Dossier
Weil ich es mir wert bin
Esma Isis-Arnautovic trägt den Hidschab, das Kopftuch der Muslima. Für «universitas» lüftet die Islamwissenschafterin den Schleier und erlaubt einen Einblick in ihre Geschichte und
ihren Alltag.
Weshalb tragen Sie das Kopftuch?
Esma Isis-Arnautovic: Es gibt verschiedene Gründe, warum eine Muslimin ein Kopftuch trägt. Für mich persönlich waren biographische und religiöse Argumente zentral. Meine Familie ist aufgrund des Bosnienkrieges in die Schweiz geflüchtet. Angesichts der Zerstörung und der Verluste fanden wir Halt im Glauben. Diese Frömmigkeit war dann auch ausschlaggebend. Hinzu kamen die Überzeugung, dass das Kopftuch meine Persönlichkeit positiv beeinflussen würde, und der Wunsch, nach meinen Kompetenzen und nicht nach meinem Aussehen beurteilt zu werden. Das Kopftuch vereint mittlerweile zwei Komponenten in sich, die Gegenwart und Zukunft. Denn einerseits hat es mich zu der Person gemacht, die ich heute bin, andererseits leitet es mich als eine Art Wegweiser in jene Richtung, in die ich mich entwickeln möchte.
Der Entscheid, den Hidschab zu tragen, lag also alleine bei Ihnen, ohne jeglichen Druck von aussen?
Genau. Ich habe mir diesen Schritt selber überlegt. Aber natürlich gab es auch Gespräche in der Familie. Der Entscheid, das Kopftuch zu tragen, war ein Prozess und fiel nicht von heute auf morgen. In einer Testphase bin ich ab und zu mit dem Kopftuch einkaufen gegangen, um zu sehen, wie ich mich darin fühle und wie das Umfeld darauf reagiert. Mit meiner Familie hab ich kaum Pro- und Kontra-Argumente diskutiert. Natürlich haben wir über mögliche Hindernisse gesprochen, aber sie haben mich weder darin bestärkt, noch mir davon abgeraten.
Wie war die Reaktion der Familie ob Ihrem Entscheid, das Kopftuch schliesslich zu tragen?
Religiosität wird innerhalb meiner Familie stets individuell gelebt, so dass wir Familienmitglieder mit und ohne Kopftuch haben. Da das Thema zuhause auch schon diskutiert wurde, kam es für sie nicht überraschend. Meine Verwandtschaft hat diesen Prozess natürlich nicht miterlebt und fand es mutig. Ich war mit 13 Jahren noch ziemlich jung. Gesellschaftlich war das Thema weniger aufgeladen. Das Kopftuch wurde eher mit Interesse als mit Ablehnung quittiert. Ich war am Gymnasium lange die Einzige mit Kopfbedeckung.
Erinnern Sie sich an den ersten Schultag mit Kopftuch?
Ich habe mich für das Kopftuch bewusst beim Wechsel ins Gymnasium entschieden. So kannten mich nur zwei Schulkameraden aus der Primarschulzeit ohne Kopftuch. Alle anderen kannten mich fortan nur mit Kopftuch. Ich blicke positiv auf die Zeit im Gymnasium zurück und hatte immer das Gefühl, voll dazu zu gehören.
Inwiefern hat das Kopftuch Ihren Charakter mitgeformt?
Das Kopftuch hat mich in den wichtigen Phasen der Pubertät begleitet und mitgeprägt. Meine Stärken wurden stärker, etwa die Kommunikation. Ich muss mehr auf die Leute zugehen, Berührungsängste überwinden.
Was sagt der Koran zum Kopftuch?
Muslimische Theologen haben hauptsächlich aus den Koranstellen 24:31, 33:53 und 33:59 ein Kopftuchgebot abgeleitet. Sie stützten dies durch Prophetenüberlieferungen ab, welche die damalige Praxis der Frauen des Propheten dokumentieren. Ein klassisches Argument war hierbei, dass das Kopftuch dem Schutz der Frau – insbesondere vor fremden Männerblicken – diene. Innerhalb der westlichen Islamwissenschaften wurde die Eindeutigkeit dieser Stellen in Frage gestellt, sodass sie daraus schlussfolgerten, dass ein Gebot nicht explizit im Koran zu finden sei. Zwischen diesen beiden Polen gibt es zahlreiche Zwischenpositionen.
