Dossier

(K)eine Geschichte in schwarz-weiss

Zur ungemütlichen Debatte um koloniale Dimensionen der Alltags- und Spendenkultur.

Die weltweite Auseinandersetzung mit Rassismus hat sich seit dem «Black Lives Matter»-Sommer» 2020 intensiviert und auch die Schweiz konnte sich dieser Debatte nicht entziehen. Die Vorstellung, dass im schweizerischen Kontext keine Differenzierung aufgrund von «Rassen» und damit kein Rassismus existiert(e) und die Annahme schweizerischer, weisser Unschuld wurden breitenwirksam erschüttert und in Frage gestellt.
Die Idee der racelessness ist in der Schweiz eng mit dem Geschichtsbild als «Land ohne koloniale Vergangenheit» verknüpft. Zwar verweisen neuere historische Erkenntnisse auf die zahlreichen Verflechtungen schweizerischer Akteur_innen mit der kolonialen Welt. Diesen wird in öffentlichen Diskussionen aber oft relativierend entgegengehalten, dass es sich dabei lediglich um einzelne Unternehmen, einzelne Söldner, einzelne Auswandernde gehandelt habe. So können die aufgezeigten Verstrickungen als Fehlverhalten weniger Individuen aufgefasst werden, womit die breite Bevölkerung weiterhin als kolonial unbelastet und ausserhalb rassistischer Denkkategorien stehend erscheint.

Achtung: (Kindheits-)Erinnerung

Diese Lesart der Schweizer Geschichte wird aber brüchig, wenn ein omnipräsentes Alltagsobjekt in den Blick genommen wird: das sogenannte «Nicknegerli». So hiess die berühmte Spardose, welche von christlichen Missionen seit Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte der 1960er Jahre zur Sammlung für ihre Projekte verwendet wurde. Die nickende Sparbüchse hatte über fast hundert Jahre in Kirchen und Sonntagsschulen ihren festen Platz, daneben wurde sie in Geschäften, Schulen und an Bazaren aufgestellt oder in Sammelaktionen von Haus zu Haus getragen. Das Objekt hatte also aufgrund der Verbreitung, Beliebtheit und Einbindung in die helvetische Alltagskultur eine nicht zu überschätzende Wirkungsmacht. Es verfestigte ein spezifisches Bild von Afrikaner_innen und strukturierte das Verhältnis von Schweizer_innen zu Schwarzen Menschen. Damit drängt sich die Frage auf, welche Vorstellung vom «Anderen» diese Sammeldose verbreitete und wie vor dieser Folie das «Eigene» gedacht werden konnte.

Spendende Schweiz, nickende «Andere»

Die Figuren auf den Sparbüchsen wurden oft mit überdimensionalen, roten Lippen, krausem Haar, zu grossem Hemd, barfuss und mit schwindender Stirn karikiert. Der Nexus dieser Merkmale entsprach dem kolonialstereotypen Klischee des «unzivilisierten» und «exotischen» Afrikaners. Teilweise hatten sie die Hände zur Bitte oder zum Dank gefaltet, beinahe durchgängig knieten sie auf den Dosen, eine symbolische Haltung der Demut, Unterwürfigkeit und Inferiorität.
Vor diesem Hintergrund war es Schweizer Spender_innen möglich, sich selbst als Wohltäter_innen zu sehen: Altruistisch entrichtete man seinen Obolus an die Bedürftigen und wurde damit seiner eigenen Überlegenheit versichert. Dass die Spende mit einem dankbaren Nicken quittiert wurde, verfestigte die Vorstellung devoter Bittstellender, die auf externe Hilfe angewiesen seien und sich dafür erkenntlich zeigen würden. Die Welt teilte sich in simplifi­zierender Weise auf in Kniend-Nickende und Stehend-­Spendende, in Hilflose und Helfende, in Schwache und Mächtige – und dieses dichotome Auseinanderdividieren vollzog sich entlang der Kategorien Hautfarbe und Herkunft. Schwarze Menschen wurden als vermeintlich homogene Gruppe über biologische Merkmale definiert und den Schweizer Spender_innen als defizitär gegenübergestellt, wodurch die missionarische Sammeldose koloniale Prozesse der Rassifizierung bediente und beförderte. Über Generationen hinweg war der Ritus einer selbstlosen weissen Opfergabe an das unterwürfig dankbare Schwarze «Andere» steter Alltagsbegleiter, wodurch das schweizerische Selbstbild der Überlegenheit und der Wohltätigkeit gepflegt und immer wieder aufs Neue stabilisiert wurde. Die Sammeldose trug damit massgeblich zur Verankerung des kulturellen Kolonialismus bei und formte die Erzählung einer humanitären Tradition der Schweiz in spezifischer Weise mit.

