Forschung & Lehre
«Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?»
Ob Heinrich Hoffmanns «Struwwelpeter» im Zappel-Philipp ein AD(H)S-Kind sah oder nicht, sei dahingestellt. Klar ist: Von Kinderrechten war 1844 noch keine Rede. Ganz anders in den «Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S im Entscheidungsprozess» des Instituts für Familienforschung- und beratung.
Der 8-jährige Max ist ein sogenannter Zappel-Philipp. Es fällt ihm schwer still zu sitzen, sowohl in der Schule, wie auch daheim am Tisch. Häufig vergisst er seine Schulbücher und Hausaufgaben. Immer wieder kommt es zu Reibereien auf dem Pausenplatz, oft wird er beim Spielen ausgeschlossen. Der Verdacht auf AD(H)S steht im Raum. Aber wie weiter?
Am Anfang steht die Diagnose
«Es gibt sehr unterschiedliche Formen und Ausprägungen der Aufmerksamkeits-defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)», erklärt Sandra Hotz. «Nicht alle davon betroffenen Kinder sind wild und impulsiv, wie man es bei den hyperaktiven Jungen und – weniger – Mädchen beobachtet. Möglich ist auch das Gegenteil, also die Hypoaktivität, die sich eher in einem verträumten Verhalten äussert.» Auch kann eine andere psychische oder physische Erkrankung dem auffälligen Benehmen zu Grunde liegen. Und letztlich leidet ja auch nicht jedes Kind, das etwas zappeliger und vergesslicher ist als andere, an einer psychischen Störung. «Genau deshalb ist es so wichtig, ein AD(H)S gründlich und richtig zu diagnostizieren», so Sandra Hotz. In Form eines Nachfolgeprojekts zur interdisziplinären Studie «Kinder fördern. Eine interdisziplinäre Studie zum Umgang mit AD(H)S» hat Hotz die Erarbeitung der Publikation «Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S im Entscheidungsprozess» geleitet. Im Fokus stehen: Die Kinder. «Kinder haben Rechte. Und diese Rechte müssen im Entscheidungsprozess zu einer Diagnose unbedingt wahrgenommen und eingehalten werden», betont die Juristin.
Ohne Information, keine Zustimmung
Angegangen ist Sandra Hotz das Thema AD(H)S mit dem Fokus auf den informed consent, dem Prinzip, das eine Zustimmung auf guter Information der oder des Betroffenen beruhen muss. Hotz hat sich zuvor im Bereich der Schönheitsoperationen mit der Frage befasst, wann jemand einer Behandlung oder einem Zugriff zustimmen kann und sollte. Dazu kommt der Aspekt des sogenannten enhancement, also der Frage, ob der Eingriff medizinisch auch nötig ist. «Kinder sind Rechts-subjekte und haben in Angelegenheiten, die sich auf ihre Zukunft auswirken, das Recht ihre Meinung zu äussern (Art. 12 KRK). In bestimmten Bereichen wird diesem Recht je länger je mehr entsprochen, etwa wenn es um die Anhörung der Kinder in Scheidungsfällen geht. Bei Gesundheits- und Schulfragen aber, tragen wir diesem Recht noch zu wenig Rechnung. Die Abklärung einer AD(H)S-Diagnose betrifft sowohl die Gesundheit, die Schule und die Familie: Also drei grundlegende Bereiche im Leben eines Kindes. Da scheint mir eine Mitsprache oder ein Recht auf Selbstbestimmung zwingend nötig», betont Hotz.
Kinder mit am Runden Tisch
Im Mittelpunkt der Handlungsempfehlungen stehen zwei Aufforderungen. Erstens soll das Kind den abklärenden Gesprächen beiwohnen und seine Meinung äussern dürfen. Zweitens ist darauf zu achten, dass die involvierten Personen, von den Eltern über die Lehrperson bis hin zu medizinischen Fachpersonen, sich am Runden Tisch versammeln und gemeinsam den Weg zu einer Diagnose gehen. «Es geht um einen Perspektivenwechsel. Um die Frage, wie das Umfeld verändert werden kann, um dem Kind zu helfen. Im Fokus stehen nicht die Symptome, sondern das Kind. Ziel ist es, alle verfügbaren Optionen zu prüfen, bevor im Falle eines AD(H)S zu Medikamenten gegriffen wird», so Sandra Hotz. Mit den gemeinsamen Gesprächen soll vermieden werden, dass sich Eltern und Lehrer in Diskussionen verlieren oder ein Arzt etwa nur die medizinische Sichtweise im Blick hat. Sitzt ein Kind mit am Tisch, würden sich auch die Erwachsenen anders benehmen, ist Hotz überzeugt. Sie denkt dabei aber auch an die Eltern, die nicht selten von einer Fachperson zur nächsten pilgern und mit ebenso vielen Meinungen konfrontiert werden. Eine auf das Kind bezogene kompetente gemeinsame Diskussion kann solche Zwickmühlen vermeiden, indem auf eine Lösung hingearbeitet wird, die sowohl von der Lehrperson, den Eltern, der medizinischen Fachperson und dem Kind gestützt wird. Letztendlich aber, muss in erster Linie das Kind mit einer Entscheidung einverstanden sein. «Sträubt sich ein Kind beispielsweise klar gegen die Einnahme von Medikamenten, so sollten wir dies respektieren.»
