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Best of Bologna

Vor 20 Jahren wurde die europäische Hochschulreform in Bologna aus der Taufe gehoben. Auch in der Schweiz hat sich die Hochschulbildung dadurch stark verändert. Zum Guten oder zum Schlechten? Im Gespräch mit der Vizerektorin Chantal Martin Sölch und dem akademischen Direktor Lukas Bucher.

Erinnern Sie sich noch daran, wie Bologna an der Universität Freiburg Einzug gehalten hat?

Lukas Bucher: Ich erinnere mich gut an diese Zeit. Insgesamt wussten wir ja sehr wenig über die Bologna-Reform. Aus der Deklaration ging hervor, dass das Studium neu in eine Bachelor- und eine Masterstufe aufzuteilen ist, die wiederum einer gewissen Anzahl ECTS-Punkten zu entsprechen haben. Auf dieser Basis galt es zu überlegen, wie wir das jetzt genau umsetzen.

Jeden einzelnen Studiengang neu strukturieren und gleichzeitig den Lehrbetrieb aufrechterhalten: Das klingt nach viel Arbeit.

Lukas Bucher: Wir hatten etwas zusätzliche Mittel, die den Fakultäten, die für die Umsetzung zuständig waren, etwas Luft verschafften. Entsprechend ging die Umstellung an der Uni Freiburg recht schnell über die Bühne. Als erste haben 2002 die Rechtswissenschaften einen Bachelor eingeführt; die Wirtschaftswissenschaften und die Informatik brachten im selben Jahr sowohl den Bachelor wie auch den Master hervor. 2003 und 2004 folgten die anderen Fakultäten. Ich denke, die Zeit war auch reif für eine Reform der Studiengänge.

Hand aufs Herz: Wurde ein Lizentiat einfach mehr oder weniger in Bachelor und Master aufgeteilt?

Chantal Martin Sölch: Zu Beginn wurden die Bachelor und Master tatsächlich auf der Basis des Existierenden geschaffen und waren sehr nahe am Lizentiat. Im Laufe der Zeit haben wir mit den neuen Instrumenten zu arbeiten gelernt und sind heute in der Lage, Neues zu schaffen auf der Basis dieser Erfahrungen. Wir wissen die ECTS, die Module, die Durchlässigkeit und die Passerellen zu nutzen und können damit neue Studiengänge aufbauen. Es ist absolut kein Vergleich mehr zu den Anfängen.

Haben die anfänglichen Schwierigkeiten auch damit zu tun, dass man in der Schweiz der humboldtschen Tradition treu war und dann sozusagen in ein angelsächsisches System gepresst wurde?

Chantal Martin Sölch: Auf jeden Fall. Es gab viel Kritik, gerade auch von Seiten der Studierenden. Man sprach von «Kumuluspunkt-Mentalität», vom «Lernen nur noch für die Prüfung». Diese Kritik war gerecht und ist es zu Teilen wohl noch immer. Andererseits hat Bologna wahnsinnig viel ermöglicht, das früher nicht machbar war. Es wurde ein europäischer Bildungsraum geschaffen, den es vorher nicht gegeben hatte. Dieser erstreckt sich sogar über den europäischen Raum hinaus: Studierende von mir können heute in den Libanon gehen und erhalten dieselben ECTS wie an ihrer Heimuniversität.

 

Lukas Bucher  © STEMUTZ.COM

Man hört und liest immer wieder, dass die straff organisierten Studienpläne die Mobilität stark einschränken würden.

Chantal Martin Sölch: Das stimmt. Jedenfalls in der ersten Phase von Bologna. Jetzt stehen wir sozusagen am Anfang von Bologna 2.0 und müssen überlegen, wie wir die Studiengänge etwas flexibler gestalten und somit mehr Austausche ermöglichen können. Wichtig ist auch das Studienangebot in Englisch, denn es kommen keine Studierenden ohne Französisch- oder Deutschkenntnisse nach Freiburg, wenn hier kein Englisch angeboten wird.

Hat die Mobilität an der Uni Freiburg mit Bologna zugenommen?