 

 

Wandel und Widerstand

Interessanterweise erkannten Missionen bereits in den 1960er Jahren die problematischen Aspekte der nickenden Figur. Die zunehmende Kritik am Kolonialismus und die Ablehnung von Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg zwang auch sie dazu, ihre Diskurse und Praxen zu überdenken. In diesem «modernisierten» Missionsverständnis hatte die kolonialstereotype Sammeldose schlichtweg keinen Platz mehr und wurde fortan etwa durch Weltkugeln ersetzt. Diese begannen sich beim Einwurf einer Münze zu drehen und sollten hiermit die globale Bewegung zum Besseren durch eine Spendengabe versinnbildlichten. Die Vorstellung eines einseitigen Transfers vom Norden in den Süden sollte durch die Notion einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeiten ersetzt werden.
Dieser initiierte Perspektivwechsel stiess in der schweizerischen Bevölkerung allerdings auf Widerstand. So berichtete ein katholischer Missionar in der Monatsschrift «Wendekreis» 1976 etwa von seinem «Ärger mit den Nicknegern», da die rassistischen Sammeldosen im öffentlichen Raum nicht durch die angebotenen Alternativen ausgetauscht wurden. Ihm sei erwidert worden, man habe sich an das Objekt gewöhnt, das «seit eh und je» aufgestellt worden sei. Es sei ein wichtiger Bestandteil der «Kindheitserinnerungen» und die Mission «sollte Rücksicht auf die Gefühle der Leute nehmen». Die Weiterverwendung der nickenden Figur verärgerte den Missionar insbesondere deshalb, da sich zunehmend auch Afrikaner_innen im europäischen Raum bewegen würden und «sich durch den sichtbaren westlichen Überlegenheitsdünkel beleidigt fühlen» könnten. Entgegen seiner aufklärenden Intention löste der Artikel weitere Zeugnisse des Widerstandes aus. In einer Zuschrift wurde dem Missionar etwa entgegengehalten: «Die Frechheit, mit der man gutgesinnte Menschen wegen einem Nicknegerlein überfällt, finde ich sehr gemein. Es kommt doch nicht darauf an, auf welche Weise das Geld gesammelt wird, ob mit einem Nickneger, der die Kinder so erfreut, oder mit einer kalten Weltkugel.» Ein Umdenken in Bezug auf globale Beziehungen sowie auf Selbst- und Fremdverständnisse wurde somit zugunsten einer simplifizierenden Weltaufteilung abgelehnt und der Erhalt der sogenannten eigenen Tradition höher gewichtet, als die herabwürdigende Wirkung für Andere.

Dekolonisierung der «humanitären Schweiz»

Solche Argumentationsmuster lassen sich auch in den aktuellen Debatten beobachten. Ob in Bezug auf Süssspeisen, Wappensymbole, Werbekampagnen, Statuen oder Kindergeschichten: Wann immer auf kolonialrassistische Begriffe, Bilder und Vorstellungen im täglichen Leben verwiesen wird, ruft dies von diversen Seiten Gegenwehr hervor. Diese oszilliert zwischen der fast schon nostalgischen Betonung ihrer grossen Bedeutung für die eigene Tradition und Geschichte, welche es gegen ungerechtfertigte Angriffe aufrechtzuerhalten gelte und Erklärungsversuchen, dass es sich dabei nicht um rassistische Begriffe oder Bilder handle. Im Kontext der nickenden Figur wird darüber hinaus verteidigend argumentiert, dass man es ja nur gut gemeint habe, weshalb weder das Objekt noch die Handlung und auch nicht das damit verbundene Weltbild rassistisch gewesen sein könne. Der Verweis auf die altruistische Motivation kann folglich als ultimatives Totschlagargument wirken, wobei problematische Effekte der Spendenkultur ausgeblendet werden.
Die missionarische Sammeldose ist nicht nur ein weiteres Beispiel dafür, dass auch die breite Bevölkerung der Schweiz in koloniale Denksysteme eingebunden war. Der historische Blick auf die nickende Figur zeigt vielmehr auch, dass selbst vermeintlich wohltätige Handlungen rassistische Selbst- und Fremdverständnisse verfestigen konnten. Die kritische Dekonstruktion von Praxen des Spendens und Helfens – womit auch die Dekolonisierung des Selbstverständnisses der «humanitären Schweiz» einhergeht – ist zwar ungemütlich, jedoch dringend notwendig. Denn nur wenn koloniale Hintergründe und rassifizierende Strukturen in allen Bereichen des schweizerischen Alltags erkannt, benannt und verstanden werden, können sie schliesslich auch überwunden werden.

 

 

Unsere Expertinnen Simone Rees & Barbara Miller sind SNF-Doktorandinnen am Departement für Zeitgeschichte. Anhand einer katholischen Missionsgesellschaft untersuchen sie die Verflechtungsgeschichten zwischen dem kolonialen Simbabwe und der Schweiz im 20. Jahrhundert.
simone.rees@unifr.ch | barbara.miller@unifr.ch