Dossier
Kunst ohne Copyright
Michele Bacci erforscht einen historischen Konfliktherd, der sich bei näherer Betrachtung als kreativer Schmelztiegel erweist. Er weiss: Die rund um das Mittelmeer angesiedelten Kulturen des Mittelalters haben sich zumindest auf der künstlerischen Ebene nie unabhängig voneinander entwickelt.
«Athen ist das neue Berlin», schrieb die NZZ am Sonntag unlängst. Die Künstler zieht es zwar eher der tiefen Mieten und nicht in erster Linie des mediterranen Lebensgefühls wegen nach Süden, aber womöglich ist Athen ja auch kulturgeografisch interessanter gelegen als die ein wenig selbstbezogene brandenburgische Metropole. Nach Izmir rüber gute 200 Kilometer, Istanbul ist auch nicht weit. Im Süden das Mittelmeer, Kreta, dann Afrika. Im Norden der Balkan, im Westen Italien – es ist eine reiche Mischung da unten. Und die Generation Easyjet lässt sich gern inspirieren, 2017 war die documenta zu Besuch, letztes Jahr machte die Manifesta Halt in Palermo, dieses Jahr ist Matera in Süditalien Europäische Kulturhauptstadt. Die Kunstinteressierten reisen hin. Und La Biennale in Venedig ist ja auch noch; man trifft sich, man tauscht sich aus.
Kunst trotz Krieg
Ähnlich hat man das schon im Mittelalter getan. Michele Bacci weiss viel davon zu erzählen, der Mittelmeerraum steht seit Jahrzehnten im Mittelpunkt seiner Forschung. Zu den spezifischen Themen, mit denen sich der Kunsthistoriker auseinandergesetzt hat, gehören die Tätigkeit westeuropäischer Künstler im östlichen, griechisch- und arabischsprachigen Mittelmeerraum und der Umgang mit byzantinischen Ikonen und islamischen Kostbarkeiten in Westeuropa. Die Künstler reisten schon immer, sagt Bacci, schon im 10. Jahrhundert seien fränkische Maler nach Armenien gefahren. Im Mittelalter dann intensivierte sich dieser Austausch rund um das Mittelmeer – denn nun treffen hier drei «Hauptzivilisationen» in ihrer jeweiligen Blüte aufeinander: die lateinisch-westliche, die byzantinische und die islamische. Wie gut man sich politisch vertrug, spielte dabei keine zentrale Rolle, der künstlerische Austausch hielt immer an: «Man kann sagen, dass die drei Machtblöcke eigentlich immer im Krieg miteinander waren. Aber im Krieg stehen bedeutet eben auch: in Kontakt.»
Und es reisten nicht nur die Künstler, es reisten auch künstlerische Objekte. Es handelte sich schliesslich um Waren, und das dichte Netz von Verbindungen übers ganze Mittelmeer: in erster Linie Handelswege. Die Preziosen aus anderen Kulturen galten im gesamten Mittelmeerraum als begehrenswert, so konnte es zum Beispiel vorkommen, dass Elfenbeinkisten islamischen Typus auch für sakrale Objekte in Europa Verwendung fanden. Die «Kostbarkeit» eines Objektes sei also ganz unabhängig von seiner kulturellen Provenienz geschätzt worden, so Bacci. Mit den Menschen und den Objekten reisten auch die Stile. Und vermischten sich. Das macht die Kunstgeschichte entsprechend kompliziert. Vor allem, wenn man sie gern ein wenig nationalistisch lesen möchte, wie es im 19. Jahrhundert gang und gäbe war. Damals mussten historische Blicke auf Kunst und Literatur ein Weltbild zu fundieren helfen: dass Nationen nämlich über tief verwurzelte und vor allem klar voneinander unterschiedene Identitäten verfügen, eben schon bevor sie sich als Nationen verstanden. Bacci hat einen etwas anderen Blick, er hat seine Forschung auf die Untersuchung der Dynamiken zwischen den «Blöcken» fokussiert, auf die Formen des Austauschs also zwischen den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Künsten von Westeuropa, Byzanz, und den islamischen Kulturen.