Lukas Bucher: Wenn man von Mobilität spricht, darf man jene zwischen Bachelor und Master nicht vergessen. Das ist ein Riesenbeitrag von Bologna. Heute können die Studierenden sich nach einem Bachelor überlegen, in welche Richtung sie weitermachen wollen und auch wo sie weiterstudieren möchten. Eine gewaltige Errungenschaft! Wer das Lizentiat gekannt hat, der weiss, dass so ein Richtungswechsel sozusagen unmöglich war. Heute ist es möglich, einen zweiten Master zu machen. Vielleicht nicht direkt nach dem ersten, aber ein paar Jahre später. So kann jemand mit einem Master in Geisteswissenschaften zusätzlich einen Master in Wirtschaftswissenschaften absolvieren. Das gibt ganz neue und sehr spannende Profile.
Hinzu kommt die Mobilität zwischen Hochschultypen, also zwischen Fachhochschulen, Pädagogischen Hochschulen und den Universitäten. Auch das ist ein grosses Plus für die Studierenden und sie nutzen dieses Angebot rege – weit mehr, als man anfänglich dachte.

Chantal Martin Sölch: Mit Bologna wurde die höhere Ausbildung für alle zugänglich. Auch wer eine Lehre absolviert, kann später noch an die Universität. Früher wurden die Weichen sozusagen am Ende der Primarschule gestellt. Heute ist das System viel weniger elitär. Das finde ich schön.

Zu den Zielen von Bologna gehören auch das frühere Eingliedern der Studienabgänger_innen in die Arbeitswelt sowie eine bessere Arbeitstauglichkeit nach dem Studium. Wenn man die Zahlen anschaut, scheinen diese Ziele nicht erreicht. Die wenigsten begnügen sich mit einem Bachelor.

Chantal Martin Sölch: Ich denke, man muss da klar differenzieren zwischen Fachhochschulen und Universitäten. Die Fachhochschulen haben Bachelor, die auf einen Beruf vorbereiten und deren Abgänger_innen, beispielsweise Lehrer oder Krankenschwestern, nach dem Studium in die Arbeitswelt starten. Es stimmt, dass die Wirtschaft gerne auch mehr Uni-Bachelor auf dem Markt hätte. Eine Art Generalisten, die dann weiter ausgebildet werden können, auch im Unternehmen selber. Mag sein, dass die Universitäten noch nicht so denken und dass auch die Studierenden sich nach einem Bachelor noch nicht reif genug für den Arbeitsmarkt fühlen. Im Gegensatz zum anglosächsischen Raum fühlt sich der Bachelor bei uns noch immer etwas wie ein Halblizentiat an.

Dies unterlegen auch die Zahlen: Rund 85 Prozent der Studierenden machen einen Master; die meisten davon gleich nach dem Bachelor. Die Wirtschaft wünschte sich, dass zwischen Bachelor und Master vermehrt Praktika absolviert werden.

Lukas Bucher: Das Ziel der Unis war es nie, die Studierenden möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu entlassen. Die Wirtschaft in der Schweiz braucht Leute, die möglichst gut ausgebildet sind. Wer einen Master in der Tasche hat, dem stehen auch Tür und Tor offen zu höheren Weiterbildungen. Und genau dies setzen Unternehmen heute voraus, ein lebenslanges Lernen. Da decken sich die Interessen der Wirtschaft und der Universitäten dann wieder. Siehst du das auch so?

Chantal Martin Sölch: Ich bin da gespalten. Wenn ich zurückdenke an meine Zeit an der Universität Basel, da gab es schon einen Teil der Studierenden, die klar den Bachelor zum Ziel hatten. Weil sie wussten, dass sie damit eine Arbeit finden. Es ist wohl auch eine Frage des Arbeitsmarkts im Umfeld einer Universität. Auf der anderen Seite hat sich auch etwas geändert in der Mentalität der Studierenden. Sie denken langfristiger. Vom Bachelor über den Master bis hin zur Weiterbildung. Man kann sich heute interessante Curricula zusammenstellen.

Lukas Bucher: Wenn die Studierenden langfristig denken, sollten wir dies als Uni auch tun. Wir bilden ja Menschen aus für die Gesellschaft und nicht ausschliesslich für den Arbeitsmarkt.

Chantal Martin Sölch: Ausserdem sollten Studierende auch die Möglichkeit haben, mal einen Kurs zu belegen, der nichts «bringt» – jedenfalls nicht auf dem Arbeitsmarkt. Einfach aus Neugierde und Interesse. Sonst kommen wir zu einer Armut des Wissens.

Gerade dieses Wandernlassen des Geistes wurde mit dem Bologna-Prozess und dessen Prüfungsmarathons vielleicht etwas erstickt.

