Forschung & Lehre
«Krebszellen sind wie Kinder»
Immuntherapien gelten als Revolution in Sachen Krebstherapie. Curzio Rüegg, Professor am Lehrstuhl für Pathologie, erklärt, weshalb die Methode trotz grossem Potential nicht immer funktioniert – und was seine eigene Forschung zu bewirken vermag.
Curzio Rüegg, ich bin selber vor bald zehn Jahren an Blutkrebs erkrankt. Weshalb ich und nicht Sie?
Fast jeder zweite Mensch erkrankt heutzutage an Krebs, mehrheitlich im Alter. Wieso wir überhaupt an Krebs erkranken und an welcher Art, können wir nicht restlos erklären. Ich kann nur verallgemeinernd sagen, dass bei den einen Menschen krebsfördernde Veränderungen im Erbgut häufiger auftreten, während bei den anderen krebsschützende Gene dominieren. Anders gesagt: Wir sind nicht alle gleich, wir sind individuelle Wesen, und so unterschiedlich sind auch die Gründe, weshalb der eine Mensch an Krebs erkrankt und der andere nicht.
Ist Krebs also Zufall?
Nein. Eine Krebserkrankung ist nicht nur Glück oder Pech. Auf die genetisch fixierten Ursachen haben wir zwar keinen Einfluss, aber auf Risikofaktoren – etwa in Zusammenhang mit unserem Lebensstil – sehr wohl.
Verfolgt man die Entstehung eines Tumors, so beginnt ja alles bei einer einzigen entarteten Zelle. Die sich immer wieder teilt, solange, bis es Milliarden sind. Wir müssten nur diese eine Ursprungszelle erwischen…
Richtig. Ein Tumor beginnt genau gleich wie das menschliche Leben, mit einer einzigen Zelle. Seltsam, nicht? Und noch eine Parallele: In keinem anderen Moment des menschlichen Lebens vermehren sich Zellen so schnell wie bei Föten und Tumoren. In beiden Fällen wird die biologisch maximale Wachstumsgeschwindigkeit erreicht – aber mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Ich finde das beeindruckend.
Als ich vor bald zehn Jahren im Spital lag, musste ich vier Zyklen Chemotherapie und ein halbes Dutzend Ganzkörperbestrahlungen über mich ergehen lassen. Dazu eine Stammzelltransplantation mit mehrwöchiger Isolation von der Umwelt. Heute lassen sich gewisse Formen der Leukämie quasi ambulant behandeln.
Ja, in der Tat. Sie sprechen von den Chimären Antigenrezeptor-T-Zellen, kurz CAR-T-Zellen. Ihre Entwicklung ist etwa so bedeutend wie die Entdeckung des Penicillins im Jahr 1928. Eine Revolution. Die Entdeckung des Penicillins war allerdings ein Glücksfall, während der Entwicklung der CAR-T-Zellen jahrelange, komplexe Forschungsarbeiten vorausgingen.
Wie funktioniert diese Therapie?
Es ist ein Art Gentherapie. Man isoliert zuerst eine bestimmte Sorte von Immunzellen – die T-Zellen – aus dem Körper der Erkrankten. Im Labor wird in diese Zellen ein inaktives Virus eingeschleust, das unter anderem das Gen für das CAR-Molekül enthält. Als Folge dieses Eingriffs produzieren die Zellen ein Eiweiss, das wie eine Antenne auf der Zelloberfläche erscheint. Diese Antenne sorgt dafür, dass die veränderten Immunzellen die Krebszellen erkennen und sie folglich vernichten können. Die Erkrankten erhalten eine einzige Infusion.
Die neue Technik ist inspirierend. Und doch nicht die Lösung für alle Probleme.
CAR-T-Zellen funktionieren zur Zeit nur bei bestimmten Leukämien und bei einem Lymphom. Entartete Zellen dieser Art lassen sich relativ einfach bekämpfen, da ihre genetischen Mutationen limitiert sind. Aber es gibt weitere Ansätze aus dem Bereich der Immuntherapien. Die sogenannte Immun-Checkpoint-Inhibition wirkt bei Personen, die an Lungenkrebs oder Melanomen leiden. Hier wird ein Mechanismus des Immunsystems wieder aktiviert, den Krebszellen zuvor lahmgelegt haben. Etwa ein Drittel der Betroffenen reagiert darauf sehr gut, und wiederum ein Drittel davon hat Chancen, geheilt zu werden.