Wie gehen Sie mit solchen islamwissenschaftlichen Deutungen um?
Solche Deutungen haben ihre Berechtigung und sind wichtige Impulse für meine eigene Reflexion. Nun ist es aber sehr wichtig, diese islam- und religionswissenschaftlichen Aussenperspektiven nicht als absolute Norm, als Soll-Zustand, zu setzen, sondern Muslimen ein Anrecht auf die Deutung ihrer eigenen Offenbarung zuzugestehen. Die Debatte darf nicht auf die Frage verengt werden, ob es nun Pflicht sei oder nicht. Sonst werden Musliminnen in ein Spannungsfeld gedrängt, in dem sie entweder einer Bevormundung oder einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sind. Die Argumente der betroffenen Frauen müssen hier im Fokus stehen. Für diese spielt oftmals die Gesamtbotschaft des Korans eine wichtigere Rolle als einzelne Verse.
Fühlen Sie sich Gott gegenüber verpflichtet?
Man könnte es als freiwillige, moralische Verpflichtung bezeichnen, die ich eingehe. Es bringt eine selbstgewählte Frömmigkeit zum Ausdruck, die mich in eine aktive Beziehung zu Gott setzt. Dies greift viel weiter als das klassische Schutzargument, welches eine passive Rolle darstellt und die Trägerin in erster Linie in einer Relation zu ihren Mitmenschen beschreibt.
Weshalb sollte Gott wollen, dass Sie das Kopftuch tragen?
Was Gott will, lässt sich nur über die Interpretation der Quellen erschliessen. Diese Interpretationen bleiben aber stets menschlich. Mir ist bewusst, dass die Sachlage in den Quellen nicht so klar ist und es verschiedene Interpretationen dazu gibt. Da es sich jedoch um meine Beziehung zu Gott handelt, möchte ich auch selbst bestimmen, wie ich diese gestalte. Das Kopftuch übernimmt für mich auch eine charakterbildende Funktion und es ist meiner Ansicht nach durchaus ein Anliegen Gottes, dass sich der Mensch weiterentwickelt.
Wie beeinflusst das Kopftuch Ihr Handeln im Alltag?
Mit Kopftuch ist die Präsenz Gottes ein ständiger Begleiter im Alltag. So überlege ich mir doppelt, ob ich etwas mache oder unterlasse. Hier kommt in der Tat der Schutz ins Spiel, jedoch nicht vor Männern, sondern vor mir selbst. Es hilft mir dabei, mich nicht zu spontanen Aktionen hinreissen zu lassen, die ich später womöglich bereuen würde.
Was heisst das konkret?
Nehmen wir das Gymnasium. Für mich war klar, dass ich das Kantonsschulfest besuche, jedoch anschliessend nicht in die Disco mitgehe oder Alkohol konsumiere. Als auf der Studienreise in Barcelona alle im Meer baden gingen, habe ich vom Strand aus zugesehen. Mag sein, dass ich es einen Moment lang bedauert habe, nicht mitmachen zu können. Aber letztendlich ist mir mein Glaube wichtiger als ein kurzfristiges Vergnügen. Das Kopftuch dient mir als Erinnerung, meine langfristigen Ziele im Blick zu behalten.
Sind Kopftuchträgerinnen die besseren Muslimas?
Ein solches Werturteil obliegt mir nicht. Ich gehe davon aus, dass Gott in unsere Herzen sieht und sich nicht von Äusserlichkeiten täuschen lässt. Es gibt Frauen, die tragen Kopftuch, beten aber selten. Umgekehrt gibt es solche, die beten und in die Moschee gehen, aber kein Kopftuch tragen. Wenn sich eine Muslimin, insbesondere in einer nicht-muslimischen Umgebung gegen das Kopftuch entscheidet, habe ich volles Verständnis dafür. Wenn eine Frau in der Schweiz, in Europa oder Amerika Kopftuch trägt, ist dies mit ungleich grösseren Hindernissen verbunden, als wenn sie dies in Ägypten tut.
