Dossier
Hat sich Darwin geirrt?
Die Evolutionsideen Jean-Baptiste de Lamarcks sind auf dem Vormarsch. Müssen wir Darwin ersetzen?
Die kurze Antwort ist Nein. An der langen Antwort wird noch geschrieben. Darwins Werk ist noch gar nicht besonders alt. Erst vor rund 160 Jahren hat er sich in «Über die Entstehung der Arten» Gedanken gemacht darüber, wie Tier- und Pflanzenarten entstehen, wie sie sich an ihre Umwelt anpassen und wie von Generation zu Generation Veränderungen stattfinden. Spätere Wissenschafter haben die Genetik entdeckt, unzählige Experimente durchgeführt und wissenschaftliche Artikel publiziert. Darwins Ideen-- gebäude wurde dadurch mit belastbaren Fakten gefüllt. Zum Einsturz gebracht wurde es bislang noch nie.
Evolution funktioniert hauptsächlich über die Rekombination von Merkmalen. Ist der Vater gross und die Mutter klein, landet der Nachwuchst meistens irgendwo im Mittelfeld. Daneben spielen auch spontane Mutationen eine Rolle. Dabei passieren «Kopierfehler» im Erbgut, die für den Nachwuchs meistens schlecht, manchmal neutral und in wenigen Fällen gut sind. Vorteilhafte Mutationen werden dann durch die natürliche Selektion begünstigt und verbreiten sich so weiter.
Ein anderes Vererbungssystem ist die sogenannte Epigenetik – und die erhält derzeit viel Aufmerksamkeit. Denn während sich unsere Gene im Lauf des Lebens nicht verändern, kann die epigenetische Lesbarkeit der Erbinformationen variieren. Je nach Umweltbedingungen können sie «an-» oder «abgeschaltet» sein. Das wirft die Frage auf, ob wir auch erworbene Eigenschaften weitergeben können, so wie es Lamarck vermutet hat. Anders gefragt: Haben wir muskulösere Kinder, wenn wir selbst viel trainieren?
Es gibt einige Studien, die in diese Richtung deuten, und überhaupt ist Epigenetik eine faszinierende Vorstellung. Denn während Mutationen selten sind und meist lange brauchen, bis sie sich in einer Population durchsetzen, wirkt Epigenetik sehr viel schneller. Schon Darwin widmete der Idee deshalb einige Zeilen. Und Lamarck entwickelte das oft zitierte Beispiel der Giraffe, die ihren langen Hals dem Umstand verdanken könnte, dass die Tiere ihren Hals stets etwas streckten, um an die besten Blätter zu kommen.
Nur: Vieles, was Lamarck heute zugeschrieben wird, hat er nie so gesagt. Und während es durchaus vorkommen kann, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden, sind diese Eigenschaften nach heutigem Kenntnisstand – im Gegensatz zu Rekombination und Mutationen – längerfristig nicht sehr stabil. Nur in seltenen Fällen überdauern sie mehrere Generationen. Die meisten Evolutionsbiologen sind daher eher skeptisch, was die Wichtigkeit der epigenetischen Vererbung in evolutionären Prozessen betrifft. Wir werden Darwin also sicher nicht ersetzen müssen. Zwar dauert die Forschung zur Epigenetik noch an, aber schon heute ist klar, dass der Mechanismus Darwins Evolutionslehre nicht ersetzen, sondern im besten Fall ergänzen wird. Als eine Möglichkeit, wie Arten kurzfristig auf schnelle Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren können.
Frage Florian Lippke, Diplomassistent am Departement für Biblische Studien.
florian.lippke@unifr.ch
Experte Thomas Flatt ist Professor für Evolutionsbiologie. Diese erforscht er insbesondere mithilfe der Fruchtfliege Drosophila melanogaster. Seine Forschungen kreisen um Fragen wie: Weshalb gibt es einen Trade-off zwischen Reproduktion und Überleben? Welche Gene und Polymorphismen liegen Adaptationen im Lauf des Lebens zugrunde? Oder: Auf welchen Genen basiert die Evolution von Körpergrösse, Reproduktion und Lebenserwartung?
thomas.flatt@unifr.ch