Und in diesem Blick taucht dann plötzlich die Kathedrale von Pisa auf, zum Beispiel, die früher von der Kunstgeschichte lieber ein wenig beiseitegeschoben wurde, weil sie auf ganz unverkrampfte Weise byzantinische und islamische Elemente integriert. So ein Bauwerk taugte nicht, um eine polierte italienische Kulturhistorie zu erzählen. Ganz ähnlich war Venedig «für die italienische Kunstgeschichte immer problematisch», sagt Bacci und hat gleich wieder ein Bündel neuer Geschichten auf Lager für das Hin und Her, das Kunstgeschichte in der moderneren Lesart nun einmal ist. Zum Beispiel vom venezianischen Handelsmann, der seiner erkrankten Frau von einem lokalen Künstler eine Ikone im byzantinischen Stil malen liess, das war billiger als ein Original. Diese liess allerdings in ihrer Wirkung zu wünschen übrig, also blieb dem Mann nichts anderes übrig, als eine echte Ikone zu besorgen, die dann auch dementsprechend «heilsam« war. Venedig habe zu der Zeit so etwas wie ein Monopol auf Ikonenmalerei besessen, sowohl was Import wie auch Imitation angeht.
Venedig ist ein Paradebeispiel für eine dieser mediterranen Handels- und Kunststädte, die den Mittelmeerraum zu einem Schmelztiegel der Ideen gemacht haben – und die schon immer eine grosse Anziehungskraft auf Künstler ausübten, auch wenn diese Kraft damals ein wenig anders ausgeprägt war als heute. Es sei sicher ein «zu moderner Gedanke», sich mittelalterliche Städte wie Damaskus, Jerusalem oder Konstantinopel als kosmopolitische, in einem heutigen Sinn «weltoffene» Zentren vorzustellen, die kreative Geister eines Lebensgefühls wegen angelockt hätten. Bacci verweist lieber auf die Verbindung von Multikulturalität und Handel: diese kunterbunten Hafenstädte waren nicht nur im übertragenen kulturellen, sondern auch im ganz buchstäblichen Sinn sehr reich. Und die Künstler seien dahin gereist, wo es Arbeit und Auskommen gab – «sie haben die besten Orte gesucht, um Aufträge zu bekommen».
Manche dieser Orte haben ihren mythischen Charakter bis heute behalten, andere sind längst vergessen. Bacci hat sich zum Beispiel intensiv mit mehrsprachigen und transreligiösen Städten wie Famagusta auf Zypern beschäftigt. Ein anderes Gebiet, das den Forscher besonders fasziniert, ist Palästina während der Zeit der Kreuzfahrer. In dem Zusammenhang hat er sich als Mitglied eines internationalen akademischen Konsortiums um die Geburtskirche in Bethlehem gekümmert. Dieses wurde von den palästinensischen Behörden für die wissenschaftliche Untersuchung und die Restaurierung des einmaligen Denkmals beauftragt.
Was die verschiedenen Kulturen aneinander schätzten, sei sehr vielschichtig gewesen – und dabei sehr selektiv. Auf Zypern zum Beispiel gebe es griechische Kathedralen, die gotischen Typus sind – der Baustil genoss eine grosse Bewunderung im ganzen Mittelmeerraum. Und in der Alhambra seien die Decken mit Malereien verziert worden, die Motive aus französischen Romanen zeigen – dies, weil die islamische Kunst selbst keine figürliche Tradition kennt. Bacci scheut sich nicht, in dem Zusammenhang das in den Ohren heutiger Kunstliebhaber vielleicht ein wenig hässlich klingende Wort «nützlich» zu brauchen. Man imitierte sehr gezielt, man eignete sich einfach alles an, was einen Nutzen versprach, also eigentlich eher Flohmarkt als wahlloser Schmelztiegel. Ein freier Austausch der Ideen und Inspirationen, wie ihn auch die Digitalapostel einmal erträumt hatten, ein grosses und dabei sehr pragmatisches Copy and Paste. Wenn wir reisen und entdecken, wenn wir uns vom Fremden inspirieren lassen, gibt es auch heute noch kein Copyright.
Unsere Experte Michele Bacci ist Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters.