Interview
«Wir wissen nicht, was wir tun»
Alle Gegenmassnahmen nützen nichts: Tiere und Pflanzen werden immer schneller über die ganze Welt verschleppt. Zu diesem Schluss kommt eine Zusammenarbeit von 45 Forschenden rund um den Globus. Im Gespräch mit Sven Bacher, Professor für Biologie und Mit-Autor der Studie.
Heute wird durchschnittlich alle 16 Stunden irgendwo auf unserem Planeten eine weitere gebietsfremde Art entdeckt. Ihr Kommentar?
Sven Bacher: Ich bin beunruhigt. Die Entwicklung geht rasend schnell – zu schnell, als dass wir die Veränderungen auf Mensch und Umwelt wirklich verstehen können. Denn einige der verschleppten Arten entpuppen sich als Schädlinge. Sie beeinträchtigen die Landwirtschaft, sie machen Menschen krank und sie verändern die Ökosysteme so, dass heimische Arten verdrängt werden.
Der Hauptgrund dürfte die Globalisierung sein.
Ja. Waren kommen aus allen Kontinenten; die Menschen reisen immer häufiger. Pflanzen werden in erster Linie über den Gartenhandel eingeschleppt, Wirbeltiere über den Zootierhandel. Dazu kommen Bestellungen über das Internet. Privatpersonen kaufen sich irgendwelche exotische Tiere: Fische, Amphibien, Schlangen… was auch immer.
Führt die Verschleppung zu einer weltweiten Homogenisierung der Arten?
Mit Sicherheit. Ein simples Beispiel: Wenn ich in Sidney aus dem Flugzeug steige, höre ich Amseln singen. Auch im Central Park in New York, ebenso in Nordafrika und Teilen Asiens – obwohl die Amsel aus Europa stammt. Die Vögel wurden ausgesetzt.
Das geschah bewusst?
Im Falle der Amsel ja. Viele Arten werden aber versehentlich transportiert. Vor allem solche, die gut mit den heutigen Verkehrsmitteln klarkommen. Muscheln haften an Schiffsrümpfen, Insekten reisen in Flugzeugen, Pflanzensamen kleben an Schuhsohlen. Die Verbreitung gebietsfremder Arten hat zur Folge, dass sich die Artengemeinschaften weltweit immer ähnlicher werden.
Die Verschleppung verharrt auf sehr hohem Niveau. Muss es nicht irgendwann zu einer Trendwende kommen?
Theoretisch ja. Aber wann, kann ich nicht sagen. Ich kann es nicht einmal abschätzen.
Quintessenz dieses Trends ist eine Zunahme der Artenvielfalt in den neuen Verbreitungsgebieten. Ist das nicht sinnvoll, wenn wir gleichzeitig so viele Arten ausrotten?
Es ist richtig, dass die Artenzahl regional zunimmt. Das ist auch einer der Hauptgründe, weshalb die Problematik der Artenverschleppung nicht wirklich wahrgenommen wird. Denn mehr Arten bedeuten eine grössere Biodiversität. Das ist jedoch nur auf den ersten Blick erfreulich. Eingeschleppte Arten passen häufig nicht zur ursprünglichen Fauna und Flora, sie können so bestehende Lebensgemeinschaften nachhaltig stören. Als langfristige Folge nimmt die Biodiversität wieder ab.
Wirtschaftlich erfolgreiche Länder – wie die Schweiz – sind besonders von gebietsfremden Arten betroffen.
Das hängt mit dem Handelsvolumen zusammen. Wohlhabende Länder sind global besser vernetzt, weshalb mehr gebietsfremde Pflanzen und Tiere importiert werden. Zudem verfügt unser Land über sehr viele unterschiedliche Habitatstypen. Das macht es neuen Arten einfach, einen passenden Lebensraum zu finden. Eingeführt wurden ausserdem auch fast alle Pflanzen, die in unserem Land wirtschaftlich genutzt werden, etwa Mais, Kartoffeln und Weizen, aber auch der Apfel.
Der Apfel?
Ohne Import hätte sich Wilhelm Tell für seinen Schuss also eine andere Frucht aussuchen müssen. Was hätte ihm denn an einheimischen Gewächsen dienen können? Nicht viel. Eine Haselnuss etwa, oder eine Karotte.
Wann hat sich erstmals gezeigt, dass eingeschleppte Arten Schäden hervorrufen können?
An der Wende zum 20. Jahrhundert. Damals gelangten im Verlaufe der Kolonialisierung und Industrialisierung fremde Arten auf andere Kontinente, wo sie sich ungehindert verbreiten konnten. Beispiel Feigenkaktus: In Australien und Südafrika als lebender Weidezaun eingesetzt, hat sich die Pflanze nicht an den ihr zugedachten Lebensraum gehalten. Sie begann grosse Flächen zu überwachsen, so dass keine Viehwirtschaft mehr möglich war. Das war einer der Auslöser, um die Einschleppung gebietsfremder Arten kritisch zu hinterfragen. Australien und Amerika erliessen als erste entsprechende Regelungen.
Seit diesen ersten Massnahmen sind über 100 Jahre vergangen, doch die Artenverschleppung hält ungehindert an. Mit anderen Worten: Alle Bestrebungen haben bislang nichts gefruchtet.
Ich würde es anders formulieren. Die erarbeiteten Massnahmen sind nicht wirkungslos, aber sie sind mit Sicherheit nicht effektiv genug. Entsprechend gelingt es trotz aller Gesetze und internationaler Abkommen nicht, die Artenverschleppung einzudämmen. Nur in Neuseeland zeigt sich eine Trendwende. Dank dem anfangs der Neunzigerjahre eingeführten Biosecurity Act ist es gelungen, die Einfuhr gebietsfremder Pflanzen drastisch zu senken. Nebenbemerkung: Das ändert aber nichts daran, dass in Neuseeland – als Folge der Verschleppung – mittlerweile mehr fremde als einheimische Pflanzenarten leben.