Haben Sie auch schon Kritik erfahren von muslimischer Seite?
Von «modernen» Muslimas? Kritik nicht direkt. Es gab Diskussion darüber, ob man denn nicht nur mit dem Herzen glauben könne, ohne dies körperlich auszudrücken. Ich finde es wichtig, dass in dieser Sache keine Werturteile gefällt und keine Normen gesetzt werden, sondern sich jede Frau selbst für oder gegen ein Kopftuch entscheiden kann, ohne jeweils von der anderen Seite Vorwürfe hören zu müssen. Und: Bin ich denn nicht modern?
Offenbar gibt es aber gerade in Bosnien auch die Ansicht, dass das Tragen des Kopftuchs «nicht modern» ist, ein Rückschritt sozusagen.
Einmal sagte eine bosnische Bekannte zu meiner Mutter: «Warum hast du deiner Tochter das Kopftuch angezogen?». Worauf meine Mutter erwiderte, dass ich das Kopftuch sehr wohl selber angezogen hätte. Die Bekanntewar der Ansicht, dass eine Muslima mit Kopftuch keinen Erfolg haben werde und keinen Mann finden würde. Bosnien ist sehr plural. In Sarajevo begegnet man sowohl Frauen mit Kopftuch als auch in Hotpants. Ich komme aus einem ländlichen Gebiet, wo die Moscheen eher leer sind, da wird das Kopftuch auch mal zum Diskussionsgegenstand. Aber ich muss mich in der Schweiz und in Bosnien nicht für dieselben Dinge rechtfertigen. In Bosnien fragt mich niemand, ob ich jetzt Bosnierin und Muslima sein könne. In der Schweiz wird vielfach in Frage gestellt, ob ich gleichzeitig Schweizerin und Muslimin sein könne. Meiner Ansicht nach ist das eine meine Nationalität, das andere meine Religion. Darin sehe ich keinen Widerspruch.
Tragen Sie das Kopftuch in Bosnien entspannter?
Möglich. Das ist schwer zu vergleichen, weil es sich um unterschiedliche Kontexte handelt. Die Schweiz stellt meinen Lebensmittelpunkt dar, Bosnien hingegen ist für mich ein Ferienland. Natürlich trifft es mich mehr, wenn mir die Menschen in der Schweiz, die ich als meine Heimat sehe, mit Kritik begegnen.
Verstehen Sie die Kritik am Kopftuch?
Ich kann gewisse Argumente verstehen, beispielsweise dass es auf gewisse Leute wie ein mutwilliger Ausschluss wirkt. Das Kopftuch kann ein Integrationshindernis sein, muss aber nicht. Das hängt auch immer am Individuum und wie stark es sich auf die Gesellschaft zubewegt. Auch wenn ich die üblichen Kriterien für die Integration wie Sprachkompetenzen, soziale und berufliche Integration, Befolgung der Gesetze und ähnliches gänzlich erfülle, bin ich für gewisse Kreise erst integriert, wenn ich das Kopftuch ausziehe.
Werden Sie manchmal gebeten, das Kopftuch fallen zu lassen?
Man kann zwischen zwei Gruppen unterscheiden. Einerseits jene, die findet, ein Kopftuch sei nicht notwendig und ich solle es ausziehen. Andererseits gibt es aber auch Menschen, die mir mit ehrlichem Interesse begegnen und einfach neugierig sind, wie ich denn ohne Kopftuch aussehe. Ich bin dann auch schon mit Kolleginnen kurzerhand in die Toilette verschwunden, um ihnen meine Haare zu zeigen. Das ist verständlich, ich bin auch immer wieder neugierig, wie Frauen ohne Kopftuch aussehen.
Wie wichtig sind Mode und Aussehen?
