Dossier

Deutsch und deutlich

Die deutsche Sprache scheint sich auf dem globalen Sprachenmarkt behaupten zu können – trotz der Vormachtstellung des Englischen in Wissenschaft, Wirtschaft und Diplomatie und trotz des Reputationsschadens durch Hitlerdeutschland.

Vor ein paar Jahren bemerkte der englische Komiker John Cleese in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: «Viele Engländer, die wie ich ihre Jugend damit verbrachten, im Kino zu sehen, wie sich Engländer aus deutschen Kriegsgefangenenlagern befreien, denken, Deutsch sei eine Sprache, die gebellt wird.» Es sollte lange dauern, bis Deutsch wieder mit geistigem Reichtum und Völkerverständigung assoziiert und positiv bewertet wurde.

Die deutsche Sprache wird von rund 130 Millionen Menschen als Erst- oder Zweitsprache gesprochen. Damit ist Deutsch die meistgesprochene Sprache in der Europäischen Union. In sieben Ländern wird sie als Amtssprache verwendet: Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien (Südtirol), Luxemburg, Liechtenstein und Belgien (Ostbelgien). Überdies gibt es weltweit rund siebeneinhalb Millionen deutschsprachige Menschen, die in 42 Ländern leben. Nach grosszügiger Schätzung gibt es 289 Millionen Menschen, die Deutsch als Fremdsprache lernen bzw. früher einmal gelernt haben. Blickt man auf die Rangliste der meistgesprochenen Sprachen der Welt, nimmt Deutsch den 12. Platz ein. Zum Vergleich: Französisch ist auf Rang 5, Italienisch auf Rang 20 und Englisch, natürlich, auf Rang 1.

Deutsch gilt als präzise und ausdrucksstark. Es verfüge, dank der literarischen Tradition und der langewährenden wissenschaftlichen Vorrangstellung, über einen besonders reichhaltigen Wortschatz und sei aufgrund seiner komplexen Struktur prädestiniert für den philosophischen Diskurs. Auch wenn solche Einschätzungen linguistischer Laien sprachvergleichenden Analysen nicht wirklich standhalten – schon nur die Wortschätze aller Sprachen dieser Welt sind offene Systeme und eigentlich nicht quantifizierbar –, und auch wenn das Sprachsystem genannt wird, wo eigentlich der Sprachgebrauch gemeint ist, ist es dennoch aufschlussreich, jene Merkmale der deutschen Sprache näher zu betrachten, die aus der Aussensicht offenbar besonders auffallen.

Einzigartig und unübersetzbar?

Fingerspitzengefühl, Schadenfreude, Weltschmerz – dies sind Wörter, die in den zahlreichen, im Internet wiederholt  kursierenden Listen deutscher Wörter figurieren, die angeblich unübersetzbar sind: Gemütlichkeit, Fernweh, verschlimmbessern, Zweckentfremdung, Innenleben, fremdschämen, Lebenskünstler, Torschlusspanik, Geborgenheit, Wanderlust und viele andere mehr. Sie sollen zeigen, wie eigenwillig, originell, vielleicht auch ausgefallen die deutsche Sprache ist, und damit auch ihre Sprecherinnen und Sprecher, denen, so die Vermutung, zum Beispiel das Gefühl der Schadenfreude näherliege als Anderssprachigen. Tatsächlich verdeutlichen die Wörter in diesen Listen komplexe Sachverhalte. Die französische Übersetzung von Schadenfreude, la joie maligne, scheint die Bedeutung des deutschen Wortes nur teilweise zu treffen. Es fehlt die Bedeutungskomponente des Heimlichen, Verstohlenen, vielleicht auch Schambehafteten. Die englische Übersetzung von Weltschmerz, the sadness or melancholy at the evils of the world, ist so umständlich, dass Weltschmerz als Germanismus auch im Englischen Eingang gefunden hat. Die frühesten Belege für Weltschmerz findet man bei Jean Paul. Das Wort wurde gemäss Jacob und Wilhelm Grimm «vom Jungen Deutschland und den ihm nahe stehenden autoren als modewort und literarisches schlagwort aufgegriffen und verbreitet» (Kleinschreibung im Original). Kurz und bündig ist die italienische Übersetzung des erst seit den 1930er Jahren belegbaren Wortes Fingerspitzengefühlla sensibilità. Dies erfasst aber nur einen Teil des Konzeptes, das durch das deutsche Wort ausgedrückt wird und dort auch Einfühlungsgabe und Taktgefühl mitmeint.

Es ist nicht abzustreiten, dass in Sprachkulturen, die für einen komplizierten Sachverhalt ein einziges Wort aufweisen, das Bedürfnis entstand, genau dieses Konzept möglichst ökonomisch und griffig auszudrücken. Wie solche Wörter entstanden und auf welchen Wegen ihr Gebrauch sich verbreitete, ist jedoch in vielen Fällen nicht eindeutig zu klären. Nicht alle dieser angeblich singulär deutschen Wörter kann man, wie im Falle von Weltschmerz, im Umkreis eines bestimmten Autors ansiedeln. Zudem kann man nicht ausschliessen, dass es in irgendeiner anderen Sprache der Welt ebenfalls ein Wort mit der Bedeutung von Gemütlichkeit, Wanderlust oder auch Lebenskünstler gibt.

