Forschung & Lehre

Das Verschwinden der kalten Zeitzeugen

In den letzten beiden Jahren haben die Gletscher in der Schweiz so viel Eis verloren wie zwischen 1960 und 1990. Sogar auf einer Höhe von fast 4500 Metern über Meer schmilzt das einst ewige Eis. Der Wissenschaft kommen dadurch jahrtausendalte Klimaarchive abhanden.

Seit bald 20 Jahren kraxelt Matthias Huss in den Schweizer Alpen herum, um mit seinen Kolleginnen und Kollegen die in den Gletschern enthaltenen Eismassen zu vermessen. Bei ihren Arbeiten im Feld lesen Huss und sein Team jeweils an den in die Gletscher gebohrten Messstangen ab, wie sich die Eisdicke verändert hat. Daraus bestimmen sie, wie viel Eis seit der letzten Messung verschwunden und als Schmelzwasser ins Tal hinuntergerauscht ist.

Tausende kleine Gletschern vor dem Aus

Mit ihren Daten führen die Glaziologen die wertvollen und zum Teil über hundertjährigen Messreihen des Schweizer Gletschermessnetzes Glamos fort. «In den 1960er und 1970er Jahren war die Massenbilanz noch mehr oder weniger stabil», sagt Huss, der Glamos leitet und an der Universität Freiburg wie auch an der ETH Zürich forscht und unterrichtet. «Doch seit den 1980er Jahren macht sich der menschgemachte Klimawandel immer stärker bemerkbar.» Je nachdem, wie viel Schnee im Winter fällt und wie lange er auf den Gletschern liegenbleibt, schwankt der Verlust des Eisvolumens von Jahr zu Jahr. Seine Vorgänger hätten noch bis zur Jahrtausendwende manchmal auch ausgeglichene Bilanzen in die Messreihen eintragen können, in Jahren, in denen sich die Schmelze mit der Bildung von neuem Eis die Waage hielten. «Doch ich selbst habe das noch nie gesehen, da die Sommer-Schmelze massiv zugenommen hat», sagt Huss.

Von den Versuchen, die Gletscher durch Abdeckungen zu retten, hält Huss nicht viel. Zwar hätten Untersuchungen gezeigt, dass sich damit lokal etwa die Hälfte der Schmelze einsparen liesse. Und einige Skigebiete hätten mit solchen Massnahmen gute Erfahrungen gemacht, vor allem, um ihre Infrastruktur länger aufrechterhalten zu können. Doch die Tücher seien aus einem synthetischen Material gefertigt, das sich mit der Zeit zu Mikroplastik zersetze. Und um schweizweit alle Gletscher komplett abzudecken, müsste man jedes Jahr fast zwei Milliarden Franken investieren. «Das ist sinnlos», sagt Huss. «Wenn wir die Gletscher retten wollen, müssen wir das Klima stabilisieren.»

Für die kleinen Gletscher sei allerdings der Zug jetzt schon abgefahren, denn sie reagierten verzögert auf die erhöhten Temperaturen. Selbst wenn es gelänge, den Anstieg ab sofort zu stoppen und die Temperaturen auf dem heutigen Niveau zu halten, würden Tausende von Gletschern in den nächsten Jahrzehnten komplett abschmelzen. Vor einigen Jahren hat Huss zum Beispiel am medienwirksamen Begräbnis des Pizolgletschers teilgenommen. Jetzt liege dort noch ein Eisblock, der vielleicht 20 Meter breit und lang sei. «Beim letzten Besuch habe ich davon ein kleines Stück abgepickelt, das seither bei mir im Tiefkühler liegt», sagt Huss.

Rasante Beschleunigung

Daran, dass die Eismassen zusehends kleiner werden, hat er sich gewöhnt. Aber in den letzten beiden Jahren hat sich der Gletscherschwund in der Schweiz rasant verstärkt. In nur zwei Jahren sind zehn Prozent des gesamten Eisvolumens verschwunden, so viel wie zwischen 1960 und 1990. Diese Be­schleunigung des Gletscherschwunds kommt überraschend. Denn bei einer moderaten Klimaerwärmung erwarte man eigentlich einen umgekehrten Verlauf: «Gletscher versuchen, sich an steigende Temperaturen anzupassen, indem sie sich auf höhere Lagen zurückziehen, wo es kälter ist», erklärt Huss. Deshalb sollten die Gletscher eigentlich immer langsamer schmelzen. Doch offenbar kann ihr Rückzug nicht mit der Geschwindigkeit der Erderwärmung mithalten. Zudem setzten die beiden aussergewöhnlich schneearmen Winter und die beiden weit überdurchschnittlich warmen Sommer – mit rekordhohen Nullgradgrenzen bis in den September – dem einst ewigen Eis auch auf weit über 3000 Metern über Meer sehr stark zu.

Allerdings gibt Huss auch zu bedenken, dass die Rekordschmelze im Jahr 2022 für die Energieversorgung in der Schweiz ein Glücksfall war. Genau zum Zeitpunkt, als ganz Europa wegen des Kriegs in der Ukraine und dem Wegfallen der Erdgaslieferungen aus Russland in eine Energiekrise zu schlittern drohte, hat die grosse Menge an Schmelzwasser dafür gesorgt, dass sich die Stauseen der Elektrizitätswerke auffüllten. Doch Huss denkt, dass wir in diesen Jahren einen Kipppunkt erreicht haben. «Auch wenn die Gletscher weiterhin rasch an Masse verlieren, wird die Schmelzwassermenge abnehmen, weil das noch vorhandene Eisvolumen immer kleiner wird», sagt Huss. «Bei einer ähnlichen Energiemangellage hätten wir in 30 Jahren deshalb deutlich mehr Probleme.»

© Matthias Huss
Widersprüchliche Gefühle

Die dramatische Entwicklung der letzten beiden Jahre weckt in Huss widersprüchliche Gefühle: «Als Wissenschaftler finde ich diese Extreme spannend und faszinierend. Gleichzeitig macht es mich persönlich traurig, wenn wir Messreihen aufgeben müssen.» Einige kleinere Gletscher wie etwa der St. Annafirn in den Urner Alpen hätten schon so viel Eis verloren, dass weitere Messungen einfach keinen Sinn mehr ergäben, meint Huss. Zudem würden sie immer gefährlicher. Denn wenn das Eis wegschmilzt, verlieren die Gesteinsmassen in den steilen Bergflanken ihre Stütze – und das Steinschlagrisiko steigt.

«Wenn man während vielen Jahren immer wieder an den gleichen Ort zurückgekehrt ist, und dann nach der letzten Messung seine Sachen zusammenpackt, tut es weh», erzählt er. Irgendwie scheinen wir Menschen den Gletschern eine Art Beseeltheit zuzusprechen, was sich auch an Begriffen wie «Toteis» erkennen lässt. «So bezeichnen wir Glaziologen die Überbleibsel, die nur noch vor sich hinschmelzen. Und die nicht mehr mit dem aktiven Gletscher verbunden sind», führt Huss aus. «Im Gegensatz dazu steckt in einem Gletscher per Definition eine Dynamik drin: Er bewegt sich. Und er erneuert sich, wenn sich der Schnee über die Jahre in festes Eis verwandelt.»

Einzigartiger Standort

Genau diese Erneuerung untersucht Enrico Mattea auf dem Colle Gnifetti. Diesem auf 4450 Metern über Meer gelegenen, flachen und breiten Schneesattel im Monte-Rosa-Massiv an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien entspringt der Grenzgletscher, der weiter unten in den riesigen Gornergletscher mündet. Weil es in dieser luftigen Höhe oft stark windet, setzen sich jährlich nur rund 30 Zentimeter Schnee an. Zudem kriecht hier der oberste Teil des Gletschers wegen des flach abfallenden Untergrunds nur sehr langsam nach unten. Schicht für Schicht hat sich das Eis dadurch über Tausende von Jahren auf eine Dicke von 100 Metern aufgetürmt. «Zuunterst ist das Eis rund 10 000 Jahre alt», sagt Mattea, der sich zuerst als Masterstudent und nun als Doktorand schon seit fünf Jahren mit dem Gletschergeschehen auf diesem einzigartigen Standort befasst.

In diesem Zeitraum ist er acht Mal per Helikopter hochgeflogen. Das ist so spektakulär, wie es tönt, weil die Hubschrauber in der dünnen Luft auf solchen Höhen an ihr Limit stossen. Oft muss der Pilot gleich zweimal fliegen, um zuerst den Bergführer mit Mattea und einem weiteren Glaziologen abzuladen und danach die Instrumente zu transportieren, die zusammen oft über 150 Kilogramm auf die Waage bringen. Mattea hat sogar schon einen Absturz miterlebt, als ein Helikopter beim Versuch, auf dem harten Schnee zu landen, plötzlich abgesackt ist. «Wir sind zum Glück nur mit einigen blauen Flecken davongekommen», sagt Mattea.

Ende einer jahrtausendealten Ära

Die Instrumente dienen Mattea dazu, das Temperaturprofil im Eis zu messen. Während die Temperatur des Gletschers zehn Meter unter der Oberfläche noch bis zur Jahrtausendwende -14 Grad Celsius betrug, ist sie seither auf -12 Grad Celsius geklettert. «Das sieht zwar nach einem kleinen, unbedeutenden Unterschied aus», sagt Mattea. «Doch das Eis erwärmt sich schneller als das globale Klima.» Diese Erwärmung ist ein Problem, weil heute deutlich mehr Schnee an der Oberfläche schmilzt und als Wasser in die Tiefe sickert, wo es schliesslich wieder zu Eis gefriert – und dadurch den Gletscher überproportional erwärmt. Im nassen Eis vermischen sich die feinen jährlichen Schichten des Gletschers. Dadurch verlieren die Gletscher ihre Funktion als Klimaarchiv.

«Natürlich sind die Temperaturveränderungen der Gletscher auf über 4000 Metern über Meer weniger dramatisch als ihr Verschwinden weiter unten», sagt Mattea. «Trotzdem ist das ein monumentaler Umbruch, den wir hier oben sehen. Er bedeutet das Ende einer jahrtausendealten Ära, während der sich das Eis weitgehend ungestört ansammeln konnte.» Noch vor wenigen Jahren habe die Wissenschaft Eisbohrkerne aus den Gletschern in den Alpen extrahieren können, um in den feinen Unterschieden zwischen den Schichten etwa abzulesen, wie sich das Römische Reich vor über 2000 Jahren entwickelt hat.

In Zeiten des Friedens und Wohlstands gewannen die alten Römer mehr Silber als in Zeiten, die von Krankheiten und Kriegen geprägt waren. Beim Herstellen der Silbermünzen – der so genannten Denaren – entwich immer auch Blei in die Luft. Ein kleiner Teil davon setzte sich im Schnee auf den Alpen ab. In den Eisbohrkernen gab dieser Hauch von Blei Tausende Jahre später über längst vergangene Epochen genauestens Auskunft. Doch nun drohen solche im Eis enthaltenen Spuren verloren zu gehen. «Bald sind sie für immer vom Schmelzwasser verwischt», sagt Mattea.

Unsere Experten Matthias Huss und Enrico Mattea forschen beide am Departement für Geowissenschaften der Uni­versität Freiburg.
    matthias.huss@unifr.ch
    enrico.mattea@unifr.ch