Dossier

Deutschland unter Druck

Der Russisch-Ukrainische Krieg sowie der Krieg in Israel und Gaza stellen die Bundesrepublik vor grosse Herausforderungen.

Lange gingen die Wissenschaft und die öffentliche Meinung davon aus, dass moderne Kriege von Warlords und Kindersoldaten in fernen Kontinenten um Rohstoffe und wegen ethnischer Konflikte geführt werden. Man nannte das low intensity conflicts von langer Dauer. Nun ist der Krieg zurück in Europa, es wird gar mit Atomwaffeneinsatz gedroht und historische Referenzen aus dem 20. Jahrhundert werden wieder aufgerufen. Traurige Zeuginnen davon sind die über eine Million ukrainische Frauen und Kinder, die als Kriegsflüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen sind.

Unheimliches Déjà-vu

Bundeskanzler Olaf Scholz prägte drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine den Begriff «Zeitenwende». Er bezog sich darauf, dass ein neues Kapitel in der Geschichte militärischer Auseinandersetzungen aufgeschlagen wurde: Staaten führen wieder Kriege gegen andere Staaten. Bündnisse und Allianzen treten wieder in den Vordergrund. Die Ukraine wird von den westlichen Staaten und der NATO unterstützt, die nicht an Bedeutung verloren, sondern mit Schweden und Finnland neue Mitglieder gewonnen hat. Gleichzeitig ist die russische Bedrohung nicht nur in Polen und den baltischen Staaten spürbar, sondern auch in der Bundesrepublik. In Warschau und im Baltikum fordert man daher mehr deutsche Führungsstärke, auch militärisch.

Sicherheitspolitik im Sinne von Truppenstärken, Waffen­gattungen, Präzisionsmunition, Offensiven und Defensiven ist auf die Tagesordnung der Bundespolitik zurückgekehrt. Alle europäischen Staaten verstärken ihre Armeen. Das gilt auch für die Bundesrepublik, die 2024 das erste Mal seit dem Kalten Krieg zwei Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Verteidigungszwecke ausgeben hat. Dieses Umdenken ist vor dem Hintergrund der jüngsten deutschen Geschichte auffällig: Deutsche militärische Aggression hatte Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal mit Krieg überzogen. Damit das nie wieder geschehen konnte, wurde die Bundesrepublik zum festen Bestandteil des westlichen Verteidigungsbündnisses. Sie war eine Handelsmacht, sogar die drittgrösste Industrienation, militärisch aber war sie schwach und nicht interventionsbereit. Für den Auslandseinsatz der Bundeswehr gelten hohe Hürden. Das Umdenken setzte 2022 ein und betraf nicht nur Waffen, sondern sogar die Wehrpflicht. Es mehren sich Stimmen, die ein Pflichtjahr für alle Männer und Frauen im sozialen, karitativen und kulturellen Bereich oder bei der Bundeswehr fordern. Man verspricht sich davon, dass die Bundeswehr damit jährlich diejenigen 25’000 Mann erhält, die sie für den laufenden Betrieb benötigt. Erst 2011 war die Wehrpflicht ausgesetzt worden. Die einen beklagen das als «Remilitarisierung der Aussenpolitik», die anderen sehen darin eine nötige Antwort auf die russische Aggression zur Selbstverteidigung.

Wandel durch Handel

Auch in andere Bereiche griff der Krieg in der Ukraine tief und nachhaltig ein. Besonders betroffen waren die Energiepolitik und die russischen Erdgaslieferungen. Seit dem Ölpreisschock 1973 hatte die Bundesrepublik auf russisches Öl und Gas gesetzt und in mehreren Verträgen günstige Bedingungen ausgehandelt. CDU- wie auch SPD-­geführte Regierungen sahen darin nicht nur die Möglichkeit, vom Öl aus dem nahöstlichen Krisengebiet unabhängiger zu werden. Sie verbanden damit auch Vorstellungen von Entspannung und einer Annäherung an Russland. «Wandel durch Handel» lautete das Schlagwort. Besonders tat sich hier der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998–2005) hervor. Er unterstützte Putin, wo immer es ihm möglich war. Statt von der «gelenkten Demokratie» in Russland zu sprechen, verteidigte er Putin noch 2012 als einen «lupenreinen Demokraten». Öffentlich sichtbaren Ausdruck fand das deutsch-russische Verhältnis im Projekt North Stream 2, das russisches Gas an Polen und den baltischen Staaten vorbei durch die Ostsee nach Deutschland bringen sollte und das Bundeskanzler Olaf Scholz noch kurz vor dem 24. Februar 2022 als rein wirtschaftliches Projekt verteidigte. Russisches Öl und Gas dienten nicht nur der Energieversorgung der westdeutschen Wirtschaft, sondern auch der Einbindung Russlands in die internationale Politik. Entsprechend waren sich alle Experten sicher, dass Wladimir Putin keinen offenen Krieg gegen die Ukraine beginnen würde, was ihm ökonomisch schaden und in die Isolation treiben würde.

