Dossier

Bittere Zeiten für Bergpflanzen

Biologe Gregor Kozlowski engagiert sich für bedrohte Pflanzen, weltweit und ganz besonders in den Freiburger Voralpen. Seine Prognose: Der Klimawandel führt zum Aussterben zahlreicher Arten.

Herr Kozlowski, bezogen auf das Thema Klimawandel in den Bergen gibt es nur einen Fokus: die Gletscher. Ihr Schmelzen und Schwinden ist in aller Munde. Dabei gerät die Frage in den Hintergrund, wie eigentlich unsere Alpenflora auf die steigenden Temperaturen reagiert?

Danke, dass Sie das gleich zur Sprache bringen. Ich ärgere mich darüber, wie wenig über die Auswirkungen der steigenden Temperaturen auf Pflanzen gesprochen wird. Die Gletscher sind zwar wichtig, aber für unser Überleben spielen die Pflanzen eine weit wichtigere Rolle. Sie sind so etwas wie das Rückgrat unseres Planeten. Wir Menschen und auch unzählige andere Organismen ernähren uns von ihnen. Wir brauchen sie, um gesund zu bleiben. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn es den Pflanzen schlecht geht, geht es auch dem Planeten schlecht.

Geht es den Pflanzen denn schlecht?

Bezogen auf die Berge: ja. Wir Menschen haben die Fähigkeit, in einem recht breiten Temperaturbereich überleben zu können. Die Bergpflanzen nicht. Bereits ein oder zwei Grad Veränderung überfordern sie. Das hat zur Folge, dass sie leiden, ja aussterben. Es gibt zwar recht viele Menschen, darunter auch Forschende, die sagen: So what? Es gibt ja
genügend andere Arten, die von unten herkommen und diesen Lebensraum neu besiedeln. Ist doch nicht so schlimm. Hauptsache, die Berge sind grün. Ich sehe das anders.

Weshalb?

Die Veränderungen sind extrem. Der Mensch vernichtet in sehr kurzer Zeit, was über Millionen von Jahren entstanden ist. Nicht einige wenige Arten, sondern viele hunderte. Einfach futsch. Das ist umso schlimmer, da wir nach aktuellem Wissensstand der einzige Planet im Universum sind, der über eine solche Vielfalt, Pracht und Schönheit verfügt. Was sich in der Natur – und damit auch in den Bergen – abspielt, ist ein Drama.

Es gibt aber auch Pflanzen, die vom Klimawandel profitieren, in höher gelegene Lebensräume vordringen und diese für sich erobern.

Das ist so, und auf den ersten Blick ist das auch erfreulich. Man könnte also sagen: Je mehr Arten in den Bergen desto besser. Aber das ist zu kurz gedacht. Die nachkommenden Pflanzen sind Generalisten. Plötzlich wachsen auf 2’300 Metern Löwenzahn und Hirtentäschchen. Sie machen sich breit und verdrängen jene Arten, die sich auf diesen Lebensraum spezialisiert haben. Auf diese Weise werden Pflanzengemeinschaften zerstört, die sich – Beispiel Freiburger Voralpen – über tausende von Jahren gebildet haben und in ihrer Art einmalig sind. Das ist mehr als schade; denn die Spezialisten können nirgendwo anders wachsen. Deshalb müssen wir diese Lebensräume erhalten, für uns, aber noch mehr für alle künftigen Generationen. Das ist kein Wunsch, sondern eine Verpflichtung.

Etwas provokativ gefragt: Ist es dem Planeten nicht gleich, dass Pflanzenarten aussterben?

Nun ja, das ist so, da muss ich Ihnen recht geben. Man kann sich in der Tat fragen, was es bringt, sich für bedrohte Arten zu engagieren. Es gibt viele Leute, darunter auch Politiker und Journalisten, die genau so denken. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass die Evolution schon immer ein Auf und Ab gewesen sei. Wenn eine Art verschwinde, komme halt eine andere. So argumentieren kann man aber nur, wenn man den Menschen als Teil der Natur definiert. Wenn man den Klimawandel als ein genau gleich natürliches Ereignis einstuft wie der Einschlag eines Meteoriten oder wie der Ausbruch eines Mega-Vulkans, der weltweit den Himmel verdunkelt.

Das ist zu kurz gedacht.

Klar. Natürlich ist der Mensch für den Klimawandel verantwortlich. Das ist kein Naturereignis. Also müssen wir dafür auch die Verantwortung tragen. Wir sind ethisch und moralisch dazu verpflichtet. Ein Teil dieser Verpflichtung ist der Artenschutz.

