Forschung & Lehre

«Es konnte jeden treffen»

Über tausend Schweizerinnen und Schweizer wurden Opfer der Nationalsozialisten. Warum weiss das in der Schweiz fast niemand? Ein Gespräch mit Holocaust-Forscherin Christina Späti.

Christina Späti, die Schweiz blieb vom Zweiten Weltkrieg glücklicherweise verschont. Es gab die Flüchtlinge und die Goldgeschäfte, aber ansonsten kamen wir heil davon.

Christina Späti: Das ist eine verbreitete Sichtweise, aber leider ist sie nicht wahr. Auch Schweizerinnen und Schweizer wurden Opfer nationalsozialistischer Gewalt. Und die breite Öffentlichkeit ignoriert diese Menschen bis heute.

 

Wie sind Sie denn auf die Schweizer Opfer des Holocausts aufmerksam geworden?

Ich habe bei einem deutschen Forschungsprojekt mitgearbeitet, bei dem es um die Entschädigung von Opfern ging. 1956 traten 11 westliche Staaten an Deutschland heran und machten auf ihre Staatsangehörigen aufmerksam, die noch nicht entschädigt worden waren. Unter diesen Ländern war auch die Schweiz. Und sie erhielt nach langen, geschickt geführten Verhandlungen Gelder, die sie an Opfer und Hinterbliebene nationalsozialistischer Gewalt auszahlte.

 

Um was für Menschen geht es denn da?

In erster Linie geht es um Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Viele von ihnen lebten in Frankreich, aber es gibt auch Fälle aus dem Deutschen Reich, aus Belgien oder den baltischen Staaten. Als es darum ging, Opfer oder Hinterbliebene zu entschädigen, schaltete man Annoncen in Schweizer Zeitungen sowie in den Blättern der Auslandschweizer-Communities. So erhielt man schliesslich mehrere Hundert Namen von Entschädigungsberechtigten. Aber vollständig ist diese Liste nicht.

 

Wer fehlt denn?

Manche Leute wurden wohl einfach nicht gefunden. Andere waren umgebracht worden und hatten keine Nachkommen hinterlassen, die sich hätten melden können. Dritte wollten gar nicht auf diese Liste. Gerade kürzlich habe ich einen Brief von jemandem gefunden, der gesagt hat: «Ich möchte nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden. Lasst mich in Ruhe damit».

 

Wie sieht die typische Geschichte eines solchen Schweizer Opfers aus?

Besonders viele Auslandschweizer lebten in Frankreich: Bauern, Hoteliers, Unternehmer, Kaffeehaus-Besitzer, Selbständige. Und viele dieser Leute verliessen das Land auch nach dem Einmarsch der Nazis nicht. Eine typische Akte fängt beispielsweise damit an, dass Frau X aufs Schweizer Konsulat in Paris kommt und sagt: «Heute morgen ist mein Mann verhaftet worden». Oder: «Mein Mann ist seit zwei Tagen nicht mehr aus dem Geschäft nach Hause gekommen». Das Konsulat ging der Sache dann nach und so entspannen sich Korrespondenzen mit Angehörigen und Besatzungsbehörden, die sich über Monate oder Jahre hinzogen. Im besten Fall bis die Person wieder frei kam. Im schlimmsten Fall bis sie im KZ starb.

 

Warum wurden diese Schweizer Bürger denn verhaftet?

Bei manchen handelte es sich um jüdische Familien, andere haben sich der Résistance angeschlossen. Dritte hatten vielleicht etwas gestohlen, andere haben wohl einfach im falschen Moment eine nazi-kritische Bemerkung gemacht. Frauen wurden besonders oft verhaftet, weil sie jemandem, beispielsweise Kriegsgefangenen oder Juden, Unterschlupf gewährten. Und schliesslich gab es auch welche, die einfach von irgendwem falsch beschuldigt wurden, was ebenfalls für eine Verhaftung reichte. Daneben gab es auch jüdische Familien, deren Besitz in Frankreich oder im Deutschen Reich beschlagnahmt wurde oder deren Geschäfte «arisiert» wurden.

 

Wähnten sich die Leute denn in der falschen Sicherheit, dass ihnen als Schweizer Staatsbürger schon nichts passieren werde?