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Aus der Traum

Doch genau das tat Putin am 24. Februar 2022. Die deutsche Politik erwachte jäh aus dem Traum deutsch-russischer Zusammenarbeit der Schröder-, aber auch der Merkel-Jahre. Billiges russisches Gas drohte die deutsche Politik erpressbar zu machen. In der Energiepolitik steuerte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) massiv um. Die politische Bedeutung von Nord Stream 2, wodurch sich die Bundesrepublik erpressbar machte, lag jetzt offen zu Tage. Das Projekt wurde beendet. Flüssiggasterminals machten Gaslieferungen aus anderen Ländern möglich. Im Winter 2022/2023 war Energiesparen angesagt. Die gesamte energiebezogene Infrastruktur der deutschen Wirtschaft stand auf einmal auf dem Prüfstand, was der grünen Klimapolitik entgegenkam. Langfristig orientiert war das Heizungsgesetz vom Sommer 2023, das lange für grossen Wirbel sorgte. Es begünstigt neue und energiesparende Heizungen und greift tief in den Alltag der Deutschen ein. Die hohen Energiepreise trieben die Inflation in die Höhe, was wiederum Forderungen nach höheren Löhnen bei den Gewerkschaften begründete. Die Lebenshaltungskosten der Deutschen stiegen massiv an, zumal bei Energie und Heizung. Auch in der Wirtschaftspolitik zeigte der Ukraine-Krieg Nachwirkungen. Nie mehr sollte die Bundesrepublik von einem Handelspartner wie Russland so abhängig werden. Die Konsequenz lautete: Diversifizierung der Handelsbeziehungen. Das betraf besonders die in den Merkel-Jahren gepflegte enge Beziehung zu China, die jetzt im neuen Licht erschien.

Gaza scheidet die Geister

Seit dem 7. Oktober 2023 sieht sich die Bundesrepublik mit einem weiteren eskalierten Krisenherd konfrontiert: dem Krieg in Israel und in Gaza. Der Terrorüberfall der Hamas auf Israel und die anschliessende Bodenoffensive der israelischen Armee erregten über die Massen die Gemüter. Er rief die deutsche Verantwortung für den Mord an den  europäischen Juden, den Holocaust, und die darauffolgende Selbstverpflichtung der Bundesrepublik zur Verteidigung Israels in Erinnerung, die von allen grossen Parteien geteilt wird. Die Sicherheit Israels ist – so die gängige Formulierung – «Teil der Staatsräson» der Bundesrepublik. Entsprechend positionierte sich die Bundesregierung. Als die israelische Armee in den Gazastreifen einrückte, betonte sie entschieden das Recht Israels zur Selbstverteidigung.

Doch anders als beim Ukraine Krieg, der für die allermeisten moralisch eindeutig war, regte sich in Deutschland wie auch in der Schweiz beim Krieg in Gaza bald Widerspruch. Die Politik und die öffentlichen Medien stehen zur Solidarität mit Israel. Dagegen richteten sich Proteste an einigen Universitäten und öffentliche Demonstrationen, wo insbesondere die junge Generation ihre Solidarität mit den Opfern der israelischen Bodenoffensive in Gaza zum Ausdruck brachte. Der Antisemitismusvorwurf der einen Seite stand gegen den Vorwurf der Zensur auf der anderen Seite. Bei weitem nicht alle Demonstrierenden gegen den Krieg in Gaza distanzierten sich eindeutig vom Terroranschlag am 7. Oktober. «From the river to the sea, Palestine will be free» war auch auf deutschen Strassen und an deutschen Universitäten zu hören. Das aber verschärfte die öffentliche Debatte, weil dieser Slogan nicht die Besatzung Gazas und der Westbanks seit 1967, sondern die Staatsgründung 1948 rückgängig machen möchte.  Antisemitismus ist seit dem 7. Oktober in Deutschland wieder öffentlich sichtbar in Demonstrationen und Anschlägen auf Juden und Israelis. Anfang Februar 2024 prügelte ein Berliner Student einen seiner Kommilitonen an der Freien Universität Berlin krankenhausreif – weil er Jude war und an die von der Hamas verschleppten Geiseln erinnert hatte. Vor allem bei der jüngeren Generation scheint die Erinnerung an den Holocaust und die Solidarität mit Israel in den Hintergrund zu treten. Sie sehen den Krieg in Israel vielmehr durch die arabische oder auch muslimische Brille. Bei einer propalästinensischen Demonstration war jüngst ein Plakat mit der Aufschrift zu sehen: «Free Palestine from German guilt» – Befreit Palästina von der deutschen Schuld. Aber es gibt auch falsche Freunde Israels. Politiker der AfD betonen bei jeder Gelegenheit die Verbrechen der Hamas gegen Israel, um Muslime und letztlich den Islam aus Deutschland zu vertreiben. Der Krieg in Israel und Gaza spaltet die deutsche Gesellschaft mehr als dass er sie eint.

Unser Experte Siegfried Weichlein ist Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte am Departement für Zeitgeschichte.
siegfried.weichlein@unifr.ch