Forschung & Lehre

Die Quadratur der Vielfalt

Die Frage ist so banal, dass sie permanent auftaucht, aber kaum explizit gestellt wird: Wie leben wir eigentlich zusammen? Wie oft kann einer im Fussballtraining fehlen, bevor er aus dem Club fliegt? Wie laut darf der Teenager in seinem Zimmer Musik hören und wie wird das entschieden? Wie sehr müssen die Stärkeren den Schwächeren helfen? Oder allgemeiner: Wie gehen wir damit um, dass wir verschieden sind und unterschiedliche Werte und Bedürfnisse haben? 

Die kleinen Alltagsfragen stellen sich auch auf viel grösserer, politischer Ebene. Hier beschäftigt sich Eva Maria Belser mit dem Spannungsfeld zwischen Einheit und Vielfalt. Die Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht ist gemeinsam mit Prof. Bernhard Waldmann Co-Leiterin des Instituts für Föderalismus. In ihrem Büro hängen Landkarten von Sri Lanka und Dankesschreiben aus dem Südsudan. Belser ist beseelt von der Leidenschaft für ihre Forschung. Und sie ist ansteckend. «Föderalismus liegt weltweit im Trend», kon-statiert die Professorin. Denn zum einen verlieren die Nationalstaaten im Zug der Globalisierung an Macht – und zwar sowohl an suprastaatliche Organisationen, wie auch an ihre Gliedstaaten. Zum andern verlaufen heutige Konflikte nur noch selten entlang staatlicher Grenz-linien. Viel öfter geht es um Selbstbestimmungsrechte, Sezessionsbewegungen, Rohstoffe oder Fragen lokaler Identität. «Wenn es darum geht, wie sich all diese Konflikte lösen lassen, wird Föderalismus automatisch zum Thema.»

 

Der Föderalismus wird in der Schweiz zwar gerne belächelt. Er gilt als schwerfällig, kleingeistig und angestaubt. International jedoch ist er ein Star. Wie sollen die Ethnien Sri Lankas künftig zusammenleben? Wie gehen die Philippinen mit ihren Minderheiten um? Und nach welchem Schlüssel soll Italien seine Steuereinnahmen verteilen? Überall stellen sich Fragen nach Einheit und Vielfalt. Fragen nach der Quadratur des Kreises. Es mag bessere und schlechtere Antworten geben, aber keine «richtigen». Das macht den Föderalismus so vielfältig und Belsers Forschung so interessant. «In Nepal beispielsweise wurden ganz neue Ideen diskutiert, wie Bevölkerungsgruppen, die nirgendwo eine Mehrheit stellen, zu Parlamentssitzen kommen können. In Indien wiederum, wo es reservierte Sitze für Minderheiten gibt, kann das Parlament die Grenzen zwischen den Regionen verschieben, wenn sprachliche Gruppen ein starkes Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung geltend machen. Und in den USA führt Trumps Politik zu einem stärkeren Selbstbewusstsein der Gliedstaaten. Kalifornien sagt sich: Wenn Washington die UNO-Frauenrechtskonvention nicht ratifiziert, dann tun wir es eben selbst.»

 

Video: Lisa Arnold

Nicht mit derselben Elle messen

Sudan, Venezuela, Irak, Brasilien, Bangladesch, Nigeria und die Jurafrage: Wer mit Belser spricht, braucht einen leichtfüssigen Geist – und gute Geographiekenntnisse. «Was wir immer öfter beobachten, ist asymmetrischer Föderalismus. Während in der Schweiz alle Kantone dieselben Rechte haben, macht in Spanien jede Region einzeln mit Madrid aus, was sie selbst tut und was in der Hauptstadt entschieden wird. Oder im Irak: Dort sind die Kurden sehr an Föderalismus interessiert, die Schiiten hingegen kaum, seit sie das Bewusstsein entwickelt haben, in der Mehrheit zu sein. Und die Sunniten haben erst spät bemerkt, dass Machtteilung auch in ihrem Interesse liegen könnte.» Das Resultat kann massgeschneidert ausfallen – solange die Zentralgewalt die Regionen nicht gegeneinander ausspielt. «Russland ist nur noch dem Namen nach eine Föderation. De facto liegt alle Macht in Moskau. Umgekehrt hat Paris inzwischen viele Kompetenzen an die Regionen delegiert. Da stimmt unsere Vorstellung vom zentralistischen Frankreich heute nicht mehr.»

