Dossier
Wieviel Stoff ist erlaubt?
Welche Gesetze gelten rund um die religiöse Verhüllung? Eine Professorin für Migrationsrecht und ein Professor für Rechtsgeschichte diskutieren über Erlaubtes und Verbotenes, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges.
«Juristisch gesehen sind das eher einfache Fragen», sagt Sarah Progin-Theuerkauf. Gemäss der Professorin für Europa- und Migrationsrecht interessiert es den Staat zunächst einmal überhaupt nicht, was jemand anzieht. Jeder trägt, was er will und bei religiöser Kleidung gilt das Prinzip der Religionsfreiheit. Erst wenn zwei Rechtsprinzipien miteinander kollidieren, müssen die Richter entscheiden, welches höher zu gewichten ist. Zum Beispiel in der Schule.
Es besteht nämlich ein öffentliches Interesse, dass staatliche Schulen religiös neutral sind. Richterinnen und Gesetzgeber finden das wichtiger, als das persönliche Interesse einer Lehrerin, die ihren Glauben über die Kleidung ausdrücken möchte. Die Folge: Kopftücher sind für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen tabu. Auch eine Nonne darf keines tragen. Es sei denn, sie tut es im Religionsunterricht oder an einer katholischen Privatschule. Bei Schülerinnen sind die Regeln anders: Sie repräsentieren weder die Schule, noch stören sie im Allgemeinen mit Kopftüchern den Unterricht. Also dürfen sie sich verhüllen.
Baden im Burkini
Und im Schwimmunterricht? Auch dort gilt: Die Mädchen dürfen ihren Glauben ausdrücken, indem sie beispielsweise einen Burkini tragen. Die aktive Religionsfreiheit ist also gewährleistet. «Die passive Religionsfreiheit hingegen wird deutlich weniger stark gewichtet», erklärt Progin-Theuerkauf. «Muslimische Mädchen werden nicht davor geschützt, anderen religiösen Auffassungen (und somit kleinen Jungs in Badehosen) ausgesetzt zu sein. Viel wichtiger ist den Schulbehörden, den Gesetzgeberinnen, den Richtern und der überwältigenden Mehrheit der Muslime im Land, dass die Mädchen in der Klassengemeinschaft schwimmen lernen und sich gut integrieren.»
A propos Schwimmen: Was passiert eigentlich, wenn man im Taucheranzug über die Piazza Grande in Locarno spaziert? «Da verstossen Sie gegen das Tessiner Gesetz», sagt René Pahud de Mortanges, Professor für Rechtsgeschichte und Kirchenrecht. Denn das sogenannte Tessiner Burka-Verbot ist genau genommen kein Burka- sondern ein allgemeines Verhüllungsverbot. «Würde nur die Burka verboten, wäre das diskriminierend und verstiesse gegen die Verfassung. Wenn aber ein Staat findet, es gebe ein öffentliches Interesse daran, dass man die Gesichter der Menschen erkennen kann, dann kann er entsprechende Kleidervorschriften machen.» Das aktuelle Gesetz sieht Bussen von 100 bis 10’000 Franken vor und wurde politisch intensiv diskutiert. Juristisch hingegen warf es kaum Wellen. Schon Frankreich hat ein allgemeines Verhüllungsverbot – und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dieses abgesegnet.
Während in früheren Jahrhunderten oft explizit definiert wurde, welche Gruppe mit welchem Gesetz gemeint war, sind die Texte heute (mit Ausnahme des Minarettverbots) zumindest oberflächlich neutral gehalten. So stehen in den Gesetzbüchern heute keine Burka- sondern Verhüllungsverbote. Und das Schächtverbot, mit welchem die Schweizer Stimmbürger 1893 das jüdische und muslimische Schlachtritual untersagten, wurde in den 1970er-Jahren in einen Tierschutzartikel umgewandelt.
Früher war nicht alles besser
Das Wohl der Tiere, die Neutralität der Schule, die öffentliche Sicherheit, oder dass Kinder gegenüber ihren Kameraden nicht benachteiligt werden sollen: Die Religionsfreiheit wird aus ganz unterschiedlichen Gründen beschnitten. «Im Grossen und Ganzen sind die Gesetze hierzulande aber ziemlich liberal», findet Professorin Progin-Theuerkauf. Und was Kleidervorschriften angeht, haben wir schon ganz andere Zeiten gesehen. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es diesbezüglich detaillierte Bestimmungen. Je nach Stand, Beruf oder Religion waren gewisse Kleidungsstücke verboten – oder man war gezwungen ein besonderes Erkennungsmerkmal zu tragen. Solche Vorgaben sind inzwischen zum Glück unvorstellbar geworden.
Der Blick in die Geschichte hilft aber auch zu verstehen, warum wir so heftig auf die offen zur Schau getragene religiöse Kleidung reagieren. Die Schweiz hat als konfessionell gespaltenes Land lange Zeit unter religiösen Spannungen gelitten. Noch im 19. Jahrhundert gab es den Kulturkampf zwischen protestantisch-liberalen und katholisch-konservativen Kräften. Und 1847 sogar einen Bürgerkrieg. Die Katholiken unterlagen und die Sieger schrieben dann in der Verfassung von 1848 verschiedene einseitige Bestimmungen fest. Etwa das Verbot, Klöster zu gründen oder die Verbannung des Jesuitenordens (ein allerletzter antikatholischer Verfassungsartikel wurde gar erst 2001 gestrichen).
«Für religiöse Alltagsfragen hat der Bund damals eine recht einfache Lösung gefunden», so Pahud de Mortanges. «Er hat sie an die Kantone delegiert.» Katholische und protestantische Gebiete konnten so ihre jeweils eigenen Bestimmungen erlassen. Mit der Zeit verlor das Thema an Gewicht und in der breiten Öffentlichkeit kam man stillschweigend überein, dass Religion Privatsache ist. Diese gesellschaftliche Konvention bringen nun die kopftuchtragenden Musliminnen durcheinander, indem sie ihre religiösen Überzeugungen sichtbar in die Öffentlichkeit tragen. Das sorgt bei manchen für Irritation. Kommt hinzu, dass sich die Schweiz noch immer nicht als Einwanderungsland versteht, obwohl sie es faktisch seit 70 Jahren ist. «Letztlich geht es bei den Kopftuchdebatten auch um die Frage, wieviel Vielfalt die Schweiz erträgt», meint Progin-Theuerkauf und fügt an: «Im Alltag lösen sich viele Fragen von selbst. Wenn es zum Beispiel am Arbeitsplatz Spannungen ob des Kopftuches gibt, finden die Betroffenen oft selbst eine Lösung, ohne dass es dafür den Richter oder sogar ein Gesetz braucht.»
Eine Frage der Zeit?
Darf der Arbeitgeber bestimmen, was seine Angestellten anziehen? «In gewissen Fällen schon. Etwa, wenn es um die Sicherheit oder die Hygiene geht. In den meisten Berufen kann er das Tragen eines Kopftuchs aber nicht verbieten. Aber es steht ihm natürlich frei, eine unverhüllte Bewerberin bei der Einstellung vorzuziehen.» Diskriminierung?! «Natürlich. Aber sie ist schwer nachweisbar und daher kann das Gesetz nur wenig machen. Mit Diskriminierungen haben Sie unter Umständen auch zu tun, wenn Sie -ic heissen, im Rollstuhl sitzen oder eine andere Hautfarbe haben. »
Religionsrechtler Pahud de Mortanges kommt gerade von einem Unterrichtsaufenthalt in London zurück. «Dort werden Sie in den Einkaufsläden oft von Frauen mit Kopftuch bedient. Anfangs ist das vielleicht etwas ungewohnt, aber bald fällt es einem kaum mehr auf.» Vermutlich wird man sich auch in der Schweiz sukzessive an kopftuchtragende Frauen im Strassenbild gewöhnen. «Und hoffentlich wird sich auch in der Schweiz ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass man das Tragen eines Kopftuches nicht mit mangelnder Integration gleichsetzen kann.»
Burka weiterhin aktuell
Schwieriger als mit dem Kopftuch ist die Integration hingegen sicherlich mit der Burka. Ob diese nach dem Tessin auch in der übrigen Schweiz verboten werden soll, wird aktuell diskutiert. Einen entsprechenden Vorstoss hat der Nationalrat im letzten Herbst knapp gutgeheissen. Der Ständerat dürfte aber demnächst sein Veto einlegen; jedenfalls hat die vorberatende Kommission das Anliegen mit sieben zu zwei Stimmen verworfen. Das letzte Wort dürften aber ohnehin die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben: Für ein Burka-Verbot werden aktuell nämlich Unterschriften gesammelt. Voraussichtlich 2018 soll die Frage an die Urne kommen.
Anm. d. Red: Kurz vor Redaktionsschluss entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass ein Arbeitgeber das Tragen eines Kopftuchs verbieten kann, sofern eine unternehmens-interne Regel vorliegt, die das Tragen religiöser oder politischer Zeichen verbietet. Gemäss Rechtsprofessorin Progin-Theuerkauf wird damit grösstenteils die bereits bestehende nationale Rechtssprechung bestätigt.
René Pahud de Mortanges ist seit 1994 Professor für Rechtsgeschichte und Kirchenrecht an der Universität Freiburg. Er ist Direktor des Instituts für Rechtsgeschichte und beschäftigt sich unter anderem mit aktuellen Fragen zum Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften.
rene.pahuddemortanges@unifr.ch
Sarah Progin-Theuerkauf hat in Bonn und Freiburg studiert und ist nach Forschungsaufenthalten und juristischen Praktika in Los Angeles, Genf, Düsseldorf und Potsdam seit 2009 Professorin für Europarecht und Migrationsrecht und seit 2011 Co-Direktorin des Zentrums für Migrationsrecht.