Chantal Martin Sölch: Es gibt ja zum Glück verschiedene Prüfungsmodalitäten. Wobei die Anzahl Studierender natürlich auch die Kreativität der Prüfenden beeinflusst. In einer mündlichen Prüfung oder in einem Essay haben die Studiereden durchaus die Möglichkeit, ihren Geist wandern zu lassen. Da geht es ja nicht nur um pures Auswendiglernen.

Insgesamt hat sich mit Bologna die Anzahl Studierender im Verhältnis zu den Dozierenden verschlechtert, d.h. es gibt zu viele Studierende auf eine Lehrperson. Wie ist das an der Uni Freiburg?

Chantal Martin Sölch: Was die Psychologie angeht, so ist diese Entwicklung leider auch spürbar. Ich habe gerade ein Seminar auswerten lassen und alle haben geschrieben: «Raum zum klein».

Lukas Bucher: Das wusstest du ja schon (lacht).

Chantal Martin Sölch: Stimmt. Und es ist mir ein Anliegen, das gerade die Fächer, die viele anziehen, die nötigen Mittel erhalten, damit die Studierenden nicht darunter leiden müssen. An der Uni Freiburg stand die Qualität der persönlichen Betreuung immer im Zentrum. Dafür wollen und werden wir uns auch weiterhin einsetzen.

Die Kontrolle während des Studiums ist strenger geworden als unter dem Lizentiats-System.

Chantal Martin Sölch: Eine gewisse Freiheit existiert immer noch. Schliesslich entscheidet der Dozent oder die Dozentin, ob die Anwesenheit Pflicht ist. Wenn dies nicht der Fall ist in einem Seminar, dann gestalte ich die Prüfung so, dass die Studierenden sie auch mit dem Lesen des Skripts absolvieren können. Ausserdem – und das ist ganz wichtig: Die vielzitierte straffere Struktur und die regelmässigen Prüfungen sind für viele Studierenden auch eine Erleichterung.

Lukas Bucher: Absolut!

Chantal Martin Sölch: Nach dem Gymnasium an die Uni zu kommen ist ein grosser Stress. Plötzlich steht man in einem Auditorium mit vielleicht 200 Studierenden. Man hat nicht mehr die Möglichkeit, mit dem Dozierenden einfach so spontan zu sprechen. Da hilft es schon, wenn man genau weiss, was verlangt wird und wie das Studium aufgebaut ist. Wer mehr Flexibilität will, der findet immer einen Weg. Als junge Liz-Studierende damals waren wir komplett verloren. Es gab keine klaren Studienpläne, keine Skripts, keine Powerpoints... wir fühlten uns ziemlich alleine. Und den Dozierenden war das Wohl der Studierenden nicht immer ein Anliegen. Heute ist auch der Lehrkörper anders gefordert.

Hat der administrative Aufwand seit Bologna zugenommen für die Dozierenden?

Chantal Martin Sölch: Also der ist vor allem gross für das Sekretariat! Natürlich gibt es auch für die Dozierenden etwas mehr Administration. Aber es ist alles klar definiert. Früher gab es viel mehr Durcheinander, das war sicher auch nicht einfach für die Studiensekretariate.

Hat der Druck auf die Studierenden zugenommen?

Chantal Martin Sölch: Das glaube ich schon, ja.

Chantal Martin Sölch  © STEMUTZ.COM

Wieso?

Chantal Martin Sölch: Einerseits sicher wegen der vielen Prüfungen. Es muss mehr geleistet werden, das muss ich zugeben. Die so genannten ewigen Studierenden haben nicht mehr dieselben Chancen wie früher. Auch die Konkurrenz zwischen den Studierenden ist spürbarer.

Lukas Bucher: In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Gesellschaft völlig verändert. Es ist nicht nur Bologna.

Chantal Martin Sölch: Das stimmt natürlich. Es ist alles viel schneller geworden. So wollen viele Studierende ihren Master in maximal zwei Jahren machen. Sie wollen fertig werden, Geld verdienen. Damit setzten sie sich selber unter einen Riesendruck und sind daher am Ende des Semesters total erschöpft. Ich versuche dann jeweils, sie zu etwas Gelassenheit zu animieren. Ein Semester mehr ist ja kein Unglück. Aber bei gewissen spüre ich auch einen finanziellen Druck.

Sie haben die Konkurrenz und den Wettbewerb angesprochen. Hat mit Bologna auch das Marketing an den Universitäten Einzug gehalten? Früher ging ja das nicht so gut zusammen.

