Dossier

Wichtiger als Nahrung

Ein Leben ohne Smartphone und Social Media wäre nur «Stress, Stress, Stress», sagen Walid und Sami, Asylsuchende aus Afghanistan. Über die Bedeutung der Geräte erzählen sie im
Büro von Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Migrationsrecht und Europarecht an der Universität Freiburg.

Üblicherweise verabredet sich Sarah Progin mit Sami und Walid – nennen wir sie so – irgendwo in der Stadt, meistens zum Mittagessen. Sie steht den beiden im Sinne eines privaten Engagements bei. Doch heute hat sie ihr Büro als Treffpunkt auserkoren für ein Interview zur Frage: Wie wichtig sind Handys und Facebook im Leben von Asylsuchenden?

Walid ist 24, gross gewachsen, kurzer Bart. In Afghanistan hatte er Betriebswirtschaft studiert und für die amerikanischen Truppen übersetzt. Weshalb genau er sein Land verlassen musste, bleibt offen. Er lässt nur durchblicken, dass sein Kontakt zu den Ausländern nicht allen gefallen hat, weshalb er – und auch seine Familie – bedroht worden seien. Er lebt nun seit drei Jahren in Freiburg. Sein Asylgesuch wurde in erster Instanz abgelehnt. Er hat Rekurs eingelegt und wartet nun auf den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Fällt dieser erneut negativ aus, weiss er nicht weiter.

Walid lacht, wenn er über seine Situation spricht. Es ist das gleiche Lachen, wie wenn er von den Umständen seiner Flucht erzählt: wie er im Auto seiner Fluchthelfer unter Beschuss gerät. Wie der Motor des Schlauchboots mitten auf hoher See streikt. Wie er sich für die Fahrt von Griechenland nach Italien auf der Achse eines Lastwagens versteckt. Ein ungläubiges Lachen. Als könnte er selbst nicht glauben, dass er das alles überlebt hat.

Sami ist 19, das schwarze Haar mit Gel geglättet, auf seinem T-Shirt steht «Openair St. Gallen». Als Waise bei Verwandten aufgewachsen, hat er nie eine Schule besucht; er hütete sein Leben lang Schafe. Sami flüchtete, weil die Taliban ihn für ihre Zwecke einspannen wollten, er sollte eine militärische Ausbildung absolvieren. Weil ihren Forderungen zu widersprechen lebensgefährlich ist, verliess Sami Afghanistan. Inzwischen ist er seit zwei Jahren hier; sein Asylgesuch ist noch pendent. Am Vortag dieses Gespräch hatte er seine zweite Anhörung beim Staatssekretariat für Migration in Bern. Es sei ganz gut verlaufen, sagt Sami.

 

Sarah Progin, wie haben Sie Walid und Sami kennengelernt?

Sarah Progin: Per Zufall. Zusammen mit meinen Kindern besuchte ich 2017 einen Anlass im Quartier. Sami war auch da, ich habe mich ihm vorgestellt. Meine Nachbarn hatten ihn via das Netzwerk «La Red» kennengelernt und begonnen, ihn in seinem neuen Alltag zu unterstützen. Da die Nachbarn aber nur beschränkt Zeit haben, springe ich ab und zu ein. Walid lernte ich kennen, weil Sami ihn als Übersetzer mitnahm, da er zu Beginn noch kaum Französisch konnte.

 

Erzählen Sie, Walid und Sami, wie Sie zu Ihrem ersten Handy gekommen sind.

Sami: Ich war Bauernsohn und mit den Tieren unterwegs, ich brauchte kein Telefon. Ich hatte auch auf der Flucht keines dabei. Leider. Denn ich kam in Situationen, in denen ich sehr froh darum gewesen wäre. Sehr! Erst, nachdem ich in der Schweiz angekommen war, Lesen und Schreiben gelernt und ein halbes Jahr gespart hatte, konnte ich mir ein Gerät leisten, eine Occasion für hundert Franken. Nun fühlte ich mich endlich wie alle anderen Menschen. Ein grosser Moment!

Walid: Als Übersetzer war ich auf ein Handy angewiesen. Ich benötigte es, um für meine Kunden erreichbar zu sein. Natürlich nahm ich das Gerät mit auf die Flucht. Unter anderem, um herauszufinden, wo die Taliban sind und wie ich ihnen ausweichen kann. Allerdings wurde es mir gestohlen, an der Grenze zum Iran. Bewaffnete Männer raubten mich aus. Erst in Griechenland kam ich wieder zu einem Gerät, für zehn Euro. Damit konnte ich nur telefonieren, aber immerhin…

Sarah Progin: Wie gross die Bedeutung von Handys für Flüchtlinge ist, ist eine Untersuchung des International Rescue Committee. Die NGO hat Rucksäcke von Menschen aus Syrien analysiert und dabei festgestellt, dass ein Telefon ebenso wichtig ist wie trockene Kleider, Zahnbürste, Windeln und Schmerzmittel.

