Dossier
Im Reich der Philia
Wie entstehen Freundschaften und was sind sie überhaupt? Ein Gespräch mit dem Theologen Joachim Negel.
Als sich Joachim Negel der Freundschaft widmete, ahnte er nicht, was er sich da vorgenommen hatte. «Das Thema explodierte mir wortwörtlich unter der Hand. Es gibt so viele Zugänge! Egal wo man zu graben anfängt, man fällt immer wieder drauf». So schrieb der Professor für Fundamentaltheologie schliesslich ein Buch von über 500 Seiten.
Darf ich bitten?
Freundschaft ist für Joachim Negel eine Art Tanz: Es braucht Taktgefühl und ein gutes Ohr, man muss im selben Rhythmus schwingen und sich nahe sein – aber ohne dem Gegenüber auf die Füsse zu treten. «Es braucht die richtige Mischung von Nähe und Distanz», sagt Negel. «In normalen Zeiten werden Freundschaften typischerweise auch an der Uni geschlossen, vor allem in den ersten Semestern. Man lernt neue Leute kennen, trifft sich vielleicht mal auf ein Bier. Und mit der Zeit stellt sich dann die Frage, was wird daraus? Ist das eine Kumpelei? Jemand zum Rumblödeln auf Partys oder zum Wandern am Wochenende? Oder entsteht da eine Seelenfreundschaft, bei der man anfängt, mehr und mehr von sich zu erzählen, sich gegenseitig aufschliesst, so dass man am Ende ahnt: Das war jetzt ein ganz besonderer Abend?»
Der oder die mich trotzdem mag
Bei der Frage nach der Art der Beziehung kann ein Blick in die griechische Antike helfen. Dort sprach man von Eros, Agape und Philia. «Eros ist die erotische Liebe, das Begehren», erklärt Negel. «Agape ist die uneigennützige Liebe, also etwa jene der Eltern zum Kind oder des Gastgebers zum Gast. Freundschaften wiederum fallen ins Reich der Philia. Hier sprach man im Altertum zum einen von der amicitia utilis, der nützlichen Freundschaft (wir würden vom Arbeitskollegen sprechen, mit dem man auch mal ein Bier trinken geht), zum anderen von der amicitia delectabilis, der geniesserischen Freundschaft (damit meinte man etwa die Sängerfreundin oder den Ruderkumpel) und zum dritten von der amicitia honesti, der ehrlichen Freundschaft. Die bezeichnet die zwei, drei engsten Freundinnen und Freunde, denen man sein Herz ausschüttet.»
Aber was ist Freundschaft überhaupt? Woher kommt sie? Wie entsteht sie? «Genau diese Fragen habe ich mir auch gestellt», sagt der Theologe. «Wir alle haben ja zunächst einmal eine ziemlich eremitische Seite. Wir werden allein geboren, wir sterben allein. In den grossen Fragen des Lebens sind wir nicht vertretbar. Auf der anderen Seite sind wir aber auch soziale Wesen. Wir können auf Dauer nicht ohne die anderen. Niemand ist eine Insel, oder ums mit der Bibel zu sagen: ‹Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.› – Wir brauchen also die Familie, die Kolleginnen, die Freunde. Ein Freund ist jemand, der mich sehr gut kennt und mich trotzdem liebt. Jemand der mich gut leiden kann. Das Deutsche bietet hier eine spannende Formulierung: Ein Freund ist einer, der mich im Wortsinn ‹leiden mag›. Er leidet zwar manchmal unter meinen Macken, aber es macht ihm oder ihr zuletzt nichts aus, denn ich bin ihm oder ihr wichtiger als meine Schrullen.»
Göttliche Freundschaft
In der Freundschaft blitzt für Negel etwas von dem auf, das die Welt im Innersten zusammenhält. «Eine Grundaffirmation», wie der Theologe sagt, «oder ein Urvertrauen, wie es die Psychologie nennt. Ich habe mich weder selbst gezeugt, noch selbst geboren; ich finde mich vor. Ich bin mir anvertraut, mir zugesprochen (manchmal bin ich mir auch zugemutet). Es gibt Momente, da empfinde ich mich, ehrlich gesagt, auch als «schöne Bescherung», auf die ich ganz gerne verzichtet hätte. Und doch: Es gibt da diesen Vorschuss ins Leben hinein. Mit der Freundschaft hat das insofern zu tun, als ich mir das nicht herbeizaubern kann. Ich könnte auch sagen, mein Leben ruht in einer Wirklichkeit, die schon immer wollte, dass ich bin. Religiöse Menschen nennen diese Wirklichkeit Gott. In dem, was wir als Freundschaften erleben, scheint etwas auf von diesem Urvorschuss, von dieser Urbefreundung.»
