Dossier

Ewige Zeugen und Wasserspender

«Gepriesen seist du, Ewiger unser Gott, König der Welt, der das Werk der Schöpfung vollbringt.» So der traditionell jüdische Ausspruch beim Anblick von Bergen, dem Symbol für die Beziehung zwischen Gott und den Menschen.

Gestein hat für den naiven Naturbetrachter etwas Beständiges. Deshalb sind Berge, poetisch formuliert, die Zeugen von Bundeschlüssen zwischen Göttlichem und Irdischem: Noachs Arche läuft auf einem Berg auf Grund (Gen 8,4), dort schliesst Gott seinen ersten Bund mit seinen Geschöpfen: den Schutz des Lebens. Isaak wird auf einem Berg vor dem Tod durch ein Ganzopfer gerettet (Gen 22) und nach der jüdischen Tradition wird hier ein für alle Mal gezeigt, dass Religiosität nichts mit Fanatismus zu tun hat. So hoch die Verehrung Gottes auch sein mag, sie hat ihre Grenze am Leben eines anderen Menschen. Mose besteigt den Berg Sinai – übrigens mehr als nur einmal – und erfährt dort Gott als das unveränderliche ewige Wesen, mächtig, barmherzig, gnädig, geduldig, von unendlicher Huld und Treue, Missetat, Abfall und Sünde vergebend (Ex 34,6–7). Im Judentum wurden daraus die dreizehn Eigenschaften Gottes, die in der Liturgie häufig zitiert werden. Donner und Blitz und eine dichte Wolke lagen auf dem Berg, starker Trompetenschall war zu hören – das Blasen des Schofars am Neujahrstag erinnert bis heute daran. Der Berg Sinai rauchte, weil sich der Ewige in Feuer auf ihn herabliess. Sein Rauch stieg in die Höhe, wie der Rauch aus einem Brennofen, und der ganze Berg wurde heftig erschüttert (Ex 19,16–18). In diesem Szenario lehrt Gott Recht und Ordnung für das gesellschaftliche Zusammenleben untereinander in der göttlichen Gegenwart. Später erlebt der Prophet Elijah Gott auf demselben Berg ganz anders: gerade nicht in Unwetter, Erdbeben und Feuer, sondern als ein «sanftes, leises Geräusch» (1. Kön 19,11–12): Das Göttliche ist Trost und Hoffnung. Gott kann den jüdischen Schriften zufolge also sehr verschieden erlebt werden, aber der Offenbarungsort ist recht beständig: Es ist in der Regel ein Berg. Dies ist seit altorientalischer Tradition der Ort, wo Himmel und Erde sich verbinden. Seit alters her denkt man: «Ich schau empor nach den Bergen: Wo kommt mir Hilfe her? Vom Ewigen kommt meine Hilfe, der Himmel schuf und Erde» (Ps 121,1). Deshalb standen in der Antike Heiligtümer und Tempel auf Anhöhen. Als Symbol für den Berg Sinai ist heute in einer Synagoge das Lesepult, von dem aus der Torarolle gelesen wird, leicht erhöht. Jeder Aufruf zur Textlesung wird damit symbolisch eine Mini-Bergbesteigung.

Berge sind so wichtig, dass Tzur Israel – «Fels Israels» – im rabbinischen Judentum ein häufig benutzter Name für Gott wurde. Der, dessen Bundeszeugen die Berge sind, wird selbst Fels genannt. Bergfelsen sind Wasserquellen und Wasser ist Leben, ein passendes Bild also für den Schöpfer allen Lebens. Es basiert auf 2. Sam 22,3: «Der Ewige ist mein Fels, meine Festung und mein Retter, Gott, mein Hort, bei dem ich Zuflucht suche…» und Jes 30,29 «auf jedem hohen Berg und auf jedem Hügel, der sich erhebt, werden Wassergräben, Wasserläufe sein… an dem Tag, an dem der Ewige  die Verletzung seines Volks verbindet und die Wunde heilt, die ihm geschlagen wurde… und ihr werdet Freude im Herzen tragen wie der, der mit Flötenspiel dahinzieht, um auf den Berg des Ewigen zu kommen, zum Fels Israels» (Jes 30, 19, 25–26.29). Jeden Morgen bitten Jüdinnen und Juden im täglichen Morgengebet: «Fels Israels, erhebe dich zu unserer Hilfe…»

 