 

Zentralismus in dem Sinn, dass es nur ein Machtzentrum gibt, in dem alle Fäden zusammenlaufen, gibt es eigentlich ohnehin nicht mehr, glaubt Belser. Sogar in China ist klar, dass ländliche Gegenden anders regiert werden müssen, als die boomenden Städte an der Küste. Deshalb führt die kommunistische Regierung auf kleiner Stufe sogar Experimente mit demokratisch gewählten Behörden durch. Beraten lässt sie sich dabei unter anderem am Institut für Föderalismus der Universität Freiburg. «Die Schweiz ist klein, diskret und unser Föderalismus und auch unsere Demokratie haben einen hervorragenden Ruf.»

 

Warum ver(schlimm-)bessern?

Wie geht’s ihm denn, dem Schweizer Föderalismus? Die Kantonsgrenzen repräsentieren doch längst nicht mehr die Lebensrealität der Menschen? «Nein», meint Belser «aber auch unser Föderalismus entwickelt sich weiter. Heute gibt es immer mehr überregionale Zusammenarbeit und das ist vermutlich sogar besser, als Kantone zu fusionieren. So kann man flexibel dort zusammenarbeiten, wo es wirklich etwas bringt. Und es andernorts auch wieder lassen.»

 

Die Schweiz gilt international als Modell. Vielsprachig, multikonfessionell – und stabil. Aber auch wenn die Schweiz in vielen Bereiche als Musterschülerin gilt, kann sie anderen Ländern nur als Inspiration dienen, nicht als Vorlage, gibt Eva Maria Belser zu bedenken. «An unserer internationalen Konferenz hier in Freiburg habe ich mich eben wieder mit einem äthiopischen Kollegen unterhalten. Die Sprachenpolitik muss natürlich eine ganze andere sein, wenn nicht bloss vier, sondern über achtzig Sprachen anerkannt werden.» Über den Schweizer Föderalismus wurde schon oft diskutiert. Ständeratssitze für die grossen Städte? Oder eine Aufwertung der Halbkantone? Auch Belser hat schon an grossen Plänen zur Umgestaltung der Schweiz herumfantasiert – und sie dann wieder verworfen. «Das System funktioniert. Und die Schweiz lebt auch davon, dass keine grossen Würfe gemacht werden.»

 

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Föderalismus nach Mass

Trotzdem: Einfrieren muss man den Schweizer Föderalismus nicht. «Als wir 1999 der europäischen Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten beitraten, wurde sehr bald der Umgang mit den Fahrenden angesprochen.» Zahlenmässig bewegen sich die Fahrenden auf der Höhe kleiner Kantone (wobei allerdings bloss etwa 10 Prozent tatsächlich herumreisen). Für die Schweizer Roma und Sinti war der Föderalismus in der Vergangenheit aber eher ein Problem: Überall waren sie zu unbedeutend, nirgends war jemand wirklich für sie zuständig. Inzwischen sind die Fahrenden dank einer Stiftung recht gut organisiert und verhandeln direkt mit Bund und Kantonen. «Das Beispiel zeigt einen weiteren aktuellen Trend: Die Tendenz zum personalen Föderalismus. In der Vergangenheit waren Rechte und Zuständigkeiten an Gebiete gekoppelt. Aber die Leute sind heute viel mobiler. Wenn Sie beispielsweise das Rätoromanische schützen wollen, müssen Sie darüber nachdenken, an den Schulen der grössten rätoromanischen Stadt rätoromanische Kurse anzubieten – also in Zürich.»

 

Solche personalen Elemente eignen sich besonders für stark durchmischte Gesellschaften. Wie das geht, zeigt Belgien: Über Planung, Wasserversorgung oder Elektrizität entscheiden ganz klassisch die Regionen. In den Bereichen Sprache, Kultur oder beim Bildungswesen liegen die Befugnisse aber bei den Sprachgemeinschaften. So kommt es, dass es in Brüssel flämische und wallonische Schulen gibt. «Natürlich gibt es Bereiche, in denen personaler Föderalismus nichts zu suchen hat. Und man muss aufpassen, dass es zu keiner Ethnifizierung kommt: Nicht jeder kann oder will sich einer Gruppe zuordnen. Aber bei Sprache, Kultur oder Religion ist der personale Föderalismus ein interessanter Ansatz.»