Es gibt weitere sogenannte massgeschneiderten Therapien, die jeweils auf die Genetik eines bestimmten Tumors zugeschnitten werden. Aber auch hier sind die Erfolge nicht durchschlagend.
Weshalb das Prinzip nicht bei allen Krebsarten und bei allen Krebskranken funktioniert, ist eine der grossen Fragen unserer Forschung. Das müssen wir unbedingt verstehen lernen. Wie bereits gesagt, Krebs ist nicht gleich Krebs, sondern jeder Tumor ist einmalig und weist ein entsprechend einzigartiges Muster an genetischen Veränderungen auf. Diese Einzigartigkeit macht das Thema schwierig, ist heutzutage – dank des Fortschritts der Forschung – aber auch eine Chance für Gegenmas-s- nahmen mit einer bislang unerreichten Wirksamkeit. Die massgeschneiderten Therapien nutzen jene besonderen Veränderungen, die die Tumorzelle charakterisieren. Sind diese Veränderungen gefunden, lässt sich die Tumorzelle exakt an dieser Stelle angreifen. Wenn wir das Problem auf den Nenner «1Mutation, 1Gen, 1Medikament» herunterbrechen können, ist die Chance auf Erfolg theoretisch gross. Doch bei den meisten Krebsarten ist die Realität komplizierter, weshalb massgeschneiderte Therapien oft schon nach einigen Monaten scheitern. Das ist wirklich enttäuschend.
Krebszellen können ihre Identität verschleiern, sie entwickeln Resistenzen gegen Medikamente, sie bremsen das Immunsystem. Und sie nutzen Fähigkeiten, die nach Abschluss der Embryonalentwicklung eigentlich in den Zellen blockiert sein sollten, etwa die Fähigkeit zu wandern und sich an einem anderen Ort festzusetzen. Sind Krebszellen intelligent?
Nein, das glaube ich nicht. Es ist eher so, dass Krebszellen eine sehr schnelle Evolution durchmachen. Wie beim Menschen, ist die nächste Generation immer etwas weiter vorangeschritten im Vergleich zur vorhergehenden. Basis ist eine einzige falsch kopierte Zelle, die irgendwann entsteht, aber stirbt. Dann entsteht wieder eine falsch kopierte Zelle mit einer leicht erhöhten Lebensdauer. Aber auch sie stirbt. Doch am Tag X entsteht eine entartete Zelle, die einen Weg gefunden hat, sich an die Bedingungen ihrer Umwelt anzupassen. Sie überlebt und pflanzt sich fort. Am Anfang braucht es viel Zeit, aber dann kann es sehr schnell gehen. Wie gesagt, mit Intelligenz hat das nichts zu tun. Die Zellen folgen nur den Regeln der Evolution. Aber lassen Sie mich auch mal etwas Positives sagen: In meiner Kindheit sah ich mehrere Freundinnen meiner Mutter an Brustkrebs sterben. Das ist heute völlig anders. Die meisten Frauen, die heute an Brustkrebs erkranken, überleben.
Die Technik entwickelt sich weiter.
Ja. Grundsätzlich sind wir auf dem richtigen Weg. Wir haben endlich einen Weg gefunden, eines der Hauptprobleme bei der Krebstherapie zu lösen: Das Immunsystem kann nun zur Bekämpfung von Tumoren beitragen.
Was zur Frage leitet, weshalb eigentlich das Immunsystem bei der Entstehung von Krebs versagt.