Aber können wir die Alpen als Lebensraum überhaupt retten? Steigen die Temperaturen wie prognostiziert weiter, müssen alle Pflanzen immer weiter nach oben ausweichen – bis es nicht mehr geht.

Das ist tatsächlich zu befürchten. Und es ist auch einer der Gründe, weshalb Naturwissenschaftler wie ich langsam die Geduld verlieren. Wenn wir nicht sofort reagieren, sehe ich bald einmal keine politisch umsetzbaren, gleichzeitig bezahlbaren und damit realisierbaren Lösungen mehr, um aus dieser Situation herauszukommen. Und eine schnelle Reaktion scheint mir auch kaum möglich; denn mit bald zehn Milliarden ist der Planet überbevölkert. Wir sind zu viele. Aber vielleicht sollte ich solche Dinge besser nicht sagen…

Was sind denn, rein physiologisch gesehen, die Gründe für das Aussterben der Pflanzen in den Bergen?

Wir kennen die Ursachen ziemlich gut. Sie sind komplex. Grundsätzlich entscheiden physiologische und anatomische Vorgänge im Zellinnern darüber, ob eine Pflanze überlebt oder nicht. Bezogen auf den Klimawandel dürfte dabei die Leistungsfähigkeit der Photosynthese – und damit die Produktion von Glukose – im Mittelpunkt stehen. Jede Pflanze vermag nur bei einer bestimmten Temperatur jene Menge an Glukose zu erzeugen, die sie zum Überleben braucht. Wenn sich die Temperatur nur wenig verschiebt, gerät dieser Prozess durcheinander. Paradoxerweise nimmt dabei die Glukoseproduktion mit steigenden Temperaturen nicht zu, sondern ab. Gleichzeitig hat die Pflanze mit weiteren Veränderungen zu kämpfen, die der Klimawandel mit sich bringt: zu viel Niederschlag, zu wenig Niederschlag. Stärkere UV-Strahlung. Wind. Zusammengefasst: Die Pflanzen geraten unter immer mehr Stress. Wird er zu gross, gehen sie ein. Weltweit sind das mehrere Zehntausend Arten, und ich beziehe mich nur auf die hochspezialisierten Bergpflanzen. Aus meiner Sicht ein riesiges Problem.

Schreitet der Klimawandel schneller voran, als sich die Pflanzen anpassen können?

Das ist noch nicht klar. Es gibt wissenschaftliche Experimente, die zumindest bei Tieren eine erstaunliche kurze Anpassungszeit an neue Umweltbedingungen zeigen. In der Karibik etwa haben Eidechsen sehr schnell auf die häufigeren Hurrikane reagiert und an ihren Zehen grössere Haftpolster entwickelt, damit sie nicht davongewindet werden. Bei Pflanzen ist das komplexer. Sie haben zehn, zwanzig Charakteristika, die sie verändern müssen. Behaarung, Blattstruktur, Wurzellänge, dazu kommen biochemische Anpassungen. Dafür brauchen sie lange, mehr als zehn oder zwanzig Jahre. Mit anderen Worten: Ich gehe davon aus, dass der Klimawandel für die Mehrheit der Arten in den Bergen viel zu schnell abläuft.

Sie beobachten zwei dieser Arten ganz besonders: die Kleine Teichrose und den Westlichen Alpenmohn. Weshalb gerade diese?

Den Entscheid für diese beiden Arten fällten eigentlich nicht wir, sondern der Bund. Die Naturschützer aus Bern haben sehr genau geschaut, welche Arten für welche Region wichtig sind. Darüber hinaus haben beide Arten für die Freiburger Voralpen Symbolcharakter. Auf Neudeutsch würde man sagen, es sind Flagship-Arten. Also kombinieren wir ihre Bedeutung für die Wissenschaft mit den anthropozentrischen Gründen, die für ein besonderes Interesse an ihnen sprechen. Beides sind dekorative und deshalb gut bekannte Arten. Folglich können wir bei der breiten Bevölkerung wie auch in der Politik mit ihnen Emotionen auslösen.

 

Blick vom Val Colla (TI) zu den Walliser Viertausendern  © Marco Volken

Sie machen mit Pflanzen Politik.

