Forschung & Lehre
Kinder schlafen anders
Im Tiefschlaf zeigt das Gehirn spezifische Aktivitätsmuster, die sich in langsamen Wellen ausbreiten. Freiburger Schlafforschende konnten nun zeigen, dass diese Wellen bei Kindern ganz woanders im Gehirn entstehen als bei Erwachsenen. Das eröffnet neue Ansätze zur Analyse von Schlaf bei Kleinkindern, könnte aber auch ganz grundsätzliche Einblicke in die Funktion des Tiefschlafs und die Entwicklung des Gehirns erlauben.
Kinder schlafen mehr, das ist bekannt. In den Schlaflabors zeigt sich aber auch immer deutlicher: Kinder schlafen anders. Erwachsenwerden: das bedeutet nicht nur einen charakterlichen und körperlichen Reifungsprozess – mehr Verantwortung und weniger Gamen, mehr Bart und weniger Blödsinn. Erwachsen werden wir buchstäblich auch im Schlaf. Aktuelle Forschungsergebnisse aus dem neuen Baby Sleep Laboratory am Psychologischen Departement der Uni Freiburg lassen tief in die Gehirne von schlafenden Kindern blicken. Dank sensibler Sensorik und aufwendiger Datenanalyse erlauben EEG-Messungen immer feiner aufgelöste Einblicke ins Gehirn, obwohl nur die elektrische Aktivität an der Oberfläche erfasst wird. Um genauer zu ergründen, was sich unter der Schädeldecke so alles tut während wir schlafen, wurde eine internationale Zusammenarbeit lanciert mit der Université Laval (Canada), der University of Colorado Boulder (USA) und dem Universitätsspital Zürich. Die Schlafforschenden verkabelten die Köpfe von Kindern in verschiedenem Alter mit zahlreichen EEG-Elektroden; schlafen durften die Kinder aber zuhause im eigenen Bett. Auf diese Weise können Schlafforschende heute nicht nur das Schlafverhalten beobachten – Bewegungsaktivität, Atmung, Augenbewegungen –, sondern auch, was das Gehirn tut, während der Mensch schläft. Salome Kurth, Leiterin des 2019 lancierten Baby Sleep Laboratory, nennt es den «Goldstandard der Schlafforschung».
Die detaillierten Daten zeigten vor allem im Tiefschlaf Erstaunliches. Diese Schlafphase ist geprägt von einem spezifischen Aktivitätsmuster im Hirn, das sonst im Wachzustand nicht zu beobachten ist: langsam alternierende Muster von neuronaler Ruhe und Aktivität, die in Wellen durch das ganze Gehirn laufen.
Diese sogenannte Slow Oscillation (SO) mit einer etwa sekündlichen Frequenz ist für die Forschenden von besonderem Interesse, einerseits, weil sie als wichtiges Werkzeug dient, um zu bestimmen, wie tief jemand schläft. Denn je tiefer der Schlaf, desto intensiver werden diese Wellen. Salome Kurth betont die wichtige Rolle des Tiefschlafs: «Wir denken Schlaf sei vor allem Erholung für das Gehirn, aber es ist viel mehr als das.» Aber was genau?
Simple Antworten darf man da von Kurth nicht erwarten. Im Gespräch mit ihr merkt man rasch, dass der Schlaf sich seine Geheimnisse trotz zeitgemässer Diagnostik und Grundlagenforschung nicht so leicht entreissen lässt – und dass man sich als Forscherin vom «Mysterium Schlaf», wie sie es selber nennt, durchaus inspirieren lassen kann. Was passiert mit uns in der Nacht? Was treibt das Gehirn, während wir in weiche Bewusstlosigkeit versinken? Die genauere Untersuchung der SO zeigt: Es ist in dauernder Bewegung. Es schaukelt, könnte man sagen. Es schwingt, ruhig und sanft.
Welche Welle reitet dein Hirn?
Was Salomé Kurth und ihre Kollegen herausgefunden haben, passt jedenfalls wunderbar zur These, dass das Gehirn sich im Tiefschlaf nicht einfach eine wohlverdiente Pause gönnt, sondern im Gegenteil intensiv arbeitet, zumindest lokal. Als das Forschungsteam die SO-Wellen bis zu ihrem Ursprung verfolgten, zeigten sich nämlich klare Unterschiede bei den Kindern im Vergleich zu Erwachsenengehirnen. Bei Letzteren erscheinen die langsamen Wellen zuerst im Stirnbereich, um sich danach zu den weiter hinten liegenden Hirnregionen auszubreiten. Demgegenüber entstehen die langsamen Wellen bei Kindern im Schulalter vor allem in den hinteren Hirnregionen. Mit dem Älterwerden wandern die «Epizentren» der Wellen allmählich nach vorn. Erst wenn die Kinder die Adoleszenz erreichen, starten auch bei ihnen die langsamen Wellen vom frontalen Hirnbereich aus. Und eben deshalb ist die Beobachtung der sich verändernden SO-Aktivität für die Forschenden so aufregend, «weil die Untersuchung der SO-Veränderungen uns einen Zugang zur Hirndynamik gibt.» Konkreter: Wo sie generiert werden, hängt vermutlich mit den jeweils vorherrschenden Lernprozessen im Wachzustand zusammen, und die verändern sich eben auch mit dem Alter. Es ist eine einleuchtende These: In den SO-Mustern zeigt sich, womit das Gehirn im Wachzustand gerade beschäftigt ist und damit auch, wo es im Schlaf «weiterschwingt». Bei Kindern sind es eher der motorische oder der sensorische Kortex, die in der Nacht zu tun haben. Je erwachsener wir werden, desto aktiver wird der frontale Kortex, der für Problemlösung und Gedächtnis zuständig ist. Wird da also weitertrainiert, während wir selig schlafen? Kurth sagt, abschliessend sei das noch nicht geklärt. Sie stelle es sich zuweilen eher als Aufräumen vor, als Löschen von Unnötigem. Tagsüber wird so einiges angehäuft im Hirn, Sinneseindrücke, Ideen, Erlebnisse, Informationen – in einem Tempo, dass zum Schluss eine gehörige Unordnung herrscht. Dann kommt die Nacht und es wird sortiert, abgelegt, Zusammenhänge setzen sich. Es gibt eine Reihe von Studien, die aufzeigen, dass ein bleibender Lernerfolg viel mit einem guten Schlaf in der folgenden Nacht zu tun hat. Wenn aber das Aufräumen wichtiger ist, würde Kurth sogar eher empfehlen, bereits vor dem Lernen gründlich auszuschlafen. Dann sei das Gehirn im besten Zustand, um das Gelernte aufnehmen zu können.
