Dossier

Der Weg des geringsten Übels

Es passiert nicht alle Tage, dass ich meine Meinung ändere – noch dazu in einer Kernfrage meines Forschungsgebiets. Begonnen hat alles mit der Überzeugung, dass unbändiges Wachstum die Wurzel allen Übels sei. Diese Überzeugung hielt solange stand, bis ich mich intensiver mit dem Klimawandel beschäftigte. Report über einen Sinneswandel.

Wer ist schon gegen Klimaschutz? Die grosse Mehrheit spricht sich sogar für weitere Schritte aus. Gleichzeitig ist aber nur eine kleine Minderheit bereit zu wirklich grossen Schritten. Es genügt nämlich nicht, die Emissionen stark zu senken – sagen wir um 30, 50 oder gar 80 Prozent. Nein: über die nächsten acht Legislaturen hinweg müssen die Emissionen um 100 Prozent sinken. Und das nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit.

Das ist ein unglaublicher Kraftakt. Beim Versuch, ihn zu stemmen, haben wir bisher vor allem Trockenübungen gemacht. All die – vermeintlichen und realen – Fortschritte in Politik, Technologie und Mentalität hatten nämlich dort, wo es letztendlich zählt, keine Trendwende zur Folge: bei den globalen Emissionen. Diese stiegen alleine seit dem Jahrtausendwechsel um weitere 40 Prozent an. Wie – um Himmels Willen – so mag man fragen, sollen wir sie denn auf Null bringen?

Drei Hebel

Die globalen Emissionen hängen von drei Faktoren ab: Die Emissionen sind umso höher je mehr Menschen leben, je höher deren Wohlstand ist und je dreckiger die Technologien, mit denen sie ihren Wohlstand produzieren. Dementsprechend gibt es drei Hebel, um die Emissionen zu senken: weniger Menschen, weniger Wohlstand, sauberere Technologien. Aus dieser trivialen Beobachtung folgt eine überraschende Schlussfolgerung. Dazu ist es wichtig zu sehen, dass sich die globalen Emissionen aus der Multiplikation der drei Faktoren ergeben:

-Anzahl Köpfe x
-Wohlstand pro Kopf x
-Emissionen pro Einheit Wohlstand

Damit das Resultat dieser Multiplikation – die globalen Emissionen – Null ergibt, müssen wir nicht alle drei Faktoren auf Null senken sondern bloss einen. Sobald einer der drei Faktoren Null ist, spielt es keine Rolle, wie gross die anderen zwei Faktoren sind. Ja, noch mehr: die anderen zwei Faktoren sollten womöglich sogar steigen, jedenfalls wenn das hilft, den einen Faktor auf Null zu bringen. Die grosse Frage ist nun, auf welchen Faktor wir uns einschiessen sollen: Auf das Bevölkerungswachstum, das Wirtschaftswachstum oder den technologischen Fortschritt?

Weniger Kinder

Weniger Kinder kriegen, um das Klima zu schützen? Der Gedanke hat einen schlechten Ruf. Doch eines muss man der Idee lassen: In einem Land wie der Schweiz bedeutet jedes zusätzliche Kind enorme Emissionen. Es bräuchte zur Senkung der Geburtenrate auch keine illiberale Verbotspolitik wie in China. Als staatliche Gemeinschaft könnten wir auch einfach – im Sinne des Verursacherprinzips – den Eltern die Bildungs- und Umweltkosten aufbürden, die sie durch ihre Kinder verursachen, statt das Kinderkriegen sogar noch zu subventionieren.

Weshalb also ist die Bevölkerungsgrösse trotzdem nicht der richtige Hebel für den Klimaschutz? Erstens: Wir schützen das Klima ja genau deshalb, weil wir Leben bejahen. Es hat etwas gar Düsteres, Leben verhindern zu wollen, um wiederum Leben zu ermöglichen. Zweitens ist diese Lösung weit davon entfernt, uns auf Null zu bringen. Politisch realistisch ist höchstens eine leichte Minderung des Bevölkerungswachstums – und das bedeutet trivialerweise ja auch nur eine leichte Minderung der Emissionen. Es ist nicht nur politisch unrealistisch, sondern offensichtlich auch moralisch daneben, die Verschmutzung auf Null zu bringen, indem wir die Anzahl Verschmutzer auf Null bringen.