Jungfraufirn (VS) © marcovolken.ch
Koschere Hotels in den Alpen

Die tiefe religiöse Symbolik der Berge im Judentum trug seit dem 19. Jh. zu einem besonderen Phänomen in den Schweizer Alpen bei und schuf eine in jüdischen Kreisen oft zitierten Anekdote. Der Frankfurter Rabbiner Dr. Samson Raphael Hirsch (1808–1888), der Gründer des modern-orthodoxen Judentums, soll einmal zu seinen Schülern gesagt haben, er werde bald an den Pforten des Himmels stehen und dann würden ihm viele Fragen gestellt werden. Auf die meisten würde er gute Antworten haben. Aber was solle er antworten, wenn Gott ihn fragen wird: «Hast du meine Alpen gesehen?» Deshalb müsse er nun in seinen letzten Lebensjahren unbedingt in die Alpen reisen. In Samson Raphael Hirschs Zeiten begann der Alpentourismus. Und so entdecken auch Jüdinnen und Juden die Alpen als Reiseziel – die landschaftliche Schönheit, die sportlichen Möglichkeiten, die spirituelle Inspiration und die heilende Luft. Das erste koschere Hotel entstand 1886 in St. Moritz und trug den Namen «Edelweiss». Ihm folgten rasch weitere in St. Moritz, aber auch in Grindelwald, Sils, Maloja, Scuol und Arosa. Davos entwickelte sich zum Heilkurort für an Tuberkulose Erkrankte und 1919 entstand dort die jüdische Heilstätte Etania. «Etania» bedeutet «Kraft, Rückkehr zur Gesundheit».  Doch leider genasen nicht alle, und deshalb findet man oberhalb von Davos Islen auch den höchstgelegenen jüdischen Friedhof der Welt.

Die Felsmassive der Alpen wurden Zeugen der europäisch-jüdischen Geschichte. Man begegnete aber auch in den Bergen antisemitischen Ressentiments, 1939 wurden die Alpen Zeugen jüdischer Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Mauthausen und jüdische Flüchtlingstrecks wanderten über Alpenpässe. Nach dem Krieg fanden in Davos neben Lungenkranken auch geschwächte Überlebende aus dem KZ Buchenwald Zuflucht. Und heutzutage sind alpine Dörfer eines der beliebtesten Ferienziele vor allem ultraorthodoxer jüdischer Gruppen. Wer im Juli und August – in den sieben Wochen zwischen dem jüdischen Gedenktag Tischa beAw und dem jüdischen Neujahrsfest Rosch haSchana – nach Arosa, Davos, St. Moritz und Saastal fährt, der sollte nicht meinen, dass die schwarz gekleideten Chassidim und Charedim eigentlich die Minderheit innerhalb des religiösen Judentums sind, denn etwa 80 Prozent aller Menschen, die man in diesen Wochen in den Strassen dieser Orte trifft, sind ultraorthodoxe jüdische Männer und Frauen in sittsamen Kleidern mit Kopfbedeckungen. Die Abgeschiedenheit der Berge macht es möglich, dass Menschen, die sonst kaum ihre Lebensräume verlassen, für ein paar Wochen ungestört körperliche und geistige Erholung finden können. Die Einheimischen suchen kaum Kontakt mit den ultraorthodoxen Gästen, und diese wiederrum geniessen den Frieden der Berge und gleichzeitig ihre eigene Lebenswelt. Um den gelegentlich aufkommenden Missverständnissen zu entgegnen, produzierte der orthodoxe Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) im letzten Jahr Broschüren, die den ultraorthodoxen Touristen aus England, Belgien, USA und Israel die schweizerischen Bräuche und Gepflogenheiten erklären und den Schweizer Einheimischen die Traditionen der Touristen. Schweizer jüdische Schüler und Studierende stehen während der Sommerwochen als Vermittler zur Verfügung, klären auf und beantworten Fragen. Viele werden in diesem Sommer ihre Berge vermissen – doch wir haben ja zum Trost genügend Berge als Zeugen des Bundes zwischen der Quelle des Lebens und ihren Geschöpfen in unseren Texten.

 

Unsere Expertin Annette Mirjam Boeckler ist Lehrbeauftrage für Rabbinisches Judentum im Studienbereich «Interreligiöse Studien» an der Universität Freiburg. Ihre Forschungsgebiete sind jüdische Liturgie, inter­religiöser Dialog und jüdische Bibelauslegung. Sie hat Lehrerfahrung an Rabbinerseminaren, jüdischen Gemeinden und Universitäten neben der Schweiz auch in England, Deutschland, Holland und Portugal.

annette.boeckler@unifr.ch