Dossier
Verfangen in Verboten
Die katholische Kirche täte gut daran, aufgrund ihrer von sexuellen Missbräuchen belasteten Geschichte in sich hineinzugehen, meinen die beiden Theologen Daniel Bogner und Mariano Delgado im Gespräch.
Was fällt Ihnen als katholische Theologen unter dem Stichwort «Sexualität und Kirche» als Erstes ein?
Daniel Bogner: Dass es eine sehr problematische Konfliktgeschichte gibt. Sexualität ist eine Lebenskraft, eine zentrale Dimension menschlicher Identität. Die Kirche hat diese Kraft aber oftmals als Bedrohung und Gefahr gedeutet. Viele Gläubige geraten in innere Konflikte, wenn sie ihren Glauben als eine Ressource für ein erfülltes Leben empfinden – und dann von der religiösen Institution Signale erhalten, die einengend und begrenzend sind.
Mariano Delgado: Als Erstes fallen mir grosse Widersprüche ein: Auf der einen Seite haben wir es etwa in der sakralen Kunst des Barocks mit einer Explosion der Sinnlichkeit zu tun, die etwa im Protestantismus mit seiner Prüderie so nicht zu finden ist. Katholische Kirchen sind voll von Darstellungen von nackten Menschen in zum Teil sehr anzüglichen Formen, ich denke etwa an Berninis Statue in der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom, die die Verzückung der heiligen Teresa von Ávila zeigt. Auch in der Tradition der christlichen Mystik finden wir eine grosse Fülle von sinnlichen Sprachbildern, und zahlreiche Gedichte führen die sehr erotische Sprache fort, die schon das Hohelied im Alten Testament auszeichnet. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass der Katholizismus von einer Verengung des Blicks geprägt ist. Wenn es darum geht, die Sexualität als etwas grundlegend Positives zu werten, kommt eine gewisse Engherzigkeit zum Tragen.
Wieso befürwortet die Kirche die Sexualität in der Ehe, aber verbietet sie in anderen Formen?
Daniel Bogner: Die katholische Kirche hat – insbesondere in ihrer antimodernistischen Phase seit dem 19. Jahrhundert – einen Pfad eingeschlagen, auf dem sie in Fragen der Lebensführung oft nur mit dem Daumen nach oben oder nach unten zeigt. Natürlich ist es richtig, dass eine Religionsgemeinschaft für sich formuliert, welche zentralen normativen Werte ihr wichtig sind. Doch sie sollte dies auf eine andere Art und Weise tun. Die Kirche könnte etwa sagen: «Wir nehmen die biblischen Quellen ernst und halten deshalb Werte wie Treue und gegenseitige Verpflichtung hoch. Uns ist es wichtig, dass Menschen in Beziehungen verbindlich Verantwortung füreinander übernehmen und sich in wechselseitigem Respekt begegnen.» Aber daraus eine Gesetzeshaltung abzuleiten – und über Menschen in ihren individuellen Lebensverhältnissen zu urteilen, finde ich sehr problematisch.
Mariano Delgado: Auch mir scheint die moderne katholische Kirche in einer Dialektik von Geboten und Verboten verfangen. Und sie