Dossier

Hat Karl Marx abgeschrieben?

Der Name Marx steht für Kommunismus, für die Arbeiterbewegung, für Revolution. Nur wenige denken im Zusammenhang mit dem radikalen Philosophen an die Bibel. Trotzdem drängt sich die Frage auf: Hat der grosse Religionskritiker gar von den «Religiösen» abgekupfert?

Marx wollte «alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist» (Marx-Engels-Werke 1:385). Die Ausgangslage dieser Forderung findet sich allerdings schon bei Aristoteles: «Es sind immer die Schwächeren, die die Gleichheit und die Gerechtigkeit anstreben, die Stärkeren kümmern sich nicht darum» (politeia 1318b). Marx bemüht genau diesen Sachverhalt für sein Bild der Weltrevolution, bei der sich die Proletarier aller Länder erheben. Er war offensichtlich ein gelehriger Aristoteles-Schüler und liess sich damit von einem äusserst gläubigen Philosophen inspirieren! Aus seinem Elternhaus kannte Marx ausserdem die Hebräische Bibel respektive das Alte Testament sehr gut, in welchem schon 300 Jahre vor Aristoteles festgehalten worden war: «Fürsten sind Abtrünnige und Diebsgesellen, sie nehmen alle gern Geschenke an und trachten nach Gaben. Den Waisen schaffen sie nicht Recht, und der Witwen Sache kommt nicht vor sie» (Jesaja1). Ganz schön viel Übereinstimmung für einen beissenden Religionskritiker wie Marx.

 

Gerechtigkeit über alles

Marx ist einseitig. Pragmatismus oder Abwägung unterschiedlicher Güter gehören nicht zu seinem klassischen Vorgehen. Er ist durch seine Schriften als unerbittlicher Einforderer der gerechten Lebenszusammenhänge bekannt. Besonders aufschlussreich ist die Tatsache, dass sowohl in der christlichen wie auch in der jüdischen Bibel ganze Bücher diesem Thema gewidmet sind. Ihre Vertreter, die Propheten, haben häufig nur ein einziges Thema: Gerechtigkeit. Alles andere (Kult, Kommerz, Schönheit, Etikette) ist ihnen egal. Etliche Marxexperten haben darum in Marx einen Propheten gesehen; einen Propheten in jüdisch-alttestamentlicher Tradition. So droht der Prophet Amos aus Tekoa: Ihr «verkauft den Unschuldigen für Geld und den Armen für ein Paar Sandalen, (…) ihr tretet den Kopf der Armen in den Staub und ihr drängt die Elenden vom Wege ab – (…) Siehe: Ich reisse euch dafür den Boden unter den Füssen weg…» (Amos 2,6f.13).

 

Umkehr

Die Propheten waren unerbittliche Gesellen. Es war mit ihnen nicht leicht auszukommen. Sie legten sich mit allem und jedem an. Das kann mit guten Gründen auch von Karl Marx behauptet werden. Propheten kündeten den Untergang des Bestehenden und sie forderten zur Umkehr auf. Der hebräische Begriff hierfür (tschuvah) steht für das Umkehren vom falschen Weg: «Kehrt um von euren bösen Wegen und bewahrt Gemeinschaftsgebote, Ordnungen, soziale Gesetze…» (2. Buch der Könige 17). Marx ist in gleicher Weise alttestamentlich-prophetisch: Den Ruf zum Systemwechsel, zur Abkehr von der falschen Ordnung, und damit von der falschen Gesamtlage hat er sich zu eigen gemacht. Die Notwendigkeit einer vollkommenen Umkehr (des Systems) ist in den Marx-Engels-Werken überall anzutreffen.

 

Marx mit und ohne Judentum

Marx wuchs in einer jüdischen Familie auf, die zum Christentum konvertierte. In seiner Familie waren viele gelehrte Rabbiner vertreten. Die Kenntnis der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments ist in dieser Hinsicht keine grosse Überraschung. Seine Schriften, die zum Teil gewaltiges antisemitisches Potential in sich tragen, werden immer wieder kontrovers diskutiert. War er nun ein platter Antisemit oder spielen tiefere Komponenten der Kritik eine Rolle, die wir meist vergessen? Denn die beissendste Kritik an situativen Lebensweisen gegen Altisrael spielt schon in der Hebräischen Bibel eine wichtige Rolle. Die Propheten waren geniale Gegenwartsanalysten und sie artikulierten aus der Mitte der Gesellschaft heftige Kritik. So hat es der US-amerikanische Philosoph Michael Walzer deutlich aufgezeigt. Aus jüdischer Warte ist Marx mitunter als Feind des Judentums ausgemacht worden. Aber etliche sehen das anders. Wenn die Propheten Israels Ende des 19.Jh. aufgetreten wären, hätten sie sich sicher der drastischen Sprache und der aufrüttelnden Kritik eines Karl Marx bedient. So sehr Marx also die «Religion» kritisiert, so sehr steht er in der Tradition der uralten Religionskritik, die so alt ist wie die Heiligen Schriften selbst. In Sachen Kritik ist Karl Marx also kein unvergleichlicher Revoluzzer – eher eine Neuauflage nach 2400 Jahren.

