Dossier
Die grosse Vernetzung
Das Hirn ist keine Maschine mit klar getrennten Funktionseinheiten. Das zeigt sich auch anhand eines laufenden Experiments zum Sprachverständnis, das eine Masterstudentin der Uni Freiburg zusammen mit Neurolinguisten der Universität Zürich durchführt.
Jessica Jacobs Hand zuckt leicht, während die seltsame schwarze Sonde, eine Magetspule, nah über ihrem Kopf verharrt. Noch einmal drückt Basil Preisig einen Knopf, dem Klicken folgt prompt wieder ein Zucken in der Hand. Jacobs Gehirnrinde wurde gerade «nichtinvasiv» stimuliert, mit einem Magnetfeld, das ziemlich punktgenau das motorische Zentrum der Hand getroffen hat. Die Handmuskulatur reagiert unwillkürlich, sonst spürt Jacobs kaum etwas von dem «Eingriff». Die junge Psychologin, die an der Universität Freiburg ihren Master macht, hat sich als Versuchsperson zur Verfügung gestellt, um vorzuzeigen, welchen Effekt Magnetfelder auf das Gehirn haben können. Allzusehr wundern sollte einen die Wirkung ja nicht – man weiss schliesslich, dass das Gehirn im Wesentlichen ein elektrisch funktionierendes Organ ist. Bloss wie genau dieses Organ funktioniert, verstehen wir auch bald zweihundert Jahre nach der Entdeckung der «tierischen Elektrizität» noch nicht im Detail. Unser Alltags-Zugriff auf das Wesen und Wirken des Gehirns folgt ganz dem simplen Descartschen «Ich denke also bin ich»: Wir wissen unmittelbar, dass unser hochentwickeltes Gehirn uns befähigt, diesen Text zu lesen, zu interpretieren und bedeutungsvoll darauf zu reagieren. Jacobs interessiert sich aber für die konkreteren Fragen dahinter: «Wie entsteht aus dieser Ansammlung von Nervenzellen ein Kommunikationssystem? Was genau geschieht im Gehirn wenn wir Sprache hören?»
Multitasking im Gehirn
Lange hatten sich die Neurologen und die Neurolinguisten mit ihnen darauf kapriziert, genau voneinander separierte Hirnregionen mit entsprechend klar zugeteilten Aufgabenstellungen zu bestimmen – ein wenig als wäre das Gehirn eine grosse, komplex zusammengebaute Maschine. Jacobs erinnert das an die Phrenologie, diese seltsame Wissenschaft der Schädelformen aus dem 19. Jahrhundert, von der eigentlich bloss noch die hübschen, mit geistigen Fähigkeiten beschrifteten Kopfkeramiken übrig sind. Die Hirnchirurgie hat dieses Denken in Arealen dann weiter gepflegt, aus nachvollziehbaren Gründen: Weil es natürlich einfacher ist, im Gehirn zu operieren, wenn man davon ausgeht, dass man nur klar begrenzten Schaden anrichtet. Die zeitgenössische Hirnforschung hat sich von solch simplen Schemen allerdings längst verabschiedet, heute versteht man Hirnfunktionen eher als komplexe Netzwerke. Jacobs sagt gar, für sie sei das Gehirn das komplizierteste System, das es im Universum gibt. Es klingt nicht nach Ohnmacht und Überforderung, wie sie das so sagt, sondern nach grosser Faszination. Denn wenn da oben sehr vieles mit sehr vielem anderen zusammenhängt, dann sorgt das natürlich einerseits für Schwierigkeiten, in der Hirnchirurgie zum Beispiel, offenbart aber andererseits auch grosse Potentiale. Was also, wenn Hirnareale, die eigentlich fürs Sprechen genutzt werden, auch für das Verstehen nützlich sind? Das Ziel des Forschungsprojekts, das Jacobs zusammen mit Alexis Hervais-Adelman und Basil Preisig von der Universität Zürich durchführt, ist es herauszufinden, ob wir auf diesem Weg zusätzliche Kapazitäten für das Verstehen von Sprache freischalten können.
Tatsächlich stehen Geräte, wie sie Basil Preisig eben bedient hat, auch in manchen Labors, in denen man sie nicht unbedingt erwarten würde, so zum Beispiel bei Ökonomen, die herausfinden möchten, ob man Menschen mit Hirnstimulation altruistischer oder egoistischer machen kann. Ein kleines Treatment vor der nächsten Lohnverhandlung vielleicht? Alles noch Zukunftsmusik – und wohl auch ein wenig schemenhafter gedacht als es in der seriösen neurolinguistischen Forschung der Fall ist. In der Forschungsarbeit von Jacobs und Preisig geht es um etwas Anderes: Sie wollen verstehen, wie verschiedene Hirnareale zusammenwirken wenn wir sprechen beziehungsweise wenn wir Sprache verstehen. Man stutzt: da gibt es doch einen klaren Unterschied? Hier kognitives Vermögen, dort motorische Fähigkeit. Aber die beiden Areale sind wohl viel enger verknüpft als es den Anschein macht – das haben schon eine Reihe von neurologischen Studien aufgezeigt.
