Dossier

«Wir waren nicht dabei»

Welche Rolle spielte die Schweiz im Kolonialismus? Lange wurde die Frage kaum untersucht, weil es angeblich kaum etwas zu untersuchen gab. Aber diese Sicht ändert sich gerade.

«Wir waren nicht dabei.» Das wenigstens sagen sich Schweizerinnen und Schweizer gern, wenn es um die gros­sen Krisen der Weltgeschichte geht. Und auch die offizielle Schweizer Geschichtsschreibung propagierte lange Zeit den «Sonderfall»: das Abseitsstehen als Erfolgsrezept.
Dass die Schweiz nicht immer nur Abseits stand, wird erst bei näherer Betrachtung deutlich. Und näher betrachtet wird aktuell der Kolonialismus. «Damit hatten wir nun aber wirklich nichts zu tun», könnte man einwerfen, «schliesslich hatte die Schweiz nie Kolonien.» Anderer Meinung ist Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte. «Wer sich auf formelle Herrschaft und Besitz von Territorien konzentriert, hat einen zu engen Blick auf den Kolonialismus», sagt er. «Dieser umfasste nämlich auch Wirtschaft, Missionen, Wissensproduktion oder die Migration, also die Besiedelung der angeblich leeren Flächen in Übersee. Und es gab schon in den 1960er-Jahren Studien, die darauf hinwiesen, wie eng die Schweiz hier verflochten war.»

Kolonialismus ohne Kolonien

In den letzten rund 15 Jahren wurde die Forschung zum Kolonialismus intensiviert. Und mit der «Black Lives Matter»-Bewegung und den Debatten um Statuen, Schokoküsse und Alltagsrassismus werden Fragen rund um die Kolonialgeschichte auch in der Öffentlichkeit breiter diskutiert. «Für die Schweiz gibt es die Formel des ‹Kolonialismus ohne Kolonien›. Das heisst, dass die Schweiz zwar keine staatliche Kolonalmacht war und keine Territorien besass, andererseits aber eng mit der imperialen Geschichte verbunden war.»
Das betrifft unter anderem die Universitäten. Diese spielten bei der Produktion von Wissen über die koloniale Welt eine wichtige Rolle. «Es geht darum, welche Vorstellungen beispielsweise von Afrika an Schweizer Universitäten vermittelt wurden. Nehmen wir die Universität Freiburg,
an der viele katholische Missionare ausgebildet wurden: Diese brachen mit bestimmten Vorstellungen nach Afrika auf. Sie kriegten in Freiburg gewissermassen eine Brille aufgesetzt und durch die nahmen sie Afrika wahr. Oft kehrten sie mit den mitgenommenen Stereotypen wieder zurück und gaben die klischierten Vorstellungen weiter, wobei einige diese in der Zwischenzeit auch revidierten.» Schweizer Hochschulen waren auch daran beteiligt, in den Kolonien Menschen anthropometrisch zu vermessen. «Das technische Knowhow und die Präzisionsarbeit der schweizerischen Uhrenindustrie und Feinmechanik sind weltbekannt. Weniger bekannt ist hingegen, dass im Kontext der sogenannten Rassenforschung präzise Messtechniken und -instrumente an Schweizer Universitäten entwickelt wurden, um Menschen und ‹Rassen› wissenschaftlich, wie es damals hiess, zu erforschen, zu kategorisieren und klassifizieren. Die anthropometrische Messmethodik der Zürcher Anthropologie wurde zum Exportschlager und trug viel zur Wissensproduktion des europäischen Imperialismus bei.»

Schokolade, Globi und weisse Wäsche

Aber auch Bücher, Filme, Zeitschriften oder das Radio lieferten stereotype Bilder – beispielsweise in den Afrikafilmen von René Gardi oder den Geschichten von Globi. Dabei ging es nicht nur um offensichtlich Problematisches und Rassistisches wie die angebliche Minderwertigkeit als fremd und anders dargestellter Menschen, sondern beispielsweise auch um den Raum. «Das Bild der afrikanischen Weite wurde oft transportiert», sagt Skenderovic. «Eine Weite, die gefährlich und abenteuerlich war, aber noch erobert, ja ‹zivilisiert› werden konnte. Und das war dann auch das Selbstverständnis der Siedlerinnen und Siedler: dass sie die wilden Gegenden erschlossen und zivilisierten.»
Koloniale Bilder fanden sich aber auch schlicht und einfach im Schweizer Alltag, beispielsweise auf Konsumwaren und in Werbekampagnen. «Wir sprechen da von ‹Commodity Racism›, von ‹Warenrassismus›, der breite Gesellschaftskreise erreichte. So wurde beispielsweise für Schokolade mit rassistischen Darstellungen und kolonialen Bilderwelten geworben. Ein anderes Beispiel: In den 1930er-Jahren schuf das Warenhaus Globus die Werbefigur des ‹weissen Negers› aus Afrika, mit dem bei Schweizer Hausfrauen der Kauf von weisser Wäsche angepriesen wurde.»

