Dossier
Die Todes-Prepper
Nicht immer ist klar, was ein «gutes Sterben» bedeutet. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass wir auf den Tod vorbereitet sein sollen. Doch wie gut lässt sich das Sterben planen?
Stefan Matter, Sie befassen sich in Ihrer Forschung mit der Ars moriendi. Worum geht es bei dieser eigenen Literaturgattung?
Stefan Matter: Die Ars moriendi ist eine Textgattung, die sich ganz gezielt an ein Laienpublikum richtet – also an Leute wie Sie und ich – und eine Handreichung geben will, wie wir uns im Moment des Todes zu verhalten haben. Aus allen Epochen und Orten der Weltliteratur gibt es entsprechende Texte, die sich damit befassen, wie man gut und vor allem vorbereitet sterben soll. Das ist im europäischen Mittelalter so bis hin in die Gegenwart.
Aber damals konnten nicht alle lesen und schreiben …
Stefan Matter: Die Ars-Moriendi-Texte waren häufig kleine Büchlein mit vielleicht zwanzig Seiten Umfang, die mit Text und Bild arbeiteten. Meistens wurde einer Textseite eine Bildseite gegenübergestellt: fünf Anfechtungen und fünf Bündel mit Ratschlägen waren jeweils mit einem Bild illustriert, so dass auch Menschen mit einer eingeschränkten Lesefähigkeit Zugang zu den Inhalten hatten. Dennoch kann man im Spätmittelalter, gerade in den Städten, von einer breiten Lesefähigkeit ausgehen.
Was ist der Inhalt der heutigen Ratgeber?
Markus Zimmermann: Es gibt beispielsweise eine Buchreihe mit dem Titel «Ars Moriendi nova». Dabei wird zwar an die Idee der Ars Moriendi angeknüpft, im Zentrum steht aber etwas völlig anderes: der Umgang mit den Schmerzen, mit offenen Sinnfragen und mit dem, was am Lebens-ende passiert. Die Ars-Moriendi-Literatur des Mittelalters hingegen bezieht sich auf das Jenseits, auf das, was nach dem Tod passiert, wenn z.B. die ewige Verdammnis droht.
War die ewige Verdammnis das Schlimmste, was einem passieren konnte?
Stefan Matter: Die grösste Sorge der damaligen Zeit war, dass man einen unvorbereiteten Tod sterben würde. Deshalb sollte man sich idealerweise ständig mit dem Sterben auseinandersetzen und ein möglichst sündenfreies Leben führen. Ein wichtiger Aspekt des Mittelalters war deshalb das Memento mori: das Bewusstmachen des eigenen Sterbens. Man nahm dafür exemplarische Tode als Visualisierungen, wie man es richtig machen sollte. Es gibt zum Beispiel zahlreiche Beschreibungen darüber, wie bedeutende Theologen und Fürsten des europäischen Mittelalters gestorben sind.
Markus Zimmermann: Vorbilder für ein gutes Sterben haben wir auch heute. Ein Beispiel ist Ständerat This Jenny. 2014 erklärte er eine Woche vor seinem Tod im Fernsehen, wie er stirbt und warum. Er beging mit Hilfe der Sterbehilfeorganisation EXIT Suizid. Danach wurde EXIT so überrannt, dass die Organisation zusätzliche Büros aufmachen musste, um neue Mitglieder aufnehmen zu können.
Und welche Vorbilder gab es im Mittelalter?
Stefan Matter: Wir kennen beispielsweise eine ganze Reihe von Beschreibungen des Todes von Kaiser Maximilian. Er hatte übrigens eine kuriose Idee: In den letzten Jahren seines Lebens hatte er auf seinen Reisen immer eine Holztruhe dabei, in welcher Bücher mit seiner Lebensgeschichte waren. Als er starb, wurden die Bücher aus der Truhe genommen und diese war dann sein Sarg. Das war von Anfang an so geplant. Er trug also über Jahre seinen Sarg überall mit hin. Memento mori heisst, dass der Tod den Menschen idealerweise überallhin begleitet. Man soll jeden Moment damit rechnen, dass man im nächsten schon nicht mehr unter den Lebenden weilen könnte.
Markus Zimmermann: Kein Mensch kann ständig mit dem Tod vor Augen leben, jeden Moment daran denken, dass er morgen tot sein könnte. Das wäre unmenschlich. Es ist aber verblüffend, wie wir in den letzten Jahren gleichsam alle Symbole und Bräuche, die mit Memento mori zu tun haben, aus unserm Alltag eliminiert haben: Trauerrituale, Kruzifixe, Friedhöfe, die verschwinden, weil sich alternative Bestattungsmöglichkeiten ein-bürgern… Es gibt keine schwarze Kleidung mehr, die ja auch deutlich machen soll, dass ein Mensch momentan aus guten Gründen deprimiert ist. Ich halte das für einen Kulturverlust.
