Dossier
Alte Schriften auf neuen Kanälen
Soziale Medien sind aus der Wissenschaft nicht mehr wegzudenken – und sie bestimmen mittlerweile auch, worüber geforscht wird. Ein Geistes- und ein Naturwissenschaftler äussern sich über Chancen und Gefahren unserer digitalen Möglichkeiten.
Soziale Medien beeinflussen die Forschung. Davon ist Christoph Flüeler, Professor für Historische Hilfswissenschaften und Mittellatein, überzeugt. Eines seiner wichtigsten Projekte ist e-codices, die virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz. Ihr Ziel ist es, alle mittelalterlichen und eine Auswahl neuzeitlicher Handschriften der Schweiz über eine virtuelle Bibliothek frei zugänglich zu machen. 2048 Handschriften sind bereits online, es kommen laufend neue hinzu. «Der Kontakt zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist uns dabei sehr wichtig», sagt Flüeler. Forschende würden teilweise über Jahrzehnte an einer einzigen Handschrift arbeiten. «Wenn sie bestimmte Handschriften online zugänglich haben wollen, versuchen wir, die Bibliotheken, zu überzeugen.» Es sind aber nicht nur Forschende, die mit e-codices in Kontakt treten. Jährlich bewegen sich nach eigenen Angaben mehr als 130’000 Nutzerinnen und Nutzer auf der Seite. «Die Zahlen sind erstaunlich. Weltweit sind es vielleicht rund 5’000 Forschende, die sich für unsere Handschriften interessieren. Alle anderen folgen uns, weil sie alte, ästhetische Bilder schätzen, ein historisches Interesse an schönen Büchern haben und einen Einblick in unsere Arbeit erhalten. Es besteht in der Tat eine kontinuierlich wachsende Community», erklärt sich Flüeler das Phänomen.
Immer mehr, immer schneller
Um ein grosses Publikum zu erreichen, setzt e-codices soziale Medien ein. Die Facebook-Fanpage wurde bisher rund 11’000 Mal abonniert. «Ideen lassen sich über Social Media nun mal schnell aufgreifen und mit anderen teilen und insbesondere auf Facebook auch ausserhalb wissenschaftlicher Kreise», stellt Flüeler fest. Das sehe er als grossen Vorteil. Simon Sprecher, Professor am Departement für Biologie, sieht den Nutzen für die Naturwissenschaften vor allem auf Twitter: «Kongresse und Konferenzen erreichen mehr Menschen, Forschungsresultate und Informationen über aktuelle Daten von Wissenschaftsjournalen lassen sich schneller kommunizieren, teilweise schneller als über Webseiten. Es geht aber allen immer noch zu sehr um den Impact Factor, auch wenn sich jeder darüber beschwert» In der Tat, die wissenschaftliche Produktion ist in den letzten Jahren explodiert und die Aufmerksamkeit für die einzelnen Publikationen ist immer härter umkämpft. Mehrere hundert Artikel pro Jahr werden nach ihrer Publikation wieder zurückgezogen, weil nicht sauber gearbeitet wurde. Manche Forschende sind mittlerweile so davon genervt, dass sich eine Slow-Science--Bewegung gebildet hat. «Der Nachteil ist die Schnelllebigkeit. Jeder kann etwas veröffentlichen, was dann die sogenannte Community aufnimmt und viral gehen kann. Das bringt viele Probleme mit sich», ergänzt Sprecher. Christoph Flüeler sieht es ähnlich. Geisteswissenschaftliche Forschung sei aber, anders als die Naturwissenschaften, normalerweise eine eher langsame Angelegenheit. «Das langsame, sorgfältige Recherchieren muss genauso möglich sein wie die rasche Zurverfügungstellung von viel Material», sagt Flüeler. «Deshalb habe ich eine internationale und interaktive Plattform erschaffen, die beide Arbeitsformen ermöglicht». Die Rede ist von Fragmentarium, dem vielleicht besten Beispiel dafür, wie soziale Medien die Forschung beeinflussen.