Auf der Reise in eine bessere Zukunft hilft das Handy, die sichersten Routen zu finden, sich über die wandelnden Situationen an den Grenzübergängen zu informieren und Schleuser zu buchen. Gleichzeitig sind die Geräte von grosser emotionaler Bedeutung. Sie speichern die einzigen verbliebenen Erinnerungen an Zuhause: Fotos, Videos, Musik. In Interviews lassen Flüchtlinge auch keinen Zweifel, ob ihnen ihr Handy oder Nahrung wichtiger ist: «Das Handy». Für die Fahrt übers Meer werden die Geräte so verpackt, dass sie auch nach einem Untergang des Bootes bedient werden können. Die Zeitung «The Independent» berichtet, dass Flüchtlinge mit Hilfe des GPS sieben Stunden lang zur nächsten Insel geschwommen sind. Die Geräte sind kein Luxus, sondern Lebensretter.

 

Sie leben nun beide in Freiburg. Haben Sie Ihre Handys heute Morgen schon benutzt?

Sami: Nein. Ich habe es nur vom Tisch genommen und eingesteckt. Ich verlasse das Haus nie ohne, ich schalte das Gerät auch nie aus. Aber gestern Abend spät habe ich noch 34 WhatsApp beantwortet. Alles Anfragen von Bekannten, die wissen wollten, wie es beim Interview in Bern gegangen ist. Eine der Nachrichten war von Frau Progin.

Walid: Ich nutzte das Handy heute bereits mehrfach. Da mir die Adresse von Frau Progins Büro unbekannt war, habe ich mich vom GPS leiten lassen… Sarah Progin:… ich habe eine WhatsApp mit den Angaben zum Treffpunkt geschickt… Walid: …genau. Da stand: «Zweiter Stock. Wenn man aus dem Aufzug kommt, dann durch die Glastür und erste Tür rechts, gegenüber der Kaffeeecke.»

 

 

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Könnten Sie ohne Telefon leben?

Sami: Ja, aber das wäre sehr schwierig. Ich habe 24 Stunden lang nichts zu tun. Also schaue ich, was meine Freunde machen. Viele habe ich während der Flucht kennen gelernt und nach der Ankunft in der Schweiz auf Facebook wiedergefunden. Manchmal melde ich mich auch bei meiner Verwandten in Afghanistan – sie ist alles, was ich an Familie habe. Da sie kein WhatsApp hat, können wir nur kurz sprechen, sonst wird es zu teuer. Wir tauschen Neuigkeiten aus. Wie es geht. Über das Leben hier und dort. Solche Sachen. Wir werden dann beide sehr traurig. Sie liebt mich wie ein eigenes Kind, und ich sie auch.

Gefragt nach Art und Anzahl der Apps auf ihren Geräten, müssen beide nachschauen. Mit Ausnahme des SBB-Fahrplans und des digitalen Marktplatzes Anibis haben Sami und Walid nur Apps, die zur Kommunikation oder Information dienen: WhatsApp, Facebook, Messenger, Viber, Youtube, Instagram, Emui. Sami hat auf Anibis sein erstes Handy gekauft, Walid ein paar Schuhe, «allerdings nicht für mich, sondern für einen Freund – ein sehr guter Kauf».

Beide haben auf Facebook mehrere hundert Freunde. «Eine grossartige Sache», sagt Sami, «Facebook ist für Asylsuchende gemacht. Wir vertreiben uns damit die Zeit». Daneben nutzen sie die Geräte, um ihr Französisch weiter zu verbessern. Google hilft, einzelne Wörter zu übersetzen, und auf Youtube finden sich ganze Lektionen. Zudem informieren sich beide via Handy über die aktuelle politische Lage, in der Schweiz und international. Ganz besonders beschäftigt sie die Situation in ihrer Heimat. «Es wird nicht besser, im Gegenteil», sagt Walid.

Sarah Progin: Wie wichtig Handys und Social Media für die Integration von Asylsuchenden sind, bestätigt eine Studie der Erasmus Universität Rotterdam. Die Nutzung digitaler Unterstützungsangebote – etwa die Facebook Seite «UNA: refugees meet students UNIFR» – spiegelt den Integrationswillen der Flüchtlinge wider. Je grösser das Interesse, desto stärker die Motivation, heimisch zu werden. Gleichzeitig stellen die Geräte sicher, dass der Kontakt zu den Herkunftsländern nicht abreisst, was dazu beiträgt, dass die Flüchtlinge die Anpassung an die neue Heimat meistern und nicht sozial ausgesondert werden.

 

Nutzen Sie das Natel auch für den Kontakt mit den Behörden? Beispielsweise, wenn es um Termine beim Staatssekretariat für Migration geht?

Nein, auf keinen Fall. Das ist viel zu vertraulich.

 

Das geht per Briefpost?

Walid: Ja.