Ich würde eher sagen: Menschen wie ich sind die Anwälte der Pflanzen. Wir wollen, dass sie überleben. Reden wir vom Westlichen Alpenmohn, der heute räumlich nur noch sehr begrenzt vorkommt, vom Kanton Bern über den Kanton Freiburg bis nach Savoyen. Das heisst, wir haben eine grosse Verantwortung, diese Pflanze zu erhalten. Der Westliche Alpenmohn verbreitete sich einst über den ganzen Alpenraum. Mal drang er weiter vor, mal zog er sich zurück, im Rhythmus der Eiszeiten. Irgendwie hat er all diesen Herausforderungen immer getrotzt, über Jahrmillionen. Jetzt aber stehen wir vor der Tatsache, dass die Art wahrscheinlich für immer verschwinden wird. Ihr Lebensraum – kalte, nordexponierte Schutthalden – heizt sich zusehends auf. Damit ist die schöne Pflanze mit ihren grossen, weissen Blütenblättern am Ende. Diese schnellen Veränderungen des Klimas überlebt sie unmöglich. Es sei denn, die Bevölkerung erkennt zusammen mit der Politik, wie wichtig die Pflanzen für uns sind – der Westliche Alpenmohn und alle anderen.

Die Pflanze ist Ihnen richtig ans Herz gewachsen.

Merkt man das? Ja, Sie haben recht.

Was ist mit der Kleinen Teichrose?

Hier hat der Klimawandel andere Folgen. Die Kleine Teichrose, ebenfalls ein Relikt der Eiszeit, konnte bislang in einigen wenigen Bergseen überleben. Hier fand sie ihr letztes Refugium. Aufgrund der steigenden Temperaturen kann nun aber eine verwandte Art – die Gelbe Teichrose – ebenso weit in die Höhe steigen. Nach zehntausenden Jahren unabhängiger Existenz beginnen sich die beiden Arten jetzt zu mischen. Es entstehen hybride Nachkommen. Das hat Konsequenzen. Die Kleine Teichrose verschwindet nun genetisch gesehen. Ich empfinde das als grossen Verlust.

Das lässt sich nicht verhindern?

Theoretisch könnten wir die Kleine Teichrose in noch höher gelegene Seen umsiedeln. Aber die gibt es nicht. Wir können also nur hoffen, dass die Klimaerwärmung gestoppt wird. Aber ich muss sagen, dass mir unser Verhalten eigentlich fast mehr Sorgen macht als die steigenden Temperaturen.

Wie meinen Sie das?

Die Lebensräume, die wir Menschen zerstören. Die Beschleunigung des Massentourismus. Das halte ich wirklich für bedenklich. Vor zehn Jahren, wenn ich auf die Vanil Noir wanderte, hatte es zehn Autos auf den Parkplätzen. Heute sind alle voll, bis weit hinunter. Das ist schockierend. Glücklicherweise haben wir sehr wenig Sessellifte im Kanton, und um auf die Spitzen der Freiburger Voralpen zu gelangen, muss man etwas bergsteigen können. Das gibt der Natur noch etwas Spielraum. Aber wie lange?

In den Freiburger Voralpen kämpft auch ein Baum ums Überleben. Die Arve, genannt die «Königin der Alpen». Ist sie ebenfalls vom Klimawandel bedroht?

Das wissen wir im Moment nicht, wir haben keine Daten. Aber die steigenden Temperaturen treiben die Fichten nach oben. Die Konkurrenz wird für die Arven schwierig, sie reagieren sehr langsam. Deshalb beobachten wir sie nun. Gleichzeitig arbeiten wir ihre Geschichte im Kanton Freiburg auf. Der Baum wurde vor etwa hundert Jahren grossflächig angepflanzt. Wahrscheinlich, weil man die Arve auch auf dem eigenen Boden haben wollte. Aber das funktionierte nicht, aus klimatischen Gründen. Von über hunderttausend Setzlingen haben nur einige wenige überlebt. Arven sind auf ein besonderes Mikroklima angewiesen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Arve im Kanton Freiburg?

Für die nächsten Jahrzehnte mache ich mir keine grossen Sorgen. Aber in hundert Jahren? Da bin ich mir nicht sicher. Vor allem, wenn die Temperaturen weiter steigen. Bäume – und die mächtige Arve ganz besonders – sind wie die Architekten der Landschaft, sie strukturieren das Gelände. Vor vielen Millionen Jahren waren sie kleine Pflanzen. Dann zwang sie der Konkurrenzdruck, immer mehr in die Höhe zu wachsen. Damit sie genug Licht erhalten. Und jetzt sind die Wälder zentral wichtig fürs Klima, sie produzieren Sauerstoff, sie speichern CO2 , sie regulieren Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Faszinierend! Wir haben keine Ahnung, ob irgendwo im Universum etwas Ähnliches existiert. Also müssen wir doch alles dafür tun, um unsere Wälder zu erhalten.

Sie leiten auch den Botanischen Garten der Universität Freiburg. Was können Sie hier für das Überleben bedrohter Arten tun?