Wie untersucht man aber so einen Netzwerk-Zusammenhang, ohne dass man sich im grossen korrelierenden Ungefähr verliert? Dazu behelfen sich Jacobs und Preisig mit einem ganzen Arsenal an Geräten, um Hirnströme zu messen und zu verändern. Was zunächst kompliziert klingt, fusst im Grunde auf einem ganz einfachen Gedanken: Sprache ist eine vielschichtige Sache – auch im Gehirn. Eine Stimulation in einem Bereich kann für überraschende Wirkungen in einem anderen Bereich sorgen. Die Herausforderung ist allerdings, einen Versuchsaufbau zu konzipieren, mit dem man diese Wirkungen nachvollziehen und im besten Fall eine Kausalität herausschälen kann.
Quot est demonstrandum
Für die Stimulation beim am Inselspital in Bern durchgeführten Experiment sorgt die sogenannte transkranielle elektrische Hirnstimulation (TES). Im Hauptteil des Experiments wird der artikulatorische Motorkortex, der für die Sprechbewegung zuständig ist, während zehn Minuten mittels elektrischer Ströme angeregt. Wichtiger Teil des Experiments ist es, die Wirkung dieser Stimulation auch tatsächlich «sehen» zu können, also sicherzugehen, dass im Motorkortex etwas passiert ist. Das passiert mit dem eingangs geschilderten Gerät, das ebenfalls nichtinvasiv ins Hirn «eingreift», allerdings mit Magnetfeldern statt direkt mit Strom. Die TMS-Spule sorgt, falls richtig auf dem Schädel platziert, für ein leichtes Zucken im Lippenmuskel, ganz so wie Jacobs und Preisig das vorher am Beispiel der Hand vorgeführt hatten. Je stärker das Zucken, desto grösser die Erregbarkeit des Hirnareals. Hat man also richtig stimuliert, dann hat man den artikulatorischen Motorkortex gewissermassen wachgeküsst. Und das sieht man bei der nachfolgenden Magnetstimulation: Check.
Schritt für Schritt
Der spannende Teil folgt nun: Welche Auswirkungen hat das auf das Sprachverständnis? Früher hätte man gesagt: Keine. Heute sagt die Forschung oder in diesem Falle Basil Preisig: «Wenn man weiss, wie stark Verständnis und Produktion von Sprache interagieren, darf man erwarten, dass dies einen Effekt hat.» Fällt es den Probandinnen und Probanden – im Experiment allesamt gesund – leichter, ähnlich klingende Silben auseinanderzuhalten, nachdem ihre Lippenmotorik «geboostet» worden ist? Noch ist die Studie ganz am Anfang, belegen lässt sich noch nichts. Es lohnt sich aber unbedingt, den Zusammenhang zu studieren, denn die Verknüpfung böte spannende therapeutische Möglichkeiten. Sollte sich bewahrheiten – und davon gehen Preisig und Jacobs aus –, dass Motorik und Verständnis eng zusammenhängen, könnte die Aktivierung des Sprachmotorkortex womöglich hörgeschädigten Menschen das Sprachverständnis erleichtern. Und überhaupt, Jacobs wird philosophisch, wenn man sie zu solchen Zusammenhängen befragt: Ist vielleicht sogar das Gedankensystem an das Sprachsystem gekoppelt? Preisig ist eher vorsichtig, jedenfalls was die konkrete Anwendung betrifft: «Man ist schon sehr weit, was das Verständnis von Motorik und Sensorik angeht.» So sei es möglich, Maschinen durch die Rückkoppelung von Hirnsignalen und Computersystemen – sogenannten Brain-Computer Interfaces – zu steuern. Und man habe auch schon gezeigt, dass man ein Sprachsignal aus reiner Hirnaktivität rekonstruieren kann. Aber Gedanken lesen? Das ist dann doch noch eine andere Herausforderung. Zunächst einmal haben die Neurowissenschaftler genug damit zu tun, alte Schemen zu überwinden und zu zeigen, dass man auch etwas vom Kompliziertesten was es gibt nach und nach besser verstehen kann.
Unsere Expertin Jessica Jacobs macht derzeit ihren Master in kognitiven Neurowissenschaften an der Uni Freiburg. Das im Labor für Perzeption und Okulomotorik Inselspital Bern durchgeführte und vom Nationalfonds unterstützte Forschungsprojekt ist eine Teamarbeit mit Alexis Hervais-Adelman und Basil Preisig vom Neurolinguistik-Team der Universität Zürich. Die ersten Tests mit (gesunden) Probandinnen und Probanden sind eben angelaufen.