Unterschätzter Tiefschlaf?
Viel mehr interessiert Kurth aber die Frage, wie die Tiefschlafaktivität mit der Entwicklung des Gehirns zusammenhängt. Man weiss: Bei Mäusen und Fliegen kann man die Hirnentwicklung empfindlich stören, wenn man ihnen im jungen Alter den Schlaf raubt. Sie ist überzeugt: «Das hat ganz direkt miteinander zu tun: die Dynamik des Schlafs und die Dynamik der Plastizität.» Das Gehirn nicht als fest verdrahteter Computer, sondern als plastisches, sich immer wieder den Umständen anpassendes Organ: Auch dazu gibt es einen wachsenden Korpus an Forschungsergebnissen. Die Zusammenhänge zum Tiefschlaf und der SO haben Kurth und ihre internationalen Forschungskollegen unlängst in einem Übersichtsartikel im Fachjournal «Current Opinion in Physiology» zusammengetragen.
Im neuen Baby Sleep Laboratory, das durch den Schweizerischen Nationalfonds mit einem Eccellenza Grant gefördert wird, wollen die Freiburger Forschenden den SO nun weiter nachspüren. Vor allem wollen sie genauer untersuchen, welche Rolle die langsamen Wellen in der Hirnentwicklung spielen. Könnte es sein, dass sich hinter den auffälligen Signalen etwas viel Fundamentaleres verbirgt? Kurth hält es für möglich, dass die Aktivitätsmuster nicht bloss passive Spuren von Hirnprozessen sind, sondern dass sie eine aktive Rolle bei der Hirnentwicklung spielen. Werden die Gehirnzellen von den Wellen gewissermassen massiert, werden durch sie erst Veränderungen im Gehirn angeregt, vielleicht sogar gesteuert? «Möglicherweise unterstützen die langsamen Wellen Gedächtnisprozesse und helfen uns ‹dynamisch› zu blieben, um uns an Veränderungen in unserer Umwelt anzupassen,» sagt die junge Schlafforscherin. Im Baby Sleep Laboratory will sie helfen, diesbezügliche Wissenslücken zu schliessen, gerade in den frühen Lebensphasen des Menschen.
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Aber die Fragen sind im Grunde viel grösser: Die Schlafforschung verstehe ja noch nicht einmal genau, was denn einen gesunden und was einen ungesunden Schlaf ausmache. In Freiburg wird man sich auf das erste Lebensjahr konzentrieren, um unter anderem herauszufinden, wie sich Kinder entwickeln, deren Schlaf spezielle Muster zeigt. Kann sich zum Beispiel zu wenig Schlaf negativ auf die späteren schulischen Leistungen auswirken? Sobald man das besser versteht, kann man solchen Kindern und ihren Eltern auch besser helfen. Aber dann drückt bei Kurth gleich wieder die Grundlagenforscherin durch, die vor allem weiss, wie viel wir noch nicht wissen: Zum Beispiel, weshalb Babies noch gar keinen ausgeprägten Tiefschlaf kennen und stattdessen viel mehr Zeit im REM-Schlaf verbringen. Oder wie die Schlafdynamik mit dem Immunsystem zusammenhängt. Oder welche Rolle das Mikrobiom in diesem Gefüge von Hirnentwicklung und Schlaf spielt. Fragen über Fragen.
Unsere Expertin Salome Kurth hat einen Hintergrund in Biologie, seit einigen Jahren spürt sie Netzwerken in kleineren Dimensionen nach: denen in unserem Gehirn. Ihr Forschungsgegenstand ist der Schlaf, sie will verstehen, wie in unseren Köpfen biologische, psychologische, soziale und sogar bakterielle Welten aufeinandertreffen, um medizinische Realitäten zu schaffen. 2019 profitierte sie vom neuen Instrument Eccellenza des SNF, das hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Weg zur unbefristeten Professur unterstützt. Dank der Förderung kann sie an der Uni Freiburg nun fokussiert die Reifung des Hirns und die Entwicklung von Schlaf-Wach-Rhythmen im Verlauf der ersten Lebensmonate untersuchen.