Teilweise sicher, ja. Viele wollten auch nicht wahrhaben, was gerade passierte – auch in Deutschland haben ja viele Leute die Nazis viel zu lange ignoriert. Gerade unter den Schweizer Juden in Frankreich dachten sich offenbar viele «Wir sind ja Schweizer Bürger». Und diese Einschätzung war nicht ganz falsch. Schweden, Spanier oder Schweizer wurden von den Nazis eine Zeit lang besser behandelt, weil diese es sich mit den neutralen Staaten nicht verscherzen wollten. Aber auch Schweizer Staatsbürger wurden schliesslich von den Nationalsozialisten verhaftet, woraufhin die Schweizer Behörden intervenieren mussten, um die Leute wieder frei zu bekommen.

 

Wie ging es denn nach einer Verhaftung typischerweise weiter?

Bleiben wir beim französischen Beispiel: Zunächst kam die Person in ein Internierungslager oder ein Gefängnis. Dort war die Geschichte noch einigermassen kontrollierbar. Man konnte Leute hinschicken, Pakete senden, man wusste ungefähr, wie es dem Gefangenen ging. Die Schweizer Behörden versuchten dann zunächst mal herauszufinden, was dem Verhafteten überhaupt vorgeworfen wurde. Irgendwann erklärten die Besatzungsbehörden die Untersuchung für abgeschlossen und manchmal kam die Person danach auch wirklich wieder frei. Bei anderen aber kam dann stattdessen eine Nachricht von Verwandten, die erfahren hatten, dass die Person nach Deutschland deportiert werden sollte.

Für die Schweizer Behörden war das immer ein Grund für eine sofortige Intervention. Man wusste: Das darf auf keinen Fall passieren. Denn wenn die Leute nach Deutschland gebracht wurden, dann verschwanden sie vom Radar. Man wusste nicht, wo sie waren und oft dauerte es Monate, bis man wieder eine Spur hatte und beispielsweise wusste: «Aha, der Soundso ist jetzt in Neuengamme im Konzentrationslager».

 

Und wie ging die Schweiz damit um, dass die Nazis da einfach unter teilweise fadenscheinigen Begründungen Schweizer Bürger verhaftet haben?

Man hat schon protestiert. Und je öfter die Verwandten nachfragten, desto intensiver ging man der Sache nach. Zugleich hat man sich offenbar damit abgefunden, dass unter Naziherrschaft für Juden und Nichtjuden zweierlei Recht galt – und hat das auch für die Schweizer Staatsbürger in deutschem Hoheitsgebiet teilweise akzeptiert.

Ob die Schweiz für ihre jüdischen Bürger genug getan hat, ist eine Frage von Handlungsspielräumen. Aber es gibt sowohl von Zeitzeugen wie auch von Forschern Einschätzungen, wonach sich die Schweiz stärker für ihre jüdischen Bürger im Ausland hätte engagieren müssen. Eine systematische Untersuchung steht allerdings noch aus.

 

Prof. Christina Späti   © STEMUTZ.COM

Ist diese das Ziel Ihrer Untersuchungen?

Alleine kann ich das gar nicht leisten. Derzeit mache ich Vorarbeiten für ein grösseres Projekt. Anfänglich dachte ich, ich könnte Studierende in diese Forschungen einbinden, inzwischen sehe ich: da ist Arbeit für mindestens drei Dissertationen. Denn die Quellen sind wahnsinnig verzettelt. Es waren viele Behörden beteiligt, verschiedene Konsulate, bei Vermögensfragen und Arisierungen waren nochmals andere Stellen involviert. Das Quellenmaterial ist verstreut – soweit es überhaupt noch existiert.

 

Gibt es auch Leute, die das KZ überlebten?

Die gibt es. Doch damit war ihr Leiden oft noch nicht zu Ende. Ich habe gerade eine Geschichte recherchiert, wo das oben erwähnte KZ Neuengamme geräumt wurde, weil die Alliierten näher Rückten. Die Gefangenen wurden per Schiff weggebracht, weil man hoffte, sie als Pfand einsetzen zu können. Das Schiff wurde für ein Kriegsschiff gehalten und von der Royal Air Force bombardiert. Andere hatten mehr Glück. Manche überlebten die Zeit im Konzentrationslager, andere wurden bereits während des Krieges wieder freigelassen und kehrten – völlig abgehungert und ausgemergelt – in die Schweiz zurück.