Das ist eine wichtige Frage. Und sie basiert auf einem Missverständnis: Das Immunsystem hat andere – oder wichtigere – Aufgaben, als uns vor Krebs zu bewahren. Primär muss es mit all jenen Krankheiten fertig werden, die uns in jungen Jahren an der Fortpflanzung hindern könnten. Das ist seine Hauptaufgabe. Und die macht es grundsätzlich gut. Wir überleben in einer Welt voller bösartiger Viren und schädlicher Bakterien. Auf die Bekämpfung von Krebszellen ist es nicht ausgerichtet. Erstens, weil diese keine fremden Eindringlinge, sondern Zellen des eigenen Körpers sind und somit vom Immunsystem nicht erkannt werden, zweitens, weil sich die bei der Zellteilung auftretenden Kopierfehler erst zu häufen beginnen, wenn wir bereits Kinder haben und unsere biologische Hauptaufgabe – die Reproduktion – erledigt ist. Das Immunsystem reagiert zwar auf die Kopierfehler, aber zu wenig, um uns effektiv zu schützen.
Krebszellen zeigen sich aber auch manchmal von einer ganz anderen Seite. Sie können das Immunsystem bei der Krebsabwehr sogar unterstützen. Womit wir bei einem Ihrer Forschungsschwerpunkte sind. Die Resultate versprechen viel.
Erfreulicherweise ja. Nach einer Brustkrebstherapie zum Beispiel gelten fast 80 Prozent der Patientinnen als geheilt, das ist gut, könnte aber noch besser sein. Wir haben nun festgestellt, dass gewisse Tumorzellen, die eine Chemotherapie überleben, eine Immunreaktion im Körper auslösen, wie sie das System sonst gegen Viren in Gang setzt. Mit anderen Worten: Zellen, die eigentlich hätten sterben sollten, aktivieren nun das Immunsystem. Als Folge dieser Reaktion fallen diese Tumorzellen in einen Dauerschlaf und sind nicht mehr aktiv. Je länger sie in diesem Zustand verbleiben, desto besser. Also versuchen wir, die überlebenden Zellen mit begleitenden Therapien in diesen Tiefschlaf zu versetzen.
Lässt sich dieser Ansatz auch bei anderen Tumoren anwenden?
Theoretisch ja, etwa bei Krebsarten, bei denen sich Rückfälle oft erst nach vielen Jahren zeigen, konkret bei Melanomen oder Prostatakrebs. Auch hier besteht eine Chance, diesen Dauerschlaf weiter zu verlängern. Bei Lungen- oder Dickdarmtumoren, wo sich Rückfälle oft bereits nach wenigen Monate oder Jahren ereignen, wissen wir noch nicht, ob dieses Prinzip anwendbar ist.
Bei einem weiteren Ihrer Spezialgebiete geht es um Interaktionen zwischen Tumoren und Wirt. Anders gesagt: Krebszellen haben die Fähigkeit, umliegendes Gewebe zu ihrem Vorteil zu nutzen. Das wollen Sie verhindern.
Diese Interaktionen sind eine vergleichsweise junge Erkenntnis. Versuche zeigen, dass die meisten Krebszellen in vitro erstaunlicherweise nicht überleben. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Tumoren auf ihre Umgebung angewiesen sind. Sie brauchen das Gewebe ihres Wirts, um wachsen zu können. Etwas überspitzt gesagt: Krebszellen sind wie Kinder, die in ihrer Entwicklung unterstützt werden müssen. Also entwickelte man in einem ersten Schritt therapeutische Ansätze, um diese Unterstützung zu blockieren. Ein vielversprechender Ansatz waren die sogenannten Angiogenesehemmer. Damit sollten die Tumorzellen so ausgehungert werden, dass sie sterben. Doch der bekannte Mechanismus der Resistenz wiederholt sich: Die Krebszellen haben Wege gefunden, die Blockade zu umgehen. Meine Gruppe und ich versuchen nun die Wirkung der Angiogenesehemmer wieder sicherzustellen.
Es scheint, als sei der Krebs der Wissenschaft immer einen Schritt voraus.
Das ist wie mit den Hackern. Diese programmieren immer wieder neue Computerviren, gegen die wiederum neue Abwehrmassnahmen entwickelt werden müssen.
Geht es bei Krebs um Therapien, ist es eigentlich zu spät. Denn Krebs lässt sich manchmal verhindern. Ihre Forschung zeigt, dass es Zusammenhänge zwischen Fettleibigkeit und Brustkrebs gibt.