 

Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Fürsorge

Die Hebräische Bibel stellt in den prophetischen Texten heraus, dass Gerechtigkeit und Gemeinschaft in einem engen Konnex stehen. Ohne einen grundlegenden Gemeinschaftsbezug (Gemeinschaftstreue) ist Gerechtigkeit blass und leer. Interessanterweise ist auch bei Karl Marx eben dieser Konnex von Gerechtigkeit und Gemeinschaft auf fast jeder Buchseite präsent. Gerechtigkeit ist soziale Gerechtigkeit und muss sich in den Gemeinschaftsstrukturen bewähren. Auch hier liegt Karl Marx sehr nahe am Erbe der Propheten Jesaja, Amos und Micha: «Weh denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen! (...) Wehe denen… sie reißen Äcker an sich und nehmen Häuser, wie sie's gelüstet. Es soll eine böse Zeit sein für sie» (Jesaja 5 und Micha 2).

 

Kriegserklärung an die Mächtigen

Häufig wird in der Bibel den Mächtigen und Herrschenden der Krieg erklärt. Karl Marx klagt ebenfalls an. Sein Programm ist Sozialkritik pur. Das hat er mit allen alttestamentlichen Propheten gemeinsam. Was Marx als grosses Umwerfen beschreibt klingt beim Propheten Jesaja so: «(…) Die ihr den Geringen Gewalt antut und schindet die Armen und sprecht (…): Lasst uns saufen! Man wird euch herausziehen (aus euren Häusern) mit Angeln und Fischhaken und ihr werdet durch die Mauerlücken fliehen müssen». Und Amos aus Tekoa, ein echter Sozialkritiker, droht den Luxusschwälgern: «Euer Winter- und Sommerhaus wird zerschlagen, und die elfenbeingeschmückten Häuser sollen zugrunde gehen». Marx und die Hebräische Bibel teilen im Übrigen auch die Auffassung, dass Frieden errungen und erstritten werden muss – ohne Anstrengung geht es nicht. Und auch die transnationale Perspektive bei Marx kennt Vorläufer in der Hebräischen Bibel: Den ungerechten Herrschern «aller Länder» wird gedroht (Amos 1+2) – denn die Armen, Schwachen und Unterdrückten sind untereinander verbunden – unabhängig von ihrer Nationalität. «Proletarier aller Länder» eben...

 

Marx und die Religion

Hat Marx jetzt plagiiert oder nicht? Natürlich kann man ihn nicht auf frischer Tat dabei ertappen, wie er aus den Heiligen Schriften abgeschrieben hat. Dennoch: An der nachweisbaren Häufung von inhaltlichen, strukturellen, pragmatischen und rhetorischen Parallelen ist nicht zu rütteln. Ein kolossaler Zufall? Ist es möglich, dass wir Marx lange Zeit viel zu unkritisch gelesen haben? Seine harsche Religionskritik hat uns abgelenkt von der Tradition, in der er knietief stand.

Mehr noch: Karl Marx war ein Gegenwartsanalyst, der die Religion beschrieb, wie er sie erlebte – als Wasserträgerin eines korrupten und ungerechten Systems. Denn die Kapitalisten rechtfertigten die Unterdrückung mit Verweis auf die Bibel. Wenn dies also Religion ist – dann sollten wir nach Marx eine solche Religion begraben, denn sie ist politisch instrumentalisierte Religion. Marx fordert also zwischen den Zeilen eine Reform der Religion. Dass dies in religionsfeindlichen Kreisen als Forderung nach einer «Ausrottung der Religion» gelesen wurde, kann Marx nicht angelastet werden. Ein kontextualisierter Religionsbegriff hilft uns, Marx historisch besser zu verstehen. Die Lehren aus einer solchen Beschäftigung sind im Übrigen schnell gezogen: Es stellt sich immer die Frage, wieviel Religionsfeindlichkeit in die alten und sehr alten Texte hineingelesen wird. Hier hat jeder und jede Einzelne eine nicht übertragbare Verantwortung.

 

Unser Experte Florian Lippke ist Diplomassistent am Department für Biblische Studien und Kurator für Vorderasien am BIBEL+ORIENT Museum der Universität Freiburg. Seine Spezialgebiete sind semitische Sprachen, biblische Exegese und die Archäologie Syriens und Palästinas.

florian.lippke@unifr.ch

 

Literatur

›Merold Westphal, Suspicion and Faith: The Religious Uses of Modern Atheism, New York 1998

›Heinz Monz, Gerechtigkeit bei Karl Marx und in der HebräischenBibel — Übereinstimmung, Fortführung und zeitgenössische Identifikation, Baden-Baden 1995

›Michael Walzer, Exilpolitik in der Hebräischen Bibel, Tübingen 2001