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Anders verpackte Informationen

Warum sind Germanismen so schwierig übersetzbar? Zunächst ist jede Übersetzung eines Ausdrucks von einer Sprache in eine andere bloss eine Annäherung mit möglichst grosser Äquivalenz auf verschiedenen Ebenen, etwa der Ebene der Kernbedeutung, der Ebene der Mitbedeutung oder Konnotation – das Wort Köter hat zum Beispiel im Vergleich zu Hund eine negative Konnotation – oder der formal-ästhetischen Bedeutung. Was nun bei den als singulär deutsch betrachteten Wörtern auffällt: In vielen Fällen handelt es sich um Komposita. Ein deutsches Kompositum wie zum Beispiel Torschlusspanik ins Französische zu übersetzen, ist schon nur aus morphologischen Gründen, also aus Gründen der sprachspezifischen Wortbildungsmöglichkeiten, nicht Element für Element möglich. Das Wort hat im Deutschen eine so genannt synthetische Struktur und muss in eine so genannt analytische Struktur überführt werden, da Deutsch aus typologischer Sicht eher synthetisch, das Französische aber aus typologischer Sicht eher analytisch ist. Das bedeutet, dass die Information jeweils auf mehrere, syntaktisch aufeinander bezogene Einzelwörter verteilt werden muss. Die französische Übersetzung von Torschlusspanik, die das PONS-Wörterbuch vorschlägt, ist aus meiner Sicht äusserst gelungen: peur de laisser passer un moment décisif. Nicht die singulären deutschen Wörter werden also gefeiert, wenn man Konstruktionen wie Bierseligkeit, Minderwertigkeitskomplex, Immobilienberatungsunternehmen oder Darmkrebsfrüherkennungsuntersuchung bewundert (oder fürchtet), sondern eigentlich die deutsche Morphologie, die Möglichkeit der deutschen Wortbildung.

Aber auch hier ist einzuwenden: Andere germanische Sprachen kennen ebenfalls geschlossene Komposita. Norwegisch kennt das Wort utepils für das Bier, das man an sonnigen und warmen Tagen draussen trinkt. Viele Komposita gibt es auch im Englischen. Dort aber fallen sie deshalb weniger auf, weil zu den geschlossenen Komposita (handshake, newspaper) auch offene Komposita kommen, bei denen die lexikalischen Bestandteile getrennt geschrieben werden (school bus, economy class). Dazu kommen, wenn auch seltener, Bindestrichkomposita (well-being, editor-in-chief).

Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz

Als spezifisch deutsch gelten lassen muss man allerdings wohl die Mehrfachkomposita von Substantiven, die aus  drei, vier, fünf oder sogar noch mehr Gliedern bestehen. Diese sind in bestimmten Fachsprachen und typischerweise auch in der deutschen Verwaltungssprache anzutreffen: Arbeiterunfallversicherungsgesetz, Finanzdienstleistungsun­ternehmen, Veranstaltungsinformationsdienst. Das Verstehen solcher Komposita ist anspruchsvoll, weil sie zwar von links nach rechts gelesen werden, aber vom Grundwort her, das am Ende steht, entschlüsselt und bei jedem Schritt in zwei sinnvolle Einheiten segmentiert werden müssen: Dienst, Informations-dienst, Veranstaltungs-informationsdienst.

Solche Mehrfachkomposita, wie z.B. das Wort Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, sind jedoch nicht nur aus Sicht Anderssprachiger, sondern auch aus Deutschschweizer Sicht ungewöhnlich. Im Schweizerhochdeutschen werden solche überschiessenden Mehrfachkomposita gerade in der Verwaltungssprache dadurch verhindert, dass sie jeweils in die anderen Landessprachen übersetzt werden müssen. Was also im Bundesland Thüringen Dritte Thüringer SARS-CoV-2 Sondereindämmungsmassnahmenverordnung genannt wurde, hiess im Kanton Freiburg Verordnung über kantonale Massnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus. Während das Wort Sondereindämmungsmassnahmenverordnung vom Grundwort Verordnung her verstanden werden muss (Verordnung, Massnahmen-verordnung usw.), wird die Schweizer Variante linear in der Leserichtung entschlüsselt. Das als typisch deutsch erachtete, synthetische Kompositum hat im Schweizerhochdeutschen also eine analytische Entsprechung.

Sprachwissenschaftlich ausgedrückt: Der Kern der Nominalphrase wird linear mit Präpositionalphrasen erweitert. Der Schritt zur französischen Übersetzung ist dadurch nicht mehr gross: Ordonnance relative aux mesures cantonales pour freiner la propagation du coronavirus. Es ist also gut möglich, dass das Schweizerhochdeutsche durch den engen Sprachkontakt mit dem Französischen und Italienischen analytischer geworden ist. Das Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz aus Mecklenburg-Vorpommern (!) wurde übrigens 2013 ausser Kraft gesetzt.

Unsere Expertin Regula Schmidlin ist Professorin für Germanistische Linguistik am Departement für Germanistik. Sie hat zur Variation der deutschen Standardsprache geforscht. Aktuell leitet sie ein Forschungsprojekt zum Erwerb von Textkompetenz auf Sekundarstufe II. Sie war zudem an verschiedenen Wörterbuchprojekten beteiligt.
regula.schmidlin@unifr.ch