Lukas Bucher: Nein, das ging nicht so gut. Das waren zwei Kulturen. Und es sind manchmal immer noch zwei Kulturen (lacht). Aber natürlich, das Marketing hat sich an allen Universitäten stark entwickelt in den letzten zwanzig Jahren. Wobei es international gesehen in gewissen Ländern schon viel früher begonnen hatte als in der Schweiz. Gerade auch an privaten Universitäten.

Die Idee, in einem Bus für einen Master-Studiengang zu werben hat nicht allen gefallen.

Lukas Bucher: Das Marketing treibt ja ab und zu auch merkwürdige Blüten. Wir wollen nicht einfach etwas verkaufen. Wir wollen die richtigen Leute finden. Und wir müssen auch bieten können, was wir versprechen. Ein Plakat ist schnell gemacht, aber die versprochene Leistung dahinter muss auch stimmen.

Chantal Martin Sölch: Es ist zweifellos wichtig, sein Angebot bekannt zu machen. Und für die Universitäten ist es auch nicht schlecht, über das Angebot nachdenken zu müssen. Es animiert uns dazu, nicht stehenzubleiben, innovativ zu bleiben. Denn tatsächlich: Wer einen Studiengang anpreist, der muss auch für dessen Qualität einstehen können.

Im Rahmen von Bologna 2.0 spricht man viel von lifelong learning.

Chantal Martin Sölch: Absolut. Die lebenslange Weiterbildung. Es geht darum, dass die Absolventinnen und Absolventen sich in ihrem Berufsfeld stets weiterbilden. Das ist auch für die Universitäten eine Herausforderung, denn die Weiterbildung gehört ja mit zu deren Auftrag. Im Gegensatz zu den Bachelor- und Masterabschlüssen orientieren sich die Weiterbildungen aber viel stärker an den Bedürfnissen des Marktes. Leute, die arbeiten, die brauchen einen guten Grund, um einen Teil ihrer Freizeit in einer Weiterbildung zu verbringen und dafür auch noch viel zu bezahlen. Der Vorteil einer universitären Weiterbildung sind wiederum die ECTS-Punkte, die natürlich auch international Gültigkeit haben.

Lukas Bucher: Oft vergisst man die Weiterbildung im Zusammenhang mit Bologna. Dabei hat diese Reform enorm viel gebracht in diesem Bereich. Die Transparenz des Angebotes, die klare Gliederung in CAS, DAS, MAS. Durch die Credits sind auch die Angebote besser zu vergleichen.

Wo sehen sie insgesamt noch Verbesserungsbedarf im Bologna-Prozess?

Chantal Martin Sölch: In der Flexibilität der Studiengänge. Gerade auch in Bezug auf Studierende, die aus einem bestimmten Grund kein Vollzeitstudium absolvieren können. Auch die Digitalisierung ist natürlich ein Thema, das wir noch stärker anpacken werden. Genauso wie die Interdisziplinarität in der Lehre. Wir haben da bereits einige Angebote, könnten uns aber noch mehr profilieren. Nicht zuletzt soll die Mobilität weiter gefördert werden, auch jene innerhalb der Schweiz. Mit der Zweisprachigkeit hat die Uni Freiburg einen Trumpf in der Hand, der unbedingt noch mehr eingesetzt werden muss.

Lukas Bucher: Bei mir steht auch die Flexibilität zuoberst auf der Liste. Sie ist ein Teil der Zukunft. Leute, die berufstätig sind, die Kinder haben sollen nicht auf ein Studium unter guten Bedingungen verzichten müssen, weil der Studienplan es nicht zulässt. Ab Herbst haben wir neu einen Bachelor-Studiengang in den Rechtswissenschaften, der in Teilzeit absolviert werden kann. Basierend auf den Erfahrungen mit diesem Teilzeitbachelor werden wir bestimmt weitere solche Studiengänge ins Auge fassen.

Chantal Martin Sölch: Wir stehen am Anfang – auch wenn wir dieses Jahr zwanzig Jahre Bologna feiern. Die Bildungslandschaft ist ständig im Wandel, genau wie die Gesellschaft selber. Das ist spannend.

 

Lukas Bucher ist akademischer Direktor der Universität Freiburg und als solcher zuständig für alle zentral erbrachten Dienstleistungen zum Studium.

lukas.bucher@unifr.ch

Chantal Martin Sölch ist Professorin am Departement für Psychologie und als Vizerektorin zuständig für die Bereiche Lehre, Weiterbildung und Gleichstellung.

chantal.martinsoelch@unifr.ch