 

        © Chappatte
Weniger Wirtschaftswachstum

Weniger Wirtschaftswachstum, um das Klima zu schützen? Die Idee hat natürlich unabhängig von der Klimafrage etwas Attraktives. Die bewusste Abkehr von der Gier nach mehr ist nämlich ein gutes Rezept für das Lebensglück. Aber: ist diese Abkehr auch ein gutes Rezept für den Klimaschutz? Die Antwort ist nein – und zwar aus zwei Gründen: In reichen Ländern wollen die Menschen nicht bescheidener leben und in armen Ländern wollen und sollen sie nicht bescheidener leben. Wie klein der politische Willen für «Degrowth» ist, kann man am Aufheben um die Finanzkrise ablesen. Das Negativwachstum vor einem Jahrzehnt war zwar unfreiwillig, aber im Gesamtzusammenhang des jahrzehntelangen Wachstums vernachlässigbar klein. Und trotzdem verursachte es ein Riesendrama. Es ist somit unvorstellbar, dass eine freiwillige Wohlstandsreduktion von beispielsweise 50 Prozent Mehrheiten finden würde. Und 50 Prozent wären ja erst der Anfang: Was wir brauchen, sind Nullemissionen und somit – wenn wir wirklich auf den Hebel «Wohlstand» setzten – Nullwohlstand. Noch klarer liegt der Fall in armutsbetroffenen Ländern: Sie sollen wirtschaftlich wachsen. Schrumpfen kann man, wenn man zu viel hat und nicht wenn man zu wenig hat. Der reflexartige Ruf nach weniger Energieverbrauch, weniger Wachstum, etc. wurzelt in einer westlichen Perspektive. Bevor wir die Armutsbekämpfung auf dem Altar des Klimaschutzes opfern, sollten wir zuerst alles andere darauflegen.

Der Silberstreifen am Horizont

Der einzige Faktor, der eine gewisse Hoffnung auf Null zulässt, ist die Technologie. Null bedeutet: Die Welt erarbeitet ihren Wohlstand gänzlich ohne Emissionen. Das kann Solarenergie, Soja und Sharing Economy bedeuten, aber auch künstliches Fleisch, Kernenergie und kerosinfreies Fliegen. Im Vordergrund steht dabei ein grundsätzlicher Wandel unserer Energieproduktion. Wie bei den anderen zwei Faktoren stellen auch hier ethische Bedenken und der beschränkte politische Wille enorme Hürden dar. Viele der notwendigen Technologien müssen nämlich unter dem Einsatz massiver Investitionen erst noch erschaffen und verbreitet werden. Und viele der vermeintlich sauberen Technologien kommen mit neuen Risiken. Aber – und das ist die Krux – im Gegensatz zum Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum ist bei diesem Hebel die Tür zu einer Lösung wenigstens einen Spalt offen. Manche entgegnen, man könne ein Problem nicht mit dem Denken lösen, welches das Problem geschaffen hat. Dem gilt es zu entgegnen: Wenn dem technologischen Fortschritt die Macht innewohnt, derart gigantische Probleme wie den Klimawandel in die Welt zu setzen, dann ist es auch nicht ausgeschlossen, dass ihm ebenso die Macht innewohnt, sie wieder aus der Welt zu schaffen.

Pessimismus ist okay

Dieses Loblied auf den technologischen Fortschritt mag Skepsis hervorrufen. Zur Beruhigung: Es geht hier nicht um Techno-Optimismus. Man kann sogar pessimistisch sein, dass Technologie das Problem lösen wird und trotzdem alles darauf setzen – nämlich dann, wenn man noch pessimistischer ist, dass der Verzicht auf Wohlstand und Kinder das Problem lösen wird. Auch bedeutet es nicht, den Markt gegenüber dem Staat zu bevorzugen. Wir müssen mit maximalem Pragmatismus der empirischen Erfahrung folgen, dass in verschiedenen Stadien des Innovationsprozesses der Staat und der Markt unterschiedlich nützlich sind. Neue Technologien bedeuten auch keine Abkehr von der Natur. Ganz im Gegenteil: Der so genannte Ökomodernismus behauptet, dass ein rasanter technologischer Fortschritt eben genau Raum für ursprüngliche Natur schaffen kann. Fazit: Auf den technologischen Fortschritt zu setzen ist kein Ausweichmanöver für Warmduscher. Ich selbst habe meine Meinung zum Wachstum und zum technologischen Fortschritt ja genau deshalb geändert, weil mir bewusst wurde, wie radikal die Klimaherausforderung ist.

 

Unser Experte Dominic Roser ist Lehr- und Forschungs­rat am interdisziplinären Institut für Ethik und Menschenrechte der Uni Freiburg. Mit einem Hintergrund in Philosophie und Ökonomie sucht er nach Antworten auf Fragen der Wirtschafts- und Umweltethik. Er ist Co-Autor der «Ethik des Klimawandels» (WBG 2015) und Mit­herausgeber von «Climate Justice in a Non-Ideal World» (OUP 2016). Mit Christian Seidel hat er «Ethik des Klima­wandels: Eine Einführung» (WBG 2015) verfasst.

dominic.roser@unifr.ch