 

Schweizer KZ-Opfer kehrten während des Krieges zurück?

Ja. Man muss sich das mal vorstellen: Das waren Augenzeugen, die selbst gesehen und erlebt hatten, was in Deutschland geschah. Man hatte in der Schweiz also Erlebnisberichte aus dem KZ! Je mehr wir forschen, desto klarer wird, dass man nicht sagen kann, man habe in der Schweiz nicht gewusst, was jenseits der Grenze geschah. Und trotzdem konnten sich diese Berichte in der damaligen Öffentlichkeit nicht durchsetzen. Die Schweizer Opfer des Holocausts gingen Stück für Stück vergessen. Ich finde das wirklich schwer erklärbar. Was der Anerkennung der Opfer sehr lange im Weg stand, war der Neutralitätsmythos. «Es kann ja gar nicht sein, dass Schweizer Opfer des Nationalsozialismus geworden sind. Denn die Schweiz war ja neutral!»

 

Eine Vorstellung, als könnte einem das Übel der Welt als Schweizer nichts anhaben. Als bräuchte man im KZ nur den Schweizer Pass zu zücken und könnte erhobenen Hauptes hinausspazieren.

Die Schweiz hat bei den Entschädigungsverhandlungen auch so argumentiert: Wir waren neutral, deshalb ist es ein noch grösseres Verbrechen, dass unsere Staatsbürger getötet wurden. Schliesslich wurden die Schweizer Opfer besonders entschädigt. Umgekehrt wurden jene Leute, die sich der Resistance angeschlossen hatten, von den Schweizer Behörden schlechter behandelt, weil sie ja gegen die Neutralität verstossen hatten. Damit hatten sie ein Selbstverschulden, wie es damals hiess.

 

Wie bitte?

Ja. Wer in der Résistance war, war in Frankreich nach Kriegsende ein Held. In der Schweiz erwähnte man so etwas besser nicht. Dass die Schweizer, die sich der Résistance angeschlossen hatten, schlechter entschädigt wurden, als andere, wurde nicht mal von den Sozialdemokraten infrage gestellt. Verstösse gegen die Neutralität mussten geahndet werden, das war allgemeiner schweizerischer Konsens.

Die Frage Opfer-Entschädigungen wurde im Schweizer Parlament zwar diskutiert, in den Zeitungen aber stiess sie kaum auf Resonanz. Die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus fanden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Das mag mit ein Grund sein, warum Überlebende oft nicht in der Schweiz blieben.

 

Die Schweizer Opfer gingen also vergessen.

Der Deutsche Holocaust-Forscher Wolfgang Benz hat eine gesamteuropäische Übersicht gemacht, welches Land wie viele Opfer zu beklagen hatte. Die Schweiz ist da nicht drin. So etwas darf nicht mehr geschehen.

 

Was wäre denn eine angemessene Form der Erinnerung?

Zunächst haben wir noch viel Forschungsarbeit vor uns. Die Resultate könnten wir dann beispielsweise in eine Online-Datenbank einspeisen, sodass sich die Leute über die Schicksale der Schweizer Opfer informieren können. Eine Gruppe von Journalisten schreibt parallel zu unserer Arbeit an einem Buch. Und die Geschichte der Schweizer Opfer gehört auch in die Schweizer Schulbücher. Der Holocaust war nicht etwas, das die Schweiz nicht berührte. Die Willkür der Nazis konnte wirklich jeden treffen. Es gibt beispielsweise die Geschichte eines jungen Schweizers, der in Frankreich lebte. Im Frühling 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und zu Unrecht beschuldigt, bei der Résistance zu sein. Er wurde ins KZ Mauthausen deportiert und kam erst kurz von Kriegsende völlig ausgemergelt in die Schweiz zurück. So gibt es hunderte weiterer Schicksale.

 

Geschichten, die erzählt werden müssen.

Das sind wir diesen Menschen schuldig.

 

Unsere Expertin Christina Späti ist Professorin an der Universität Freiburg am Studienbereich Zeitgeschichte und forscht zum Holocaust und dessen Nachgeschichte, zu Antisemitismus und Orientalismus sowie zur Sprachenpolitik.

christina.spaeti@unifr.ch