Da haben wir es: Freundschaften sind göttlich. Gibt es dann auch eine Freundschaft mit Gott? Und wie funktioniert diese? «Das weiss ich auch nicht!», lacht Negel. «Zwar kommt das Motiv im Alten Testament auf, Thomas von Aquin spricht ebenfalls von der Freundschaft zu Gott und auch in der Thora steht der Leitsatz ‹Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.› – Aber wie liebt oder befreundet man etwas, das man weder sehen, noch riechen, noch umarmen kann? Aristoteles sagt: ‹Wo der Abstand zu gross ist wie bei der Gottheit, kann eine Freundschaft nicht sein›. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb im christlichen Kulturraum Gottesfreundschaft vor allem als Jesusfreundschaft gelebt wurde. Denn Jesus von Nazareth war ein konkreter Mensch.»
Überhaupt sind Freundschaften ja immer etwas sehr Konkretes. Die ersten knüpfen wir bereits in der Kindheit, die grosse Zeit der Freundschaft ist aber eindeutig die Jugend. «Man ist in ähnlichen Situationen, verlässt gerade das Elternhaus, beginnt auf eigenen Füssen zu stehen, kommt vielleicht in eine neue Stadt. Die grossen Entscheide – Beruf, Ehe, Familie – sind noch nicht gefallen.» Später nimmt die Bereitschaft zur Freundschaft allgemein ab. «Wobei es Ausnahmen gibt: Hannah Ahrendt etwa war bis ins hohe Alter ein Genie der Freundschaft. Und bei uns allen kommt es vor, dass da plötzlich ein alter Freund vor uns steht und die Freundschaft kriegt wieder richtig Feuer.»
Von manchen Freundschaften schwärmt Negel geradezu. «Abelard und Heloise, Anselm und Bozo, Platon und Phaidros, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre: Es gibt Freundinnen und Freunde, die sich gegenseitig befeuert haben und aneinander gewachsen sind.» Und während vieles sich kulturell unterschiedlich ausprägt oder sich im Lauf der Zeit verändert, sieht der Negel die Freundschaft als Konstante. «Wir können das babylonische Gilgamesch-Epos lesen und wir verstehen den Schmerz, den Gilgamesch über den Tod seines Freundes Enkidu empfindet. Wir können Montaignes Freude über seinen Freund Etienne de la Boëtie genauso nachfühlen, wie den Ärger Wolf Biermanns über den Verrat seiner Freunde.» Im 16. Jahrhundert schrieben zwei höchst unterschiedliche Autoren in China gemeinsam ein Buch über die Freundschaft: Der Jesuit Matteo Ricci und Hien Tsu, hoher Beamter am Kaiserhof in Peking, versammelten und übersetzten Texte von Aristoteles, Cicero, Konfuzius, Lao Tse. Das Buch wurde zum Bestseller. «Es gibt offensichtlich quer über Zeiten und Kulturen das Bedürfnis, sich in einem anderen Menschen wiederzufinden.»
In guten wie in schlechten Zeiten
Sich im andern wiederfinden: Das klingt nun schon sehr stark nach Liebe. «Auch Ehen sind Freundschaften!», hält Negel entgegen. «Nietzsche etwa schreibt: ‹Die meisten Ehen zerbrechen nicht an einem Mangel an Liebe, sondern an einem Mangel an Freundschaft.› Und noch vor wenigen Jahrhunderten wäre es niemandem in den Sinn gekommen, eine Ehe auf so etwas Flüchtiges wie Liebe abzustellen. Immerhin ging es dabei darum, einen Hof zu bewirtschaften oder Dynastien zu stärken. Da war Freundschaft die tragfähigere Basis, als die Liebe, bei der die Leidenschaft nach einiger Zeit sowieso verfliegen muss. Von einem Freund erwarte ich Sympathie, aber nicht die Erfüllung meines Lebens. Das kann ich auch von einem Ehepartner nicht erwarten.»
Besonders glückliche Ehefreundschaften führten für den Theologen etwa Michail Gorbatschow und Raissa Gorbatschowa oder auch André und Dorine Gorz. André Gorz legte mit «Lettres à D.» ein Büchlein vor, in dem er seiner Frau in langen Briefen schrieb, wieviel sie ihm bedeute. Ein halbes Jahr später nahmen sich die beiden das Leben. Dorine litt wegen eines ärztlichen Kunstfehlers unter enormen Schmerzen, und André wollte nicht weiterleben ohne sie – also beschlossen sie, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. «Im Grunde ist es eine moderne Version von Philemon und Baucis. Das alte Paar wird bei Ovid am Ende in eine Eiche und eine Linde verwandelt, die sich ineinander verzweigen. Und so leben sie bis heute».
Unser Experte Joachim Negel ist Professor für Fundamentaltheologie. Sein aktuelles Buch trägt den Titel «Freundschaft. Von der Vielfalt und Tiefe einer Lebensform».