Dossier
Natürlich (und) lokal!
Wir denken jeden Tag daran. Wir freuen uns darauf – oder wehren uns dagegen. Wir tun es sinnlich, ausgiebig, methodisch oder planlos. Und wir tun es alle: Essen. Ein Gespräch mit Psychologin Simone Munsch, Biologin Laure Weisskopf und Chemiker Stefan Salentinig zum geplanten Zentrum für Lebensmittelwissenschaften.
An der Uni Freiburg soll ein interdisziplinäres Zentrum für Lebensmittelwissenschaften entstehen. Ein weites Feld.
Stefan Salentinig: Nachhaltige Ernährung ist der Grundfokus, den wir uns gesetzt haben. Interdisziplinär und nachhaltig. Und auch die Circular Economy, das Schlagwort der Stunde, steht bei uns ganz oben auf der Liste.
Vorgesehen sind vier Cluster. Laure Weisskopf, Ihr Bereich ist die Lebensmittelproduktion.
Laure Weisskopf: Der Anfang der Geschichte… Tiere fressen Pflanzen. Pflanzen müssen angebaut werden – und schon sind wir bei der Nachhaltigkeit. Wir versuchen, den Anbau so zu gestalten, dass die Böden reich bleiben und nicht ausgelaugt werden. Wir wollen eine Produktion mit möglichst wenig Pestiziden für den Pflanzenschutz. Auch keine anderen Stoffe, Hormone oder Zusätze wie wachstumsfördernde Substanzen oder Antibiotika bei den Tieren – all das wollen wir versuchen zu ersetzen durch neue Erkenntnisse, neue Produkte, neue Strategien, damit die Nahrungsproduktion auch nachhaltig passiert. Denn dort liegt die Basis zu einer gesunden Ernährung.
Stefan Salentinig, Sie sind zuständig für den Bereich Lebensmitteltransformation.
Stefan Salentinig: Der Verdauungsprozess ist Transformation. Auch wenn etwas wächst, dann wird es transformiert vom Grundstoff, von den Nährstoffen im Boden, zu dem, was dann in der Pflanze ist und weiter zu dem, was dann die Nährstoffe sind, die wir aufnehmen. Transformationen im Bereich der Lebensmittelproduktion, also das, was wir beispielsweise als artificial meat kennen – also pflanzenbasiertes Fleisch –, sind hochtransformierte Proteine und damit am Ende nicht mehr sehr natürlich. Wir streben aber eine Transformation auf einer möglichst natürlichen Basis an. Wir wollen über nachhaltige und wenig einflussreiche Prozesse Nährstoffe extrahieren können, ohne dass wir Proteinfaltungen verändern, ohne dass man den Nährstoff selbst verändert.
Das waren zwei Bereiche aus der Produktion. Auf der anderen Seite stehen die Konsument_innen und damit auch die Erforschung des Einflusses der Ernährung auf die Gesundheit. Simone Munsch, wo wird Ihr Fokus liegen?
Simone Munsch: Mein Fokus wird einerseits unterstützend dort liegen, wo es um Konsumentenverhalten geht aus psychologischer Sicht, also consumer behavior. Was motiviert eine Person, wann welche Nahrungsmittel zu kaufen und zu sich zu nehmen? Mein persönlicher Schwerpunkt aber liegt in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie, wo es darum geht, wie Ernährungsstile und -verhalten die psychische Gesundheit beeinflussen und umgekehrt wie auch psychische Belastungen, beispielsweise Stress, die Wahl von Nahrungsmitteln beeinflussen.
Auf der Seite der Konsumierenden steht auch der Cluster Verbrauch und Marketing. Worum geht es dabei?
Stefan Salentinig: Es geht beispielsweise um Fragen zum Konsument_innenverhalten. Wie bezieht sich der oder die Konsument_in auf das Produkt? Welche Rolle spielen Label? Kann man am Verhalten der Konsumierenden etwas ändern, so dass beispielsweise nachhaltiger gekauft wird?
Über all die verschiedenen Cluster wachen die Rechtswissenschaften.
Stefan Salentinig: Ja, genau. Es geht letztlich auch um das Recht auf Nahrung. Um Gesetze, wie etwa in Ländern, wo beispielsweise Kakaobohnen angebaut werden. Wie werden dort die Mitarbeitenden behandelt, welche Rechte haben sie? Und inwiefern werden die schlechten Bedingungen in diesen Produktionsländern von der sogenannt ersten Welt ausgenutzt? Solche Situationen möchten wir anschauen und beleuchten.