Soziale Medien machen Wissenschaft
Für die Plattform Fragmentarium hat Flüeler kommunikative Elemente der Social Media übernommen und angewandt: «Wir nutzen die Idee der sozialen Medien und entwickelten eine digitale Plattform, um von Usern generierte Inhalte auf möglichst effiziente Weise zu ermöglichen. Über Fragmentarium lassen sich in Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern Hunderttausende von Handschriftenfragmenten der ganzen Welt erschliessen. Angefangen haben wir mit einigen grossen Bibliotheken, da war es noch ein geschlossenes Laboratorium mit ausgewählten Playern. Nach drei Jahren soll die Plattform nun auch für andere zugänglich werden», verspricht Flüeler. Einen weiteren Vorteil von Fragmentarium sieht er aber ganz woanders: «In den Geisteswissenschaften arbeiteten Forschende bisher wenig im Team. Jetzt haben sie die Möglichkeit, neue soziale Kontakte zu knüpfen. Die Forschung lebt ja davon, dass man sie mit anderen teilt und sich regelmässig darüber austauscht». Was aber macht diese Plattform so einzigartig? Pergament war früher sehr kostbar, hielt als Material aber auch sehr viel aus. Deshalb wurde es immer wieder verwendet. Die alten Handschriften sind voll von beschriebenen makulierten Pergamentfragmenten, z.B. in den Einbänden. «Eine systematische Untersuchung war nur schon aufgrund der riesigen Mengen bisher nicht möglich. Nun ergibt sich mit Fragmentarium ein riesiges Forschungspotenzial auf allen Kontinenten», sagt Flüeler stolz. Soziale Medien beeinflussen Forschung also nicht nur, sie gestalten sie aktiv mit: «Jetzt lassen sich Handschriftenfragmente auf einer Kommunikationsplattform beschreiben, aber auch assemblieren, teilen und weiterverarbeiten. So ist ein eigenes Forschungsgebiet entstanden – die Digitale Fragmentologie». Nun werden neue Inhalte, Kooperationen und Arbeitsmethoden möglich, die früher undenkbar waren. «Bilder lassen sich ganz leicht hochladen und in einer riesigen Datenbank abspeichern. Früher mussten Forschende mit möglichst wenig Handschriftenbildern auskommen. Im Internet findet man jetzt Millionen, wo es früher vielleicht 10’000 waren. Diese sind auch noch leicht zu finden und zu identifizieren. Studierende brauchen heutzutage nur wenige Suchbegriffe und finden schon die abgelegensten Texte, an welchen sie arbeiten können. Unzählige makulierte Bücher lassen sich so anhand von einzelnen Fragmenten zusammenführen und rekonstruieren.»
Bleibt Wissenschaft glaubwürdig?
Als vor wenigen Jahren im Sommer die App zu e-codices lanciert wurde, schrieb eine Regionalzeitung, dass es ab sofort möglich sei, alte Handschriften auch im Schwimmbad zu lesen – an die Bildschirm-Werbung im Bus erinnert sich Christoph Flüeler noch ganz genau. Wenn Wissenschaft plötzlich für alle zugänglich und populär ist, verliert sie nicht auch an Glaubwürdigkeit? «Es kommt darauf an», relativiert Christoph Flüeler. «Wir übernehmen hier Vermittlungsarbeit. Soziale Medien in der Wissenschaft haben ein didaktisches Element. Der Unterricht lebt auch davon, dass die Schülerinnen und Schüler neugierig zuhören, wenn die Inhalte gut erzählt sind. Es kann sehr stimulierend sein, wenn Geschichten auf den sozialen Medien gut erzählt werden, und die Community Interesse zeigt, indem sie reagiert und Kommentare hinterlässt. Forschende dürfen durchaus einen spielerischen Umgang mit sozialen Medien pflegen.» Die Geisteswissenschaften würden zudem noch immer sehr stark nach einem traditionellen und überholten Kanon funktionieren. Durch die neue Vielfalt an Quellen und neuen digitalen, experimentellen Methoden sei es verschiedenen Interessengruppen endlich möglich, diesen Kanon zu sprengen. «Wenn man immer dieselben Forschungsmethoden und Beispiele benutzt, entwickeln sich die Geisteswissenschaften nicht weiter», ist Flüeler überzeugt. «Das ist langweilig.»
Unser Experten
Christoph Flüeler ist Professor für historische Hilfswissenschaften und Mittellatein an der Universität Freiburg sowie Gründer und Leiter der Handschriftendatenbank e-codices und der Plattform Fragmentarium.
Simon Sprecher ist Professor für Neurobiologie am Departement für Biologie. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, an welcher er untersucht, wie das Gehirn Informationen aufnimmt und verarbeitet.