Dossier

Kein Tabuthema mehr

Lange wurde kaum über die Sexualität von Menschen mit intellektueller Behinderung gesprochen. Mittlerweile ist sie sowohl in der sonderpädagogischen Ausbildung als auch in den entsprechenden Einrichtungen ein wichtiges Thema – und weiterhin eine Herausforderung.

«Brauchen sie nicht, haben sie nicht, können sie nicht.» So skizziert Kathrin Mohr die lange vorherrschende Meinung über die Sexualität von Menschen mit intellektueller Behinderung. «Das hat sich in der Gesellschaft verankert und wirkt immer noch nach», sagt die Dozentin am Departement für Sonderpädagogik. «Im Fachdiskurs wird mitunter von einer doppelten Tabuisierung gesprochen», fügt ihr Kollege André Schindler an. «Man sprach nicht über Menschen mit Behinderung und nicht über Sexualität – und erst recht nicht über die Kombination.» In der älteren Fachliteratur wird manchmal das Bild vom unschuldigen Kind gezeichnet, dem die Sexualität abgesprochen wird. Besser nicht darüber reden, um Menschen mit intellektueller Behinderung nicht auf falsche Gedanken zu bringen.

Studierende werden sensibilisiert

In den vergangenen Jahrzehnten hat ein Umdenken stattgefunden. «Gerade die Leute, die in dem Bereich arbeiten, sind deutlich mehr sensibilisiert», sagt Mohr. «In der Ausbildung weisen wir darauf hin, dass Sexualität ein wichtiger Teil der Entwicklung ist. Wir fassen den Begriff sehr weit, um die Studierenden bestmöglich auf die Praxis vorzubereiten.» Es geht um mehr als Geschlechtsverkehr und körperlichen Austausch. Thematisiert werden auch körperliche, psychische und sozial-emotionale Entwicklungen. Was passiert, wenn sich bei Jugendlichen der Körper hormonell bedingt äusserlich und innerlich zu verändern beginnt? Wie sieht es mit zwischenmenschlichen Beziehungen aus? Und wie steht es um Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse?

Darüber zu sprechen, regt zum Nachdenken an und dient in der Praxis als Kompass. Nicht zuletzt, weil sie in der Ausbildung vermehrt angesprochen wird, ist die Thematik auch in den Institutionen angekommen. «Sie wird in den Schulen diskutiert und später auch in den Wohneinrichtungen», sagt Mohr. In der Einrichtungslandschaft hat es einen grossen Wandel gegeben, es bestehen nun Leistungsvereinbarungen, die mit einem Qualitätsmanagement einhergehen. «Dazu gehören oft sexualpädagogische und sexualagogische Konzepte – entsprechend gibt es mehr Beratungsmöglichkeiten für die Bewohner_innen», sagt Schindler. Die Einrichtungen organisieren auch Weiterbildungen durch spezialisierte Fachpersonen und Organisationen, sowohl für Mitarbeitende als auch für die Personen mit intellektueller Behinderung.

Verschiedene Spannungsfelder

Universelle Antworten und allgemeingültige Ratschläge existieren oft aber nicht, dazu ist allein schon der Begriff der Menschen mit intellektueller Behinderung zu unpräzise. In Wirklichkeit umschreibt er eine heterogene Gruppe, die von Personen mit leichter kognitiver Behinderung bis hin zu Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung reicht. Vor allem aber tun sich im Bereich der Sexualität von Menschen mit intellektueller Behinderung verschiedene Spannungsfelder auf. Die Paradigmen der heutigen Sonderpädagogik – Selbstbestimmung, Normalisierung, Teilhabe und Inklusion –, stossen an ihre Grenzen und müssen aktiv diskutiert werden. Hierzu gehört, dass die individuellen Voraussetzungen der Person mit Behinderung im Zusammenhang mit ihrem räumlichen und personellen Lebensumfeld berücksichtigt werden.

Bei der sexuellen Selbstbestimmung etwa fängt es bereits bei praktischen Fragen an. «Für Personen in Wohneinrichtungen stellt sich allein schon die Frage, wann sie Sexualität erfahren und ausleben können», sagt Schindler. «Ich denke an die Duschpläne. Da duscht dann Peter zum Beispiel am Freitag und am Dienstagabend, weil in dieser Zeit die Begleitung gewährleistet ist. Wenn man an Körper­erfahrung bis hin zur Selbstbefriedigung in diesen Momenten denkt, ist es durch den Unterstützungsbedarf in einem Setting, das durch räumliche und personale Strukturen bestimmt ist, mit der Selbstbestimmung nicht weit her.»

Kommt hinzu, dass sich die Haltung von Betreuenden auf den Umgang mit der Thematik niederschlägt. «Es kommt bei Praktika weiterhin nicht selten vor, dass von uns sensibilisierte Studierende auf ein nicht so offenes Feld stossen», sagt Mohr. «Beispielsweise wird ein offenes Aus­leben von Sexualität von den Mitarbeitenden unterbunden, Bewohner_innen dürfen sich nicht gegenseitig im Zimmer besuchen oder bei Besuch nicht die Türen schliessen.»