Was macht Neuseeland anders?
Neuseeland hat eine Weisse Liste erstellt, das heisst, es dürfen nur Arten eingeführt werden, die nachweislich unschädlich sind. Alle anderen Länder setzen auf eine Schwarze Liste. Diese umfasst nur ausdrücklich unerwünschte Arten – entsprechend grösser ist der Spielraum. Die EU zum Beispiel hat vor zwei Jahren die Einführung einer Schwarzen Liste vorgeschlagen, darauf sind 37 unerwünschte Arten verzeichnet. Die Schweiz wird sich diesem Vorgehen anschliessen.
Nur 37 Arten. Ist das der richtige Weg?
Das ist Ansichtssache. Wir leben in einem Spannungsfeld: Die eine Seite möchte die Verschleppung von Arten einschränken; die Anhänger der freien Marktwirtschaft wünschen dagegen möglichst wenig Restriktionen. Tatsächlich bringt uns der globale Handel Wohlstand, das ist erfreulich, doch wir müssen auch an den Schutz der Ökosysteme und unsere Gesundheit denken. Hier gilt es einen Kompromiss zu finden.
Weshalb folgt Europa nicht Neuseeland und setzt auf eine Weisse Liste?
Bei uns haben gebietsfremde Arten noch keine wirklich grossen Unfälle verursacht. Solange nichts passiert und keine Kosten entstehen, ist die Bereitschaft zur Einschränkung gering. Niemand macht freiwillig Abstriche an der Lebensqualität.
Wir müssen also zuerst ins Verderben laufen, bevor wir handeln?
Tja. Diese Erfahrung haben wir – in anderen Zusammenhängen – schon öfters gemacht. Einmal mehr wissen wir nicht, was wir tun.
Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, um eine Trendwende herbeizuführen?
Meine persönliche Meinung steht nicht zur Diskussion. Ich bin Wissenschaftler und sehe meine Aufgabe darin, auf Entwicklungen hinzuweisen und damit zu verhindern, dass wir die Augen schliessen. Nur so viel: Um eine Lösung zu finden, müssten sich alle interessierten Parteien an einen Tisch setzen.
Manchmal genügt aber die Themenwahl einer wissenschaftlichen Arbeit, um eine Meinung kundzutun. In einer früheren Arbeit zeigen Sie, dass Länder mit eher grosszügigen Grenzkontrollen mehr unter eingeführten Schädlingen leiden als andere. Das schweizerische Bundesamt für Landwirtschaft versuchte die Publikation Ihrer Erkenntnisse zu verhindern.
Ja. In Bern war man nicht besonders glücklich darüber. Die Mitarbeiter des Amts zweifelten auch an der Richtigkeit der Resultate, aber ohne die Kritik wirklich zu begründen. Man wollte die Studie unter den Tisch wischen.
Weshalb?
Weil in unserem Land bereits einige bedrohliche Schädlinge heimisch geworden sind? Edelkastaniengallwespe, Roter Amerikanischer Sumpfkrebs, Schwarzmeergrundeln, Asiatischer Laubholzbockkäfer, Varroa-Milbe, Bärenklau, Goldrute, Beifuss-Ambrosie… Wir müssten uns also mehr engagieren, oder nicht? Die Schweiz könnte sich mehr engagieren, richtig, aber das gilt für die meisten anderen Länder ebenso. Zudem schützen auch die strengsten Reglemente nicht hundertprozentig. Man muss abwägen, wie viel Aufwand man betreiben will.
Wie geht es weiter?
Eines der wichtigsten Instrumente zur Verhinderung künftiger Schäden ist die Früherkennung. Welche gebietsfremden Arten bedrohen uns in Zukunft? Mit welchen Schäden müssen wir rechnen? Das versuchen wir auf Basis von Handelsdaten, Transportwegen, Klimaveränderungen und möglicher Wirtspflanzen vorauszusagen. Wir erarbeiten für jedes einzelne Land in Europa eine Liste mit den wahrscheinlichsten Neuankömmlingen.
Welche Arten sind das für die Schweiz?
Wir haben bis jetzt nur die Gruppe der Insekten angeschaut. In erster Linie sind es Fruchtfliegen; sie bedrohen den Obstanbau. Zudem könnte sich eine Art von Weisser Fliege breitmachen, die Tabak-Mottenschildlaus. Diese kann sich von nahezu allen Gemüsepflanzen ernähren und macht weltweit grosse Probleme. Bisher hat sie sich aber noch nicht angesiedelt. Gleich-zeitig müssen wir auch mit invasiven Arten rechnen, die bis heute auf keiner Liste stehen. Sie können plötzlich und ohne jede Vorwarnung eintreffen. Vergessen wir nicht: Weltweit gibt es rund zehn Millionen Arten.
Da könnte uns also noch einiges bevorstehen.
Absolut.
Sven Bacher ist Ökologe. Er hat in Kiel studiert, in Zürich promoviert und dann in Bern eine Oberassistenz gehabt. Seit 2007 leitet er am Departement für Biologie eine Forschungsgruppe zu Themen der angewandten Ökologie. Er berät unter anderem die Europäische Kommission und das deutsche Bundesamt für Naturschutz zu Fragen über gebietsfremde Arten. Seine Spezialgebiete sind biologische Invasionen, Agrarökologie und Naturschutz.