Laure Weisskopf: Nachhaltigkeit geht am Anfang auf Kosten der höchsten Produktion. Je nachdem wie schonend man mit dem Boden und der Umwelt umgeht, kann es sein, dass man vorerst weniger produziert. Wer soll dafür die Kosten tragen? Wer verpflichtet wen was zu tun? Was ist der gesetzliche Rahmen dahinter?
Simone Munsch: Es gibt das Recht auf Nahrung. Aber es sollte auch ein Recht für alle auf nachhaltige Nahrung geben. Nachhaltige Ernährung ist heute noch derart teurer, dass sie einer bestimmten Gesellschaftsschicht vorbehalten ist.
Laure Weisskopf: Es hiess neulich in den Medien, dass es beispielsweise enorme Margen auf die Bioprodukte gibt. Wenn es so stimmt, dann würden, um gewisse Produktlinien sehr günstig verkaufen zu können, andere überteuert sein. Dabei ist es nicht so viel teurer nachhaltig zu produzieren. Jedenfalls nicht so viel teurer, um die enormen Preisunterschiede zwischen den Billiglinien und Bioprodukten zu rechtfertigen.
Sind wir, was wir essen?
Simone Munsch: Das greift natürlich zu kurz. Und dennoch ist etwas dran an diesem Spruch, denke ich mal, für unsere Breitengrade, wo die Aufgabe ja nicht darin besteht, Nahrung zu suchen und zu horten, sondern täglich 24 Stunden zu entscheiden, was man wann, wo und wieviel und mit wem essen möchte. Es geht um die Fähigkeit, flexible Entscheidungen zu treffen, auf Hunger, Sättigung zu achten, Impulse zu individuelleren Emotionen anders zu regulieren als überessen oder nicht essen. In diesem Sinne trägt die Art, wie wir essen, durchaus dazu bei, wer wir sind.
Laure Weisskopf: Das Essen beeinflusst extrem unsere Mikrobiota, die wiederum nach neuesten Erkenntnissen auch zum Teil mitbestimmt, wie wir uns verhalten. Wir verstehen je länger je besser, wie der Darm und das Hirn zusammenspielen und zusammenhängen. Was wir essen, das bestimmt nicht nur, was wir sind, sondern welche Mikroorganismen sich in unserem Verdauungssystem wohlfühlen, und hat deshalb wiederum einen grossen Einfluss auf die physiologische und auch die psychische Gesundheit des Menschen.
Die gesunde Darmflora: Auch dieser Bereich ist dem Marketing nicht entgangen. Produkte zur Sanierung und Gesunderhaltung unseres Mikrobioms liegen im Trend.
Laure Weisskopf: Eine gesunde Ernährung sollte reichen. Jedenfalls wenn es kein gesundheitliches Problem zu lösen gibt. Ich verstehe diesen Drang nicht, etwas verbessern zu wollen, wenn es eigentlich gar kein Problem gibt.
Simone Munsch: Eine Regel aus der Psychopathologie und allgemein der Gesundheitsförderung besagt: Wenn es anstrengend ist, ist es meistens gut. Alles was einfach ist, sollte man sein lassen. Also besser die Karotten schälen und essen als schnell eine Vitaminpille zu sich nehmen. Dieser Leitsatz gilt sowohl für die körperliche wie auch für die psychische Gesundheit.
Der Mensch befasst sich viel mehr mit der Ernährung als noch vor ein paar Generationen. Jedenfalls in unseren Breitengraden. Sind wir damit auch gesünder?
Stefan Salentinig: Insgesamt glaube ich schon. Weil die Palette an Nahrungsmitteln halt auch viel breiter ist. Wir haben das ganze Jahr über Äpfel, wir haben Bananen, alles ist immer zur Hand und entsprechend ist es einfacher, unseren Nährstoffhaushalt in Balance zu halten.
Laure Weisskopf: Ich möchte gerne ergänzen, dass uns heute zwar mehr Nahrungsmittel zur Verfügung stehen als unseren Grosseltern. Aber gleichzeitig gab es vor einigen Jahrzehnten auch weniger Pestizide. Die Tendenz mit den Pestiziden ist zwar jetzt wieder rückläufig, aber es gab diese Zeit, in der sehr viele Pestizide verwendet wurden und die sind jetzt zum Teil noch im Boden und auch im Wasser. Auch waren die Böden damals viel reichhaltiger. Es gibt Studien, die zeigen, dass dieselbe Karotte oder derselbe Apfel jetzt viel weniger Nährstoffe und Mineralien, vor allem Spurenmineralien, beinhaltet wegen diesen ärmeren Böden. Dieses Problem müssen wir jetzt anpacken – da sind wir wieder bei der Nachhaltigkeit. Simone Munsch: Es gibt heute ein wachsendes Bedürfnis einer grossen Bevölkerungsgruppe, sich mit wenig Aufwand selbst zu optimieren – beispielsweise mit Nahrungsergänzungsmitteln. Die kommen wie gerufen, lassen sich nebenbei konsumieren und versprechen eben eine Optimierung eines Zustandes. Dieser Trend lässt sich nicht mit mangelnder Information erklären. In der Schweiz ist die Ernährungspyramide bereits Programm im Kindergarten. Schulbasierte Prävention kann dabei durchaus Früchte tragen. So ist etwa die Adipositasrate unter Kindern nicht mehr weiter angestiegen – da hat sicherlich das Konzept der Bewegung in der Schule gefruchtet. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass mit dem Druck, sich gesund zu ernähren eben solche Nahrungsergänzungsmittel eingenommen werden oder vor allem junge Menschen sich mit diesen Gesundheitsidealen vergleichen und sich darüber ihre Stimmung, ihr Körperbild und ihre psychische Gesundheit verschlechtern. Wenn wir jetzt anschauen, wie viele Essstörungssymptome es neu gibt, muss ich sagen: Präventiv war vieles der Prävention nicht.
Die Macht beispielsweise von Zucker ist gross. Gerade unter Kindern und Jugendlichen.
Simone Munsch: Meiner Meinung nach spricht auch überhaupt nichts gegen Zucker. Das Dümmste, was man tun kann, ist das Verbieten davon. Der Druck in Richtung einer fett- und zuckerarmen Ernährung hat viel mehr geschadet als genützt. Ich bin ich dafür, dass wir eine durchschnittlich übergewichtige, sich gesund ernährende, nachhaltige Bevölkerung anstreben. Das wäre so viel weniger schädlich, würde so viel weniger kosten. Denn die grössten Kostenfolgen haben immer noch die depressiven Störungen und die sind sehr stark komorbide mit Essstörungssymptomen.
Laure Weisskopf: Wenn die Bevölkerung also ein normales Gewicht hätte, würden die Depressionen zurückgehen?
Simone Munsch: Natürlich nicht. Solche kausalen Zusammenhänge gibt es nicht. Aber der Fokus der Prävention liegt ja auf einem sehr schlanken Gesundheitsideal. Und ich denke, das ist für gewisse Menschen, in den Lebensumständen, in denen wir leben, schwer erreichbar vor dem Hintergrund unserer evolutionsgenetischen Prädisposition, Fett zu suchen und Fett rasch abzuspeichern. Die USA gehen jetzt in die Richtung eher zu propagieren, mobil übergewichtig zu sein. Also sich bewegen, vielleicht mit leichtem Übergewicht, aber dafür mit weniger Gedanken über Nahrung und Essen. Weniger negative Gedanken.
Stefan Salentinig: Dass das mit dem Verbieten nicht gut ist, hat man ja auch beim Fett gesehen. Dabei brauchen wir Fett. Wir müssten nur wissen welches – es gibt ja viele gute Fette: Olivenöl, poly- und ungesättigte Fettsäuren und so weiter. Das differenzieren aber die Meisten gar nicht. Die Konsequenz daraus: Die Nahrungsmittel sind zuckerhaltiger, weil Fette und Öle als Geschmacksträger reduziert wurden.
Ein weiteres grosses Thema sind die Alternativprodukte für Vegetarier_innen und Veganer_innen: Also Alternativen für Fisch, Fleisch, Milch, Käse und so. Wenn man weiss, was da drin ist, wie das produziert und transformiert wird – hat man da noch Lust, das zu konsumieren?
Stefan Salentinig: Da sind wir bei maximalen Transformationen. Aber die Leute kaufen das. Und es ist ja nicht schlecht, so was mal zu probieren. Die Frage ist: Wie wirkt sich der Verzehr von solchen Produkten langfristig auf den Körper aus. Aber das ist jetzt halt grad ein Hype, der gut funktioniert. Ich glaube aber nicht, dass dieser Trend anhält, weil die Produktionskosten sehr hoch sind.