Die Handlungsempfehlungen stellen sich nicht grundsätzlich gegen eine medikamentöse Therapie. «Der Einsatz von Medikamenten kann einem Kind mit AD(H)S das Leben erleichtern und angebracht sein. Diese Möglichkeit sollte aber erst in Betracht gezogen werden, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind oder als nicht sinnvoll erachtet werden.» Bereits kleine konkrete Hilfestellungen im Elternhaus oder in der Schule können einem Kind mit AD(H)S helfen, ist Hotz überzeugt. So etwa das Bereithalten eines Reservesatzes an Büchern in der Schule, das Markieren mit Leuchtstift eines wichtigen Satzes in einem Test oder ganz einfach ein kurzes Nachfragen, ob das Kind eine wichtige Information, in einer Prüfung etwa, auch sicher gelesen hat. «Solche Aufmerksamkeiten kosten wenig Aufwand, können für ein Kind, das durch ein AD(H)S ständig unter Stress steht, aber bereits Entspannung bringen.» Auch Verhaltenstherapien, Ausgleich durch Sport oder Musik oder etwas zusätzliche Zeit für das betroffene Kind von Seiten der Eltern würden in gewissen Fällen bereits Wirkung zeigen. Grundlegend ist, so die Handlungsempfehlungen, dass AD(H)S als Querschnittsthematik zwischen Familie, Gesundheit und Schule erkannt wird und die verschiedenen Massnahmen sich ergänzen und nicht entgegenlaufen. Zu beachten sei ausserdem das Prinzip der Verhältnismässigkeit: So ist stets die «mildeste» Massnahme zuerst zu wählen. Ist eine Medikation unumgänglich, um die Lebensqualität des Kindes zu verbessern, so müsse diese kompetent begleitet und deren Wirkung immer wieder evaluiert werden, unterstreicht Sandra Hotz. «Ich denke an den Fall einer alleinerziehenden Mutter, der das Rezept für Ritalin alljährlich per Post zugeschickt und so verlängert wurde. So etwas ist inakzeptabel.»
AD(H)S im Aufmarsch?
In der Schweiz wie auch international geht man von zwei bis sieben Prozent von AD(H)S betroffenen Kindern aus. Empirische Zahlen zur Entwicklung und Verteilung von AD(H)S für die gesamte Schweiz gibt es noch keine. «Es ist sehr schwierig, an diese Daten zu kommen. Es gibt beispielsweise nur eine Krankenkasse, die Zahlen publiziert hat», erklärt Hotz den Mangel an harten Fakten. Gefühlsmässig aber ist klar: AD(H)S hat zugenommen. Die Rede ist bisweilen gar von einer «Mode-Erscheinung». «Kinder sind heute einem anderen Druck ausgesetzt als früher. Familien sind tendenziell kleiner geworden. In einer Kleinfamilie fällt ein etwas wilderes Kind mehr auf als in einer Familie mit vier Kindern. Auch hat der Fokus der Eltern auf die Kinder zugenommen. Die Tendenz liegt in der Frühförderung, was auch eine frühe Abklärung beinhaltet. Darin sehe ich nichts Negatives», erklärt Sandra Hotz. «Man denke an die Geschichten vom Zappel-Philipp oder vom Hans Guck-in-die-Luft. Diesen Kindern wurde kein Verständnis entgegengebracht!»
Die Handlungsempfehlungen gehen auf das interdisziplinäre und multizentrische Forschungsprojekt «Kinder fördern. Eine interdisziplinäre Studie zum Umgang mit AD(H)S» der Universität Freiburg, der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und des Collegium Helveticum (ETH/UZH/ZHdK zurück und wurden co-geleitet von PD Dr. iur. Sandra Hotz. Das Projekt wurde von der Mercator Stiftung Schweiz mitfinanziert. «Kinder fördern. Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S im Entscheidungsprozess», Freiburg, 2018. Die Publikation ist gratis erhältlich unter hotz@med-fam-law.ch
Unsere Expertin PD Dr. iur. Sandra Hotz ist Privatdozentin am Institut für Familienforschung- und Beratung. Sie lehrt u.a. auch Gender Law an der Uni Basel und ist als Rechtsanwältin tätig.