Sarah Progin: In den Niederlanden setzen die Behörden eine spezielle App für die Kommunikation mit Asylsuchenden ein. Mit ihrer Hilfe lassen sich Informationen suchen und Formulare herunterladen, zudem werden die Asylsuchenden an Termine mit Behörden erinnert. Das ist eine gute Sache. In der Schweiz sind wir noch nicht so weit.

Handys kosten. Wie bezahlen Sie Ihre Rechnungen?

Walid: Ich habe ein Abonnement. Das kostet 30 Franken pro Monat. Schon etwas teuer, aber ohne Natel wäre das Leben nichts als Stress, Stress, Stress. Und das Internet hilft mir, die Moral hochzuhalten. Weil ich hier nichts anderes tun kann, als auf den Gerichtsentscheid zu warten. Früher, als ich noch kein Abonnement hatte, suchte ich jeweils öffentliche Plätze auf, um das Internet gratis zu nutzen. Manchmal sass ich stundenlang dort und schaute Filme. Action. Romantisches. Dokumentationen…

Sami: Ich habe einen mobilen Hotspot. Den habe ich immer dabei.

Walid: Wow! Das möchte ich auch.

Sarah Progin: Ich auch. So gut bin ich nicht ausgerüstet.

Sami: Oh, das kostet nicht viel. Freunde haben ihn mir geschenkt. Sie zahlen auch mein Abonnement.

Sarah Progin: In der Schweiz können Asylsuchende mit dem Status N oder vorläufig Aufgenommene mit Permis F keine SIM-Karten erstehen, da für die Registrierung Identitätskarte oder Pass benötigt werden. Trotzdem besitzen fast alle ein Natel – dank Freunden und anderer hilfsbereiter Menschen, die für sie die SIM-Karte im eigenen Namen kaufen. Da weder Gesetz noch Verordnung vorschreiben, eine Telefonnummer dürfe nur von den Inhabenden benutzt werden, ist dieses Vorgehen zulässig.

 

Wie steht es mit Freundinnen? Besuchen Sie Plattformen wie Parship oder Tinder?

Sami: Auf sowas würde ich mich nie einlassen. Das ist nicht meine Art, und die Plattformen kosten. Natürlich möchte ich irgendwann mal eine Freundin, aber das ist schwierig. Ich kenne viele Frauen, doch das sind keine Freundinnen, sondern Kolleginnen.

Walid: Ich würde nie einer Person vertrauen, der ich ein, zwei Mal im Netz begegnet bin. Wer weiss, wer hinter den Fotos steckt. Da bin ich sehr vorsichtig. Zudem bin ich nicht nur Ausländer, ich bin auch noch Flüchtling. Das macht alles doppelt kompliziert.

Die Zeitschrift «Refuge» hat männliche Flüchtlinge aus Somalia befragt, wie sie ihre Liebesprobleme lösen. Resultat: Eine Mehrheit findet ihre Partnerinnen via Facebook, das heisst auf Seiten, die der somalischen Diaspora als digitaler Treffpunkt dienen. Von Interesse sind dabei vor allem Frauen, die bereits über eine Niederlassungsbewilligung verfügen, wenn möglich in Europa. Mit einer akzeptierten Person eine Beziehung einzugehen, bedeute für die Männer, «sich aus der bisher so schwierigen Situation befreien zu können», so die Zeitschrift. Die Suche verläuft oft erfolgreich. Laut «Refuge» haben sich mehrere der befragten Männer innert kurzer Zeit verheiratet.

 

Ende des Interviews. Was nun? Sarah Progin will Walid und Sami auf eine Pizza einladen – «oder etwas Gesünderes». Und was machen sie danach? Walid weiss es noch nicht, «irgendwas». Sami dagegen hat sich bereits entschieden, er fährt für zwei Nächte nach St. Gallen und besucht Freunde. «Wir spielen Fuss- und Volleyball.» Verschieben kann er die Reise nicht; sein Halbtax mit dem Zusatz «Gleis 7» läuft bald ab. Ob er sich mit einem monatlichen Budget von 390 Franken ein neues leisten kann, weiss er noch nicht.

 

Unsere Expertin Sarah Progin-­Theuerkauf ist Professorin für Eu­ropa­recht und Migrationsrecht an der Universität Freiburg. Ihr Enga­gement für Walid und Sami ist rein persönlicher Natur und hat mit ihrem Beruf nur insofern zu tun, als dass sie sich mit dem Gesetz auskennt und den beiden erklären kann, wie das Asylver­fahren abläuft. Zur aktuellen Diskussion, ob Behörden Einblick in die Handydaten von Flüchtlingen haben dürfen, sagt sie: «Das ist ein Eingriff in das Grundrecht des Schutzes der Privatsphäre. Geht es ausschliesslich um die Klärung der Identität einer Person, kann das im Einzelfall zu­lässig sein. Doch bezüglich aller anderen In­­for­ma­tionen – Reiseroute, Kontakte, übermittelte Nachrichten – ist der Eingriff unverhältnismässig».

sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch