein weites Feld. Es gibt deutlich mehr Formen als nur die klassische Autobiografie oder die Memoiren, zum Beispiel Mischformen wie das beliebte autobiografische Essay. Im Rahmen der Postmoderne wurde das Genre teilweise sehr experimentell angegangen. Bestimmte poststrukturalistische Ansätze stellen die Sinnhaftigkeit des Erzählens infrage. Beim autobiografischen Schreiben soll sich die Leserschaft jedoch darauf verlassen können, dass das schreibende Subjekt auch Gegenstand des Werks ist und keine Fiktion. Es besteht eine Art impliziter Vertrag zwischen Leser_innen und Schriftsteller_innen. Leser_innen nehmen es Autor_innen übel, wenn sich herausstellt, dass autobiografische Werke, die bestimmte Leidenserfahrun­gen schildern, gefälscht sind. Hier wird das Grundvertrauen missbraucht.
Elena Ferrante ist das Pseudonym einer italienischen Schriftstellerin. In den letzten 20 Jahren hat sie mehrere Romane geschrieben, die international sehr erfolgreich waren. Man findet jedoch keine Fotos von ihr und nur wenige Indizien zu ihrer Person. Ihre Identität ist fast genauso wichtig wie die eigentlichen Werke: Wer versteckt sich dahinter? Ist sie in Wirklichkeit ein Mann? Wo wohnt sie und wie alt ist sie? Diese ganzen Identitätsmarker fehlen. Im heutigen Diskurs, in dem Autor_innen so sichtbar sind, zum Beispiel auf YouTube-Kanälen oder in Instagram Stories, ist dieser globale Ruhm schwer mit dieser Gesichtslosigkeit in Einklang zu bringen.
Kilian Schindler: Das sind Entwicklungen, die sich verändern. Vor 10 bis 20 Jahren war in den Einführungsseminaren der Literaturwissenschaft das Wort «Autor» tabu; es war ein schmutziges Wort, das nicht verwendet werden durfte. Heute gibt es eine neue Tendenz, die die Positionalität eines Autors bzw. einer Autorin stärker gewichtet. Zum Beispiel gibt es ein Bewusstsein dafür, worüber ein weis­ser Mann schreiben kann, respektive «darf». Es wird anerkannt, dass es einen Unterschied macht, wer einen Text geschrieben hat, und dass die Perspektive oder Position eines Autors oder einer Autorin nicht leicht vom Werk zu trennen ist. Entsprechend wird ein gewisses Vertrauen oder ein Anspruch auf Authentizität gefordert, besonders wenn es um Erfahrungen von Leid oder Diskriminierung geht.

Wie erfolgreich wäre «Blutbuch» geworden ohne eine non-binäre Person, die über Non-Binarität schreibt? 

Kilian Schindler: Es stellt sich auch die Frage: Wäre das Werk auch so geschrieben worden, wenn der biografische Hintergrund nicht existieren würde? Ich denke, wir können nicht abschliessend beurteilen, wohin diese Entwicklung führt, besonders im Hinblick auf neue Language Learning Models und Künstliche Intelligenz. 

K. J. Rowling generiert öfter negative Schlagzeilen wegen ihrer transphober Äusserungen. Die Beliebtheit von Harry Potter scheint bisher aber nicht darunter gelitten zu haben. Warum?

Julia Straub: In diesem Fall ist die Literatur stark in eine Fankultur eingebettet. Es gibt nur wenige andere Autor_innen, die mit ihren Werken ähnliches erreicht haben. Eine partizipative Fan-Kultur hat sich um Harry Potter gebildet, die sich über die Jahre mithilfe unterschiedlicher Medien organisiert hat. Henry Jenkins bezeichnet das Phänomen als convergence culture. Wenn Romane ähnlich wie Harry Potter veröffentlicht werden, sind sie von Anfang an nicht ausschliesslich literarisch. Durch ihre Einstufung als Kinderliteratur und Young Adult Fiction verschiebt eine solche Kultur sicherlich auch den Anspruch der Mitwirkung sowie die Wahrnehmung der Fans, die sich dazu berechtigt fühlen, mitzureden.
Kilian Schindler: Hier wird von Anfang an auf Mitwirkung gesetzt, etwa in der Form der stark interaktiven «Pottermore» Website sind Leser_innen aktiv in der literarischen Kreation. Dadurch entsteht eine intensive Bindung an das literarische Werk.

Letzte Frage: Inwiefern tragen Science-Fiction und dystopisches Schreiben dazu bei, das Verständnis von epistemischem Vertrauen in alternativen Realitäten zu formen?

Julia Straub: Dystopische Texte zeichnen immer negative Entwicklungen auf, und das spiegelt sicherlich eine spezielle Verantwortung wider, insbesondere gegenüber jüngeren Menschen. Schulbuchverlage beispielsweise achten darauf, dass  in der Darstellung zukünftiger Welten auch positive Stimmen und Perspektiven vertreten sind. Speculative fiction ist ein umfassender Begriff, der auch Genres wie Cyberpunk und Solarpunk umfasst, letzteres mit einem positiveren Ansatz. Ebenfalls zu erwähnen ist die alternative Geschichtserzählung. Es gibt verschiedene Ansätze, um zu erklären, warum dieses Genre so beliebt ist und uns fasziniert. Ich denke, vieles davon hat damit zu tun, dass im Kontext gegenwärtiger Krisenerfahrungen die Möglichkeit besteht, einen Testraum zu schaffen, in dem spekuliert und sich mit eigenen Ängsten, Schreckensszenarien, Unsicherheiten und Vertrauensverlust auseinandergesetzt werden kann. Trotzdem bleibt es ein sicherer Raum, weil er ja nicht real ist.
Kilian Schindler: Der Aufschwung der dystopischen Fiktion ist meiner Meinung nach eng mit der technologischen Beschleunigung des 20. Jahrhunderts und den damit verbundenen politischen Entwicklungen verknüpft. Diese Entwicklung ist eine Reaktion auf den Vertrauensverlust und die zunehmende Unsicherheit darüber, wie sich die Zukunft gestalten wird. Sie bietet uns einen imaginären Rahmen, um Optionen zu durchdenken, wie wir die Zukunft gestalten möchten.

Unsere Expertin Julia Straub ist ordentliche Professorin für moderne englische Literatur am Departement für Englisch. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit umfasst die englische Literatur von etwa 1800 bis zur Gegenwart. Besonders interessiert sie sich für die Verbindungen zwischen Literatur- und Mediengeschichte, Intermedialität, kulturelles Gedächtnis, Kanonbildung sowie die Formen und Funktionen des Melodramas.
julia.straub@unifr.ch

Unser Experte Kilian Schindler lehrt und forscht im Bereich der frühneuzeitlichen Literatur, mit besonderem Schwerpunkt auf dem Drama von Shakespeare und seinen Zeitgenossen. Seine Forschungsinteressen umfassen historische Ansätze zu religiösen und politischen Konflikten in der Literatur, wie etwa Fragen der religiösen Toleranz und des frühneuzeit­lichen Konstitutionalismus.
kilian.schindler@unifr.ch