Die Botanischen Gärten haben an vielen Orten – in der Schweiz und international – die Führung übernommen bezüglich Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf
die Natur und damit auch des Klimawandels auf die Flora. Sie sind damit auch gewissermassen zu den Kuratoren der bedrohten Arten geworden, insbesondere jene Botanischen Gärten, die an Universitäten angeschlossen sind. Das gibt ihnen auch den Zugang zur Forschung. Denn es ist schon so: Jemand muss die Auswirkungen der steigenden Temperaturen auf die Pflanzen untersuchen. Das ist existentiell wichtig!

Was tun Sie konkret?

Der Botanische Garten der Universität Freiburg arbeitet bezüglich bedrohter Arten mit verschiedenen anderen Universitäten und Kantonalen Naturschutzämtern in der Westschweiz zusammen. Wir erforschen die ausgewählten Arten, das heisst, wir suchen alle verfügbaren Daten zusammen. Wir gehen ins Feld und kartieren: Wo genau wächst die Art noch? Aus welchen Gründen? Sind diese Untersuchungen abgeschlossen, definieren wir für jede Population konkrete Massnahmen und schauen, ob wir renaturieren können. Falls ja, in welchem Ausmass und mit welchen Kosten. Bei der Kleinen Teichrose beispielsweise sehen wir uns mit der Überdüngung der Bergseen konfrontiert. Also klären wir ab, ob Pufferzonen möglich sind. Das alles ist sehr anspruchsvoll und zeitraubend. Immerhin haben wir eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem Kanton.

Und falls keine Renaturierung möglich ist?

Dann holen wir die Art zu uns in den Botanischen Garten – in der Hoffnung, eines Tages doch noch eine Lösung zu finden. Jedenfalls behalten wir die Art, so lange wir eine Überlebenschance sehen. Mit diesem Engagement lässt sich zwar kein Nobelpreis gewinnen, aber wie bereits gesagt: Jemand muss das machen. Und ich ganz persönlich finde die Arbeit faszinierend. Auch wenn ich lange nicht alles realisieren kann, was es zu tun gilt.

Das Ganze ist immer auch eine Ressourcenfrage.

Sicher! Ich staune, wie wenig Geld wir zur Verfügung haben. Ich erinnere daran: Pflanzen sind das Rückgrat unseres Planeten. Zurzeit verschärft die Corona-Krise die Situation zusätzlich. Wir sind mit Lockdown und Erwerbs-ausfall beschäftigt, vielleicht redet man ab und zu noch über das Klima, aber über Pflanzen? Was soll ich da noch mit meiner Kleinen Teichrose…

Trotzdem: Ihre Forschung stösst auf internationales Interesse.

Das ist erfreulich. Wir haben beispielsweise eine Methode entwickelt, wie sich die Kleine Teichrose in Gewässern wiederansiedeln lässt, in denen sie eigentlich ausgestorben ist. Zum Einsatz kommen simple technische Lösungen – wie man eine Pflanze anzieht, wie man sie aussetzt. Darauf erhalten wir viel Echo aus Deutschland und Österreich, verbunden mit der Bitte, unser Knowhow auch bei ihnen einzusetzen. Auch aus den Karpaten erhielten wir einen Hilferuf, in Zusammenhang mit dem Tatra-Alpenmohn, das heisst einer verwandten Art des Westlichen Alpenmohns. Wir wurden eingeladen, die Situation zu analysieren und Schutzkonzepte zu entwickeln. Das ist toll, können wir doch auf diese Weise gleichzeitig unseren eigenen Wissensstand verbessern.

Schauen wir in die Zukunft. Was glauben Sie, wie es unserer Flora in 500 Jahren geht?

Es ist eine Frage, die ich oft gestellt bekomme – und die mich tatsächlich auch beschäftigt. Aber es ist eine Frage, auf die ich wenig zu antworten weiss. Ich kann nur sagen: Die Natur ist dynamisch. Sie verändert sich, sie entwickelt sich. Das ist ein steter Prozess. Nach jedem Massenaussterben beschleunigt sich die Evolution. Es gibt neue Nischen zu besetzen. Man kann deshalb den Klimawandel auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Die Evolution erhält eine Chance, neue Wege zu gehen. Aber der Preis dafür ist hoch.

 

Unser Experte Gregor Kozlowski ist Direktor des Botanischen Gartens der Universität Freiburg und Konservator am Natur­hist­ori­schen Museum Freiburg. Er forscht und lehrt am Departement für Biologie. Seine Gruppe beschäftigt sich mit Natur­schutzbiologie und Biogeografie. Forschungsschwerpunkt sind gefährdete Bäume, Reliktpflanzen und Endemiten.

gregor.kozlowski@unifr.ch