 

Belgien interessiert Belser aber auch noch aus einem anderen Grund: «Grundsätzlich gelten Föderationen mit nur zwei Parteien als instabil. Es besteht die Gefahr, dass immer dieselben verlieren. Deshalb würde der Föderalismus in Israel/Palästina die Gewalt idealerweise zwischen mehr als zwei Partnern teilen. In der Schweiz haben wir grosses Glück, dass die Gräben zwischen den Sprachen, Konfessionen und zwischen Stadt und Land nicht deckungsgleich sind. So sehen wir immer wieder wechselnde Allianzen: Basel stimmt oft mit der Westschweiz, Zürich häufig mit Genf und die ländlichen Gebiete im Tessin stimmen oft so wie jene in der Zentralschweiz.»

  

Ähnliches könnte auch in Sri Lanka Erfolg versprechen. Dort wurde Föderalismus zunächst vor allem als Option für die tamilischen Gebiete im Norden diskutiert. Dann zeigte sich, dass auch singhalesisch geprägte Gebiete fern der Hauptstadt mit der Zentralregierung unzufrieden sind. Immer wieder versickern Transferzahlungen und für die Regionen wäre es interessant, selbst entscheiden zu können, ob sie beispielsweise mehr auf den Tourismus oder auf die Landwirtschaft setzen wollen. Nun wird in grösserem Stil über «Devolution» diskutiert – ein Begriff, der eingeführt wurde, um nicht Föderalismus sagen zu müssen. «Das Wort klingt offenbar zu sehr nach Machtverlust». Belser ist es egal, wie die Dinge benannt werden. Hauptsache, man löst die Probleme. Sachlich, lösungsorientiert und mit der dafür notwendigen Flexibilität.

Und was sagt Belser zur Katalonien-Frage? «Sezession ist meistens die schwierigere Lösung. Das sieht man an den Problemen des Südsudans und auch der Kosovo hat trotz grosser internationaler Hilfe noch nicht zu jener Stabilität gefunden hat, die man ihm wünschen würde. Das katalanisch--kastilische Verhältnis ist alt, vielschichtig und kompliziert. Auf die Unabhängigkeitswünsche eines Teils der Einwohner Kataloniens zu reagieren, indem man sagt, es gebe kein verfassungsmässiges Recht auf Sezession, ist keine Antwort. Das Vereinigte Königreich hat am Beispiel Schottlands gezeigt, wie der Weg aussehen kann: mit Verhandlungen und einer gut vorbereiteten Abstimmung.»

 

 

Ehrendoktorwürde für indischen Föderalismusforscher

Die Universität Freiburg hat dem indischen Föderalismusforscher T. R. Raghunandan am 15. November 2017 die Ehrendoktorwürde verliehen. Raghunandan forscht insbesondere zu Steuerföderalismus, lokaler Verwaltung und Korruption in Indien. Er arbeitet für die indische Regierung sowie als unabhängiger Experte für internationale Organisationen, wie etwa die Weltbank, das UN-Entwicklungsprogramm oder die Schweizer DEZA. Raghunandan hat sich ausserdem als Antikorruptionsaktivist einen Namen gemacht. Er gründete die NGO «I paid a bribe», die Korruptionsfälle sammelt und Bürgerinnen und Bürger bei Korruptionsverfahren unterstützt. Hilft Föderalismus gegen Korruption? «Wenn er richtig gemacht wird: ja.», so Eva Maria Belser. «Wenn er aber falsch gemacht wird, muss man statt an einer, neu an drei Stellen schmieren.»

Unsere Expertin Eva Maria Belser hält den Lehrstuhl für Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg und einen Lehrstuhl der UNESCO für Menschenrechte und Demokratie. Sie ist Co-Direktorin des Instituts für Föderalismus und seit 2014 Vize-Dekanin der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Sie ist überdies Mitglied der Direktion am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte, am Institut für Ethik und Menschenrechte, am Institut für Religionsrecht und am Zentrum für Islam und Gesellschaft.

evamaria.belser@unifr.ch