 

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Grosse Namen mit Vergangenheit

Besonders heftige Diskussionen entzündeten sich zuletzt an einzelnen Figuren. An Alfred Escher etwa, oder am Neuenburger David de Pury. «De Pury verdiente im 18. Jahrhundert sein Geld zu grossen Teilen im Sklavenhandel. Man sprach von Neuenburg auch als ‹Liverpool der Schweiz›. Sklavenhandel ist ein kapitalintensives Geschäft: Man muss viel Geld investieren können, um noch mehr Geld machen zu können. Auf heute umgerechnet, wird De Purys Vermögen, das er grossteils der Stadt Neuchâtel vermachte, auf 600 Millionen Franken geschätzt.» Anders ist Alfred Eschers Geschichte gelagert: «Escher ist berühmt als Gründer der Crédit Suisse, als Eisenbahnpionier und als Förderer der ETH. Er ist zweifellos eine wichtige Figur der Schweizer Geschichte des 19. Jahrhunderts, aber er kam nicht als armer Mann zur Welt. Ihre erste Million – von der man ja gern sagt, es sei die schwierigste – machten seine unmittelbaren Vorfahren mit einer Kaffeeplantage auf Kuba und dort arbeiteten Sklavinnen und Sklaven.» Und Skenderovic nennt ein weiteres Beispiel. «Oder nehmen wir Henry Dunant: Der war Kolonialunternehmer, besass Mühlen in Algerien und wollte persönlich bei Napoleon III (dem Herrscher über Algerien) für seine kolonialen Projekte werben. Deshalb folgte er ihm nach Italien, wo er dann die Schrecken der Schlacht von Solferino erlebte, was ihn schliesslich zur Gründung des Roten Kreuzes motivierte.»
Die Schweiz war auf vielfältige Weise in den Kolonialismus eingebunden. Seis über Schweizer Söldner, die für Frankreich oder die Niederlande kämpften, seis durch den Handel oder die Migration. «Dabei ist es auch wichtig zu zeigen, dass es keine Einbahnstrasse war. Menschen, Wissen und Ideen reisten in die Kolonien – und sie reisten aus den Kolonien in die Schweiz zurück. In Simbabwe, dem ehemaligen Südrhodesien, bauten katholische Missionare unter anderem eine Kunstschule auf, aus der dann etwa künstlerische Konzepte in die Schweiz gelangten. Nichtsdestotrotz waren solche Austausche in asymmetrische Machtverhältnisse eingebunden, die durch Überlegenheitsvorstellungen und das Verständnis einer mission civilisatrice bestimmt waren.»

Hinschauen, nicht abrechnen

Was nun? Braucht es für die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und der Verstrickungen mit der Sklaverei eine Bergier-Kommission? Reparationen? Rückführungen von Kunst- und Kulturgütern? «In erster Linie braucht es ein Bewusstsein dafür, dass die Schweiz Teil der Welt war. Ein Anerkennen, dass sie am Kolonialismus nicht unbeteiligt war. Und das kratzt am Selbstbild der neutralen, unparteiischen Schweiz. Was den Schweizer Kolonialismus angeht, gibt es eine Bewegung, die aus der Gesellschaft kommt, es gibt aber auch Interpellationen im Parlament. Und auch der Nationalfonds unterstützt nach anfänglichem Zögern die Erforschung der Schweizer Kolonialgeschichte.» Wichtig ist Skenderovic aber vor allem, dass die Schweizer Beteiligung am Kolonialismus einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt wird. Dass sie im allgemeinen Bewusstsein ankommt und dass sie dafür auch auf konkrete, lokale Beispiele heruntergebrochen wird. «Gerade hier in Freiburg haben wir dafür gute Bedingungen. Man kann über katholische Missionare forschen, über die Auswanderung nach Nova Friburgo oder über die Schokolade.»
Skenderovic geht es nicht um eine Auf- oder gar eine Abrechnung, wer wie viele Kolonien hatte oder wieviel Geld im Sklavenhandel oder mit krummen Geschäften verdiente. Es geht ihm darum, dass Geschichte umfassender und vernetzter Gedacht wird. Nicht nur, um der Geschichte der ehemaligen Kolonien gerecht zu werden – sondern auch um der Schweizer Geschichte als globale Verflechtungsgeschichte gerecht zu werden.

 

Unser Experte Damir Skenderovic ist Professor für Zeitgeschichte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Populismus, Rechtsextremismus, politische Parteien, historische Migrationsforschung, Gegenkulturen und die 68-er Bewegung.
damir.skenderovic@unifr.ch

Café scientifique

Koloniales Freiburg – Vergangenheit und Gegenwart

Mit Damir Skenderovic, Prof. für Zeitgeschichte; Linda Ratschiller, Doktorassistentin am Dept. für Zeitgeschichte; Patrick Minder, Prof. für Geografie und Geschichte am Collège St-Michel und Dozent für Didaktik der Geografie und Geschichte für die Sekundarstufe I und II; Aurélie Yotégé, Politikwissenschaftlerin und Gemeinderätin in Villars-sur-Glâne

13. April 2022, 18 bis 19.30 Uhr
Im Nouveau Monde, Ancienne Gare, Fribourg
events.unifr.ch/cafes-scientifiques