Ich habe eine Entwicklung durchgemacht mit dem Kopftuch. Am Anfang trug ich immer schwarze Kopftücher, bis ich gemerkt habe, dass ich dafür zu blass bin. Danach habe ich mit verschiedenen Stoffen, Farben und Bindevarianten experimentiert. Heute wähle ich nach Tageslaune. Aber mir ist klar, dass man mich auch nach meiner Kleidung wertet. Entsprechend kleide ich mich sorgfältig. Ich glaube mein Stil ist eine Mischung aus West und Ost (Esma Isis-Arnautovic trägt beim Gespräch ein Kopftuch mit Burberry-Muster).
Sehen Sie sich als Vorbild, als Modell für andere Frauen, die sich in Bezug auf das Kopftuch unsicher sind?
Ich will niemanden dazu animieren, dass Kopftuch zu tragen. Aber ich bestärke die Frauen darin, selber zu reflektieren, weshalb sie es tragen. Gerade in der Schweiz muss dieser Entscheid oft begründet werden. Es ist wichtig, seine ganz persönlichen Gründe dafür zu finden und sich nicht einer fremden Argumentation zu beugen. Das Kopftuch trägt sich leichter, wenn man bis ins Innerste davon überzeugt ist.
Haben Sie das Tragen des Kopftuchs jemals in Frage gestellt?
Islamwissenschaftliche Positionen haben mich natürlich zum Hinterfragen herausgefordert. Traditionelle Begründungen wie etwa das Schutzargument befand ich als unbefriedigend, sie halfen mir im hiesigen Kontext nur bedingt weiter. Denn eigentlich hatte ich mich nie speziell belästigt gefühlt. Paradoxerweise wurde ich hier mit Kopftuch gerade von Seiten muslimischer Männer viel eher als potentielle Heiratskandidatin angesehen. Durch eine intensive Reflektion habe ich neue theologische Argumente entdeckt, die für mich viel tragfähiger sind.
Könnten Sie sich vorstellen, es eines Tages abzulegen?
Eigentlich nicht. Es ist mittlerweile ein Teil meiner Identität. Es aufzugeben, würde sich so anfühlen, als ob ich mich selber verraten würde.
Wer darf Sie ohne Kopftuch sehen?
Bezüglich Frauen gibt es keine Einschränkungen. Was Männer anbelangt, zeige ich mich nur innerhalb meiner Familie, das heisst vor meinem Bruder, Vater und Mann ohne Kopftuch.
Wir sprechen immer nur vom Kopftuch. Welche anderen Bekleidungspraktiken des Islam respektieren Sie?
Die Kleidung sollte bis zu den Hand- und Fussgelenken reichen, nicht durchsichtig und nicht zu eng sein. Die Umsetzung braucht manchmal etwas Fantasie. Knielange Kleider kombiniere ich gerne mit Hosen, im Sommer kombiniere ich auch mal lange Röcke mit kurzen Blusen.
Wo gehen Sie zum Coiffeur?
Früher kamen Bekannte und Freundinnen, die eine Coiffeurlehre absolviert haben, zu mir nach Hause, um mir die Haare zu schneiden. Mittlerweile gibt es in Bern einen kleinen Coiffeur-Salon, der von einer Albanerin geführt wird. Sie geht auf spezielle Wünsche ein und schliesst dann die Tür und die Fensterläden. Irgendwie findet man immer Mittel und Wege, um sich im Alltag mit Kopftuch zurechtzufinden.
Esma Isis-Arnautovic wurde 1988 in Bosnien geboren. Als Kriegsflüchtling kam sie 1993 mit ihren Eltern und drei Geschwistern in die Schweiz, wo sie im Kanton Glarus die Primarschule und das Gymnasium besuchte. Sie hat in Bern Islamwissenschaften und in Freiburg Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert. Aktuell arbeitet sie als Diplomassistentin am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg und schreibt ihre Doktorarbeit zur koranischen Bestimmung des Menschen.
Literatur
›Esma Isis-Arnautovic, «Das Kopftuch – Persönliche Erfahrungen als Grundlage für theologische Begründungen?» in: SGMOIK (Hrsg.): Körper / Le corps,
Bulletin 40 (2015), S. 31–33. Online Download unter:
www.sagw.ch/de/sgmoik/publikationen/bulletins.html