Ja. Wer übergewichtig ist, hat zum Beispiel ein erhöhtes Risiko, an Brust-, Leber- oder Dickdarmkrebs zu erkranken. Für Länder wie die USA oder Belgien, in denen rund 60 Prozent der Frauen einen Body-Mass-Index über 25 haben, ist das eine sehr wichtige Erkenntnis. Fettgewebe löst Entzündungsprozesse aus, die Krebs fördern. Da stellt sich natürlich die Frage: Was machen wir?
Und, was machen wir?
Wir versuchen diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem wir entzündliche Prozesse zu hemmen versuchen. Da kann man vieles bewirken. Zudem müssen wir die Früherkennung ausweiten. Das ist entscheidend, nicht nur bei Brustkrebs. Wird schwarzer Hautkrebs früh entdeckt, ist die Überlebensrate 100 Prozent, bei Dickdarm sind es 95 Prozent. Bluttests machen es heute möglich, bestimmte Krebsarten bereits in sehr frühen Stadien zu erkennen. Ich selbst war an der Entwicklung eines solchen Tests für die Erkennung von Dickdarmkrebs beteiligt – eine Erfolgsstory. Das will ich nun auf Brustkrebs ausweiten. Früherkennung verhindert Leiden, Schmerzen, Zeit im Spital und damit auch Kosten. Irgendwann müssen wir zwar alle sterben, aber es ist nicht das gleiche, ob mit 30 oder mit 80.
Nach einer Krebsdiagnose überleben heute durchschnittlich 50 Prozent der Betroffenen. Wird sich das noch verbessern?
Ja, mit Sicherheit. Der Trend zeigt klar nach oben. Schauen Sie Ihr eigenes Beispiel an. Sie sind vor bald zehn Jahren erkrankt und leben immer noch. Sie gelten als geheilt.
Ein Blick in die Zukunft. Kann CRISPR zu neuen Krebstherapien beitragen? US-Forschende wollen gegen Melanome vorgehen, indem sie mit Hilfe der Genschere die Immunabwehr des Körpers stärken.
Ich bin mir nicht sicher, ob das funktioniert. Ich sehe CRISPR eher als Weg, um monogenetische Krankheiten wie Zystische Fibrose oder gewisse Blutkrankheiten zu therapieren. Beim Thema Krebs sind meistens mehrere Gene beteiligt. Hier mit einer Genschere einzugreifen, ist nach dem heutigen Stand der Technik ein hoffnungsloses Unterfangen. Das erinnert mich an die Versuche auf Basis der Gentherapie, wie man sie in den neunziger Jahren verfolgte. Die Resultate waren enttäuschend.
Wir werden das Thema Krebs also nicht sobald los.
Nein. Wir haben zwar grosse Fortschritte gemacht, aber wir sehen erst die Spitze des Eisbergs – wissenschaftlich, technisch, medizinisch und auch finanziell. Also müssen wir weiter forschen, gleichzeitig aber besser nutzen, was an Erkenntnissen bereits vorhanden ist. Jeder Schritt nach vorne, ob gross oder klein, bringt uns weiter. Und solche Schritte geschehen immer wieder. Aber eben, zusammenfassend sehe ich ausser der Immuntherapie momentan keine bahnbrechenden Fortschritte. «The big thing» – die eine, allumfassende Lösung für Krebs – gibt es noch nicht.
Curzio Rüegg, geboren in Bellinzona, studierte Medizin, Immunologie, Zell- und Molekularbiologie in Basel, Zürich und San Francisco. Bis 2010 leitete er die Abteilung für Experimentelle Onkologie am Centre hospitalier universitaire vaudois in Lausanne und war Mitglied des Institut suisse de recherche expérimentale sur le cancer (ISREC). Seit 2010 ist Rüegg Professor am Lehrstuhl für Pathologie der Universität Freiburg und forscht in den Bereichen Tumorangiogenese, Metastasierung, Therapieresistenz und Biomarker. Rüegg ist zudem Mitbegründer von zwei Start-up-Unternehmen im Bereich der Krebserkennung.