Der Umgang in der Praxis ist indes tatsächlich mit Herausforderungen verbunden. In diesem Zusammenhang treten unter anderem Befürchtungen zutage, was passiert, wenn Menschen mit intellektueller Behinderung Eltern werden. «Bei ihnen wird infrage gestellt, dass sie Kinder genügend begleiten können. Es stellen sich folglich auch gewisse Fragen im Zusammenhang mit Kinderrechten und Kindeswohl», erklärt Mohr.

Couple enlacé – Ferruccio Garopesani 1979 | © MAHF / Francesco Ragusa

Kontroverse Sexualassistenz

Ein Thema, das in den letzten Jahren vermehrt aufkam, ist die professionelle Sexualassistenz. Darunter versteht man erotische Dienstleistungen durch fachlich ausgebildete Personen. «Es ist meiner Meinung nach ein Sujet, bei dem es sich als Fachperson wiederum lohnt, die eigene Werte­haltung zu reflektieren und gleichzeitig auch kritische Fragen an ein solches Angebot zu stellen», sagt Schindler. «Eine Stunde kostet rund 150 Franken plus Anreise­spesen. Wenn man bedenkt, dass Personen mit IV-Leistungen und möglichen Ergänzungsleistungen monatlich einen kleinen Frankenbetrag zur freien Verfügung haben, stellt sich für sie die Frage, ob dieses Geld dafür investiert werden soll.»

Die Gefahr des Missbrauchs

Abseits professioneller Dienstleistungen ist eine andere Frage nicht immer leicht zu beantworten: Wer darf überhaupt Partnerschaften miteinander eingehen? «Wenn wir mit Studierenden über die Legitimität von Beziehungen von Menschen mit intellektueller Behinderung zu Menschen ohne intellektuelle Behinderung reden, kommt oft eine ablehnende Haltung. Insbesondere, wenn die Person ohne Behinderung ein Mann ist. Umgekehrt wird es interessanterweise eher als akzeptabel angesehen», erzählt Schindler. Dabei werden Wirkmechanismen von wahrgenommenen Machtgefällen sichtbar; zum Beispiel Behinderung - keine Behinderung oder Mann - Frau.

Eine Beziehung auf Augenhöhe ist aber auch zwischen Menschen mit intellektueller Behinderung keineswegs eine Selbstverständlichkeit. «Wenn eine Person kognitiv stärker beeinträchtigt ist als eine andere, kann sie dann wirklich mit ihr sexuellen Kontakt pflegen, ohne dass es als Missbrauch oder Übergriff gesehen werden muss?», fragt Mohr.

Überhaupt ist das Thema Missbrauch präsent. Es gibt Einrichtungen, die bereits von Praktikant_innen einen Auszug aus dem Strafregister verlangen. Spätestens seit dem 2011 in der Schweiz publik gewordenen Fall eines Sozialtherapeuten, der in verschiedenen Heimen mehr als 100 Menschen, meist mit schwerer und mehrfacher Behinderung, sexuell missbraucht hatte, wird genauer hingeschaut. Kontrollmechanismen wurden eingerichtet, Meldestellen sollten bestehen, bei denen Grenz­über­schreitungen niederschwellig deponiert werden können. «Eine professionelle Ausbildung ist auch ein wichtiger Schutzfaktor, um gewisse Zeichen zu erkennen, zu sehen, wenn etwas nicht in Ordnung ist und zu wissen, wie man in solchen Fällen reagieren kann», sagt Mohr.

«Kein Sex ist auch keine Lösung»

Die Herausforderungen im Betreuungsalltag sind vielfältig. «Die eigenen Grenzen, der Umgang mit Nähe und Distanz, die Rolle als Fachperson, hinter der gleichzeitig eine Privatperson steckt – das ist alles nicht immer einfach», sagt Schindler. Er nennt als Beispiel den Fall einer Betreuerin, die das Gefühl hatte, ein stark intellektuell behinderter Mann im Rollstuhl fasse ihr bei Transfers immer an die Brust. «Sie war sich aber nicht sicher, ob er es absichtlich macht – und wie sie darauf reagieren soll.»

Es ist eine dieser vielen Situationen, in denen es kein Richtig oder Falsch gibt. Aufgabe der Ausbildung ist es, den Einzelnen das Rüstzeug mitzugeben, um auf solche Situationen vorbereitet zu sein. Gleichzeitig gilt es in der Forschung, den Konzepten der Institutionen einen wissenschaftlichen Unterbau zu verleihen. «Die Forschung steht wenig differenziert da. Die Datenlage ist nicht sehr gut», sagt Mohr.

Immerhin aber ist das Thema mehr und mehr ent­tabuisiert, wird Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung Sexualität zugestanden. Im September war André Schindler an einem Kongress, bei dem unter anderem über das Ausleben von Sexualität in Einrichtungen gesprochen wurde. Geblieben ist ihm insbesondere der Leitsatz einer Mitforschenden mit intellektueller Behinderung: «Kein Sex ist auch keine Lösung.»

Unsere Expertin Kathrin Mohr ist Lektorin am Departement für Sonderpädagogik der Universität Freiburg.
kathrin.mohr@unifr.ch

Unser Experte André Schindler ist Lehrbeauftragter und Lektor am Departement für Sonderpädagogik der Universität Freiburg.
andre.schindler@unifr.ch