Befinden sich in diesen transformierten Lebensmitteln noch gesunde Bestandteile?
Laure Weisskopf: Irgendein Stoff wird schon drin sein, aber halt um ein Vielfaches verdünnt. Mit viel Fett, sehr viel Salz und Zucker.
Stefan Salentinig: Es sind sehr stark veränderte Lebensmittel, extrem prozessierte Proteine, gerade beim künstlichen Fleisch etwa. Und da müssen dann Fette dazu, sonst funktioniert das Ganze mit dem Geschmack nicht. Hinzu kommen Stoffe, die das Ganze verbinden, andere, die für die Konsistenz sorgen und so weiter.
Laure Weisskopf: Also in Bezug auf die Umwelt ist das wahrscheinlich nicht besser als Tiere zu essen. Ich esse zur Zeit auch kein Fleisch, aber anstelle von Fleisch esse ich halt Käse. Und nicht etwas, das wie Fleisch aussieht. Wieso soll ich eine Wurst ohne Fleisch essen?
Stefan Salentinig: Aus Sicht der Materialwissenschaften finde ich das sehr interessant (lacht). Für die Forschung wirft es spannende Fragen auf, es gibt viele Projekte dazu. Also nicht nur auf künstliches Fleisch bezogen, sondern generell, was passiert mit den Proteinen? Wie interagieren die Stoffe, wie macht man die Konsistenzen? Und dann natürlich auch auf den Körper bezogen: Was macht es im Verdauungstrakt, wie wird es abgebaut?
Ich habe Wikipedia gefragt, was Tempeh ist. Antwort: «Tempeh ist ein Fermentationsprodukt aus Indonesien, das durch die Beimpfung gekochter Sojabohnen mit verschiedenen Rhizopus-Arten, also mit Hilfe niederer Schimmelpilze aus der Abteilung der Jochpilze und der Klasse der Zygomyceten entsteht.»
Laure Weisskopf: Das ist genau richtig.
Will ich das essen?
Laure Weisskopf: Ja, das ist kein Problem, es ist sogar gesund. Sie könnten auch Sauerkraut ähnlich beschreiben. Alle fermentierten Produkte sind interessant. Es sind auf natürliche Weise transformierte Produkte. Und sie halten länger – ohne E-Zusatzstoffe.
Wir haben über Fleischalternativen gesprochen – aber was ist denn mit dem Laborfleisch?
Stefan Salentinig: Da sind viel zu viele ethische Fragen offen. Weil Laborfleisch aus Zellkulturen gezüchtet wird. Im Gegensatz zu den Alternativprodukten, die aus Pflanzenproteinen bestehen, die wir fibrillieren und ein neues Material daraus machen, das wir dann Fleisch nennen. Und das dann auch aussieht wie Fleisch – obwohl absolut nichts Tierisches daran ist.
Laure Weisskopf: Laborfleisch wird sicherlich kein Fokus unseres Zentrums sein.
Die Fleisch-Alternativen aber werden Sie im Zentrum schon interessieren?
Stefan Salentinig: Ja. Wir werden Grundlagenforschung dazu betreiben. Und wenn wir neue spannende Erkenntnisse daraus gewinnen, werden wir die gerne teilen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir Leute ausbilden für die Industrie, die dann mit dem Produkt weitermachen. Oder dass bei Interesse aus einer Idee, aus einem Produkt, eine Firma entwickelt werden kann.
Wir haben jetzt viel über die Forschung gesprochen – was ist in Bezug auf die Lehre geplant?
Stefan Salentinig: Geplant sind aktuell CAS im Lebensmittelbereich – etwa ein CAS in the Art and Science of Chocolate. Auch ein PhD-Programm ist vorgesehen, das ist dann der nächste Schritt. Im Bachelor oder Master werden wir sicher vorerst nur einzelne Vorlesungen oder Module anbieten, als Teil eines anderen Bachelors oder Masters.
Stefan Salentinig: In den Materialwissenschaften hat sich schon viel getan über die letzten Jahre. Wir haben ein viel grösseres und besseres Verständnis heute für die Zusammensetzung von Nahrung, Food Design, Functional Food.
Laure Weisskopf: Trotzdem verändert sich im Bereich der Ernährung weniger als im Technologie-Bereich etwa. Es werden keine neuen Bedürfnisse geschaffen. Die Nahrung verändert sich, entwickelt sich – aber das Bedürfnis zu essen ist so alt wie die Menschheit. Das kann man beim Computer oder bei einem Telefon nicht sagen. Wer hätte gedacht, dass wir jemals ein Telefon brauchen, das uns sagt, wie es uns geht.
Stefan Salentinig: Wir sind auch noch weit entfernt davon, ein strukturell so komplexes Nahrungsmittel wie beispielsweise Milch materialwissenschaftlich nachzubauen. Jede künstliche Milch als Alternative ist meilenweit von richtiger Milch entfernt.
Das Zentrum will auch Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Was bedeutet das?
Simone Munsch: Informationsvermittlung ist sicher eine der wichtigen Präventionsstrategien. Schon nur im Laufe dieses Gesprächs habe ich neue Erkenntnisse gewonnen. Es wäre schön, wenn das nicht nur im Rahmen der Universität geschieht, sondern auch im öffentlichen Raum. Prävention wird auch ein Thema sein und ich möchte dabei einen ganz pragmatischen Ansatz verfolgen: Was ist denn eine vernünftige, möglichst nachhaltige Umgangsweise mit Nahrung? Es wäre gerade für psychische Störungen sehr gut, von dieser Individualität in Bezug auf das Essen etwas wegzukommen. Sobald Nahrung und Essen zu wiederkehrenden persönlichen Entscheidungen werden, ist eine relativ grosse Gruppe der Bevölkerung immer vulnerabel.
Wie meinen Sie das?
Simone Munsch: Essen wird immer mehr zu einer persönlichen Entscheidung. Der Mensch aber ist evolutionsbiologisch darauf trainiert, möglichst energiehaltige Nahrung zu suchen und zu sich zu nehmen. Wir sind nicht dafür gemacht, alles zu hinterfragen. Soll ich Fleisch essen oder besser nicht? Ist Fleischersatz ungesund? Oder vielleicht besser Insekten? Wofür steht E 175? Wenn zu dieser ständigen Herausforderung andere Stressfaktoren hinzukommen, steigt das Risiko für Essstörungen.
Es erscheint mir sehr schwierig, sich keine Gedanken zum Essen zu machen angesichts der Informationsflut, mit der wir uns konfrontiert sehen.
Simone Munsch: Es ist schwierig, ja. Aber es gehört heute auch zum guten Ton, sich Gedanken darüber zu machen. Es gehört zum guten Erziehungsmodell, sich mit seinen Kindern zusammen Gedanken darüber zu machen. Wieviel Zucker dürfen die Kinder konsumieren? Haben sie genug Gemüse gegessen? Es wäre viel gesünder, wenn die Kinder weniger Zeit mit Gedanken zur Ernährung verbringen könnten.
Laure Weisskopf: Wenn wir zu viel darüber nachdenken, was wir wann und in welcher Menge essen sollten, entfernen wir uns auch von unserem natürlichen Gefühl dafür, was uns eigentlich guttut. Wann wir Hunger haben und wann wir satt sind.
Simone Munsch: Absolut richtig. Es hört sich nicht sehr wissenschaftlich an, ist aber die beste Evidenz, die wir zurzeit haben.
Welche Essstörung wird in 50 Jahren vorherrschen?
Simone Munsch: Die Orthorexia nervosa, also das zwanghafte Bedürfnis, sich gesund zu ernähren. Aktuell wird diskutiert, diese Essstörung in die internationalen Diagnosemanuale der psychischen Störungen neu aufzunehmen. Weil sie eine immer grösser werdende Gruppe an Personen betrifft, die zwar keine Gewichtsprobleme haben, sich aber täglich zwanghaft mit ihrer Ernährung beschäftigen. Die Folgen sind psychische Belastungen, ähnlich wie eine Zwangsstörung.
Wie lautet Ihre Devise in Sachen Ernährung?
Laure Weisskopf: Lokal und natürlich.
Stefan Salentinig: Von allem etwas.
Simone Munsch: Nach Lust und Laune.
Unsere Expertin Laure Weisskopf ist Professorin für Mikrobiologie am Departement für Biologie.
laure.weisskopf@unifr.ch
Unsere Expertin Simone Munsch ist Professorin für Klinische Psychologie am Department für Psychologie.
simone.munsch@unifr.ch
Unser Experte Stefan Salentinig ist Professor für Physikalische Chemie am Departement für Chemie.
stefan.salentinig@unifr.ch