Ist der Tod deshalb so unsichtbar geworden, weil er nicht mehr allgegenwärtig ist?
Stefan Matter: Heute wähnen wir uns in der vermeintlichen Sicherheit, wir hätten mit den medizinischen Möglichkeiten viel mehr im Griff, als es tatsächlich der Fall ist. Jeder muss sterben. Damals akzeptierte man das gottgewollte Schicksal und es wäre töricht gewesen, sich gegen den Tod aufzulehnen oder mit ihm verhandeln zu wollen. Heute wäre es eher unvorstellbar, auf eine medizinische Behandlung zu verzichten.
Markus Zimmermann: Das trifft auch empirisch zu: Wir werden immer älter. Der Tod hat sich in der Schweiz ins hohe Alter verschoben. Das hat nur bedingt mit der ärztlichen Versorgung zu tun,
sondern auch mit dem Wohlstand, der Ernährung und dem Lebensstil. Wir leben heute in der Schweiz in einem unfassbaren Wohlstand. Die Menschen, die demnächst sterben, die Baby-Boomer, haben entsprechend hohe Ansprüche. Gleichzeitig haben wir zu wenig Pflegekräfte, so dass sie aus dem Ausland geholt werden, mit der Folge, dass sie dann dort fehlen. Es geht auch um Gerechtigkeitsfragen und nicht nur um Fragen des Guten.
Stefan Matter: Wenn man die heutige, wohlhabende Gesellschaft mit der damaligen vergleicht, dann ist die Omnipräsenz des Sterbens zahlenmässig greifbar. Es starben viele öffentlich, wenn nicht auf dem Schlachtfeld, dann in der Regel zuhause. Heute hat sich das Sterben in die Institutionen verlagert und sich den Blicken entzogen.
Markus Zimmermann: Das hat sich gewaltig verändert. In der Schweiz sterben heute 40 Prozent der Menschen im Spital und 40 Prozent in Pflegeheimen. Die meisten sagen jedoch, dass sie lieber zuhause sterben wollen. Damit meinen sie Orte, an denen ihre Liebsten sind, wo sie einen vertrauten Raum und eine Privatsphäre erleben. Was das im Einzelfall bedeutet, kann sehr verschieden sein.
Autonomie im Sterben scheint sehr wichtig zu sein. Gleichzeitig wird die Selbstbestimmung in Ihrem Buch als paradox beschrieben. Was ist damit gemeint?
Markus Zimmermann: In der Schweiz gibt es heute unterschiedliche und teils widersprüchliche Vorstellungen davon, was unter einem guten Sterben verstanden wird. Wir streiten politisch über die Suizidhilfe, ignorieren aber, dass es dabei auch um sehr unterschiedliche Idealvorstellungen geht. Seit Jahren behauptet sich in der Schweiz der Autonomie-Diskurs. Dem liegen Kontrasterfahrung zugrunde, Erfahrungen von Heteronomie, von Fremdbestimmung also: Immer mehr Behandlungen sind möglich und werden praktiziert, ohne dass die Sterbenden gefragt werden, über 70 Prozent sind am Lebensende zudem nicht mehr urteilsfähig. Und: Wir sind heute nicht mehr frei, nicht frei zu sein. Jeder muss für sich selbst festlegen, wie er leben und sterben will, weil es keine gesellschaftlichen Vorgaben mehr gibt, gemäss denen diese Entscheidungen für uns getroffen würden, wie noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Was passierte in den 60er Jahren?
Markus Zimmermann: Ein enormer Technisierungsschub fand statt – die Intensivstationen wurden erfunden – und es gab die 68er Bewegung mit der Befreiung von institutionellen Mustern. Dazu die Globalisierung, die Migration… Die Individualisierungsprozesse führten zu einer Pluralisierung, so dass nur noch die Autonomie als Möglichkeit blieb, um individuelle Biographien zu ermöglichen. Heute sind aber nur wenige Menschen in der Lage, zu sagen, wie sie sterben wollen. Es besteht eine Art Entfremdung vom Sterben.
Stefan Matter: Und die Säkularisierung spielt eine Rolle. Diese verschiedenen Diskurse hängen eng mit Sinnfragen zusammen. Man möchte ja nicht einfach so im luftleeren Raum gelebt haben. Hat sich einfach die religiöse Bedeutung verschoben? Schliesslich wird heute beispielsweise Spiritual Care angeboten. Markus Zimmermann: Das ist ein interessantes Phänomen. Dieser Diskurs entstand mit der Hospice Care und ihrer Londoner Begründerin Cicely Saunders, die selbst christlich motiviert war. Inzwischen sind viele Menschen entfremdet von der kirchlichen Spiritualität. Diese Lücke füllen New Age, östliche und esoterische Religionen, eine Fülle alternativer Formen von Spiritualität. Es besteht heute ein grosses Interesse an Religiosität und Sinnfragen, die Kirchen haben jedoch ihre prägende Rolle weitgehend verloren.
Stefan Matter: Vor 500 Jahren wussten alle ausnahmslos, dass das Leben des Einzelnen Teil war einer göttlich geordneten Welt, in welcher auch das Sterben einen Sinn hatte. Dieser ist verbunden mit dem Erlösungswerk. Der Tod kam erst mit dem Sündenfall überhaupt in die Welt und wurde theologisch als Strafe konzeptualisiert. Deshalb kam man gar nicht erst auf die Idee, ihn hinauszögern oder herbeiführen zu wollen. Das selbst zu entscheiden wäre ein Verstoss gegen den göttlichen Willen gewesen und sanktioniert worden.
Markus Zimmermann: Den Suiziddiskurs gab es zwar, prominent bei Seneca, der eine Suizidanleitung schrieb und auch Suizid beging. In seinen Briefen an Lucilius beschrieb er das, was heute in den EXIT-Broschüren zu lesen ist. Die Idee der Selbsttötung als Ausweg aus einer aussichtslosen Lage verschwand dann mit dem Christentum und tauchte erst im 18. Jahrhundert wieder auf, zum Beispiel in einer posthum veröffentlichten Schrift von David Hume.
Suizid ist die eine Möglichkeit, mit dem Sterben umzugehen. Es gibt aber auch Alternativen wie beispielsweise die Sedierung am Lebensende.
Markus Zimmermann: Ja, aber die Sedierung am Leben-sende wirft auch eine Reihe schwieriger Fragen auf. Im Nationalen Forschungsprogramm 67 war eines der überraschendsten Ergebnisse, dass quasi jeder vierte Schweizer in Sedierung stirbt. Erstaunlicherweise gibt es darüber bislang noch keine öffentliche Debatte, aber die wird voraussichtlich noch kommen.
Stefan Matter: Nicht bei Bewusstsein zu sterben, wäre damals furchtbar gewesen. Der unvorbereitete Tod war das Allerschlimmste, was man sich vorstellen konnte. Diesen auch noch absichtlich zu beeinflussen bzw. herbeizuführen durch Sedierung, wäre unvorstellbar gewesen.
Markus Zimmermann: Der englische Philosoph Francis Bacon war anfangs des 17. Jahrhunderts der erste, der die Idee äusserte, Ärzte könnten sich um lebensverlängernde Massnahmen und Schmerzlinderung bemühen. Vor ihm war das kein Thema.
Welche Bedeutung hatten Schmerzen im Mittelalter?
Stefan Matter: Sie spielten im Zusammenhang des Sterbens eine untergeordnete Rolle. Jesus am Kreuz galt als Vorbild, weil er die Schmerzen auf sich genommen hat. Es wurde deshalb geraten, das eigene Leiden als persönlichen Beitrag zur Erlösung zu sehen. Schmerzen wurden v.a. in diesem Zusammenhang thematisiert und damit ertragbar gemacht, indem man ihnen einen Sinn gab.
Jesus fühlte sich kurz vor seinem Tod von Gott verlassen. War eine der Vorstellungen des guten Sterbens auch, möglichst nicht alleine zu sein?
Stefan Matter: Ja. Man regelte idealerweise, wenn man den Tod nahen sah, die letzten Dinge. Man kümmerte sich um den Nachlass und als Fürst, dass die Ämter besetzt wurden. Man tätigte vielleicht noch ein paar fromme Stiftungen für das Seelenheil, hörte so oft wie möglich die Messe … Die Leute, die man üblicherweise bei sich am hatte, liess man zu sich kommen. Den Nachkommen gab man Ratschläge mit auf den Weg, und starb in Gesellschaft.
Und heute?
Markus Zimmermann: Einsamkeit erleben heute viele Menschen an ihrem Lebensende. Viele sterben im hohen Alter, viele der Altersgenossen sind bereits tot, zusehends mehr Menschen haben auch keine Nachkommen. In einem Pflegeheim ist die intensivste Kontaktperson meist die zuständige Krankenpflegekraft. In der Soziologie ist vom sozialen Tod die Rede, der nicht selten bereits eingetreten sei, bevor der biologische Tod später erst folge.
Was wäre die Lösung?
Markus Zimmermann: Die Schaffung von Caring Communities. Das heisst die Entwicklung neuer Nachbarschaftsideen, wobei Nachbarn die Rollen und Funktionen übernehmen, die heute im Bereich der Familie geleistet werden.
Unser Experte Markus Zimmermann ist Professor am Departement für Moraltheologie und Ethik.
markus.zimmermann@unifr.ch
Quellen / Literatur
Zimmermann, Felder, Streckeisen, Tag: Das Lebensende in der Schweiz. Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven, Basel 2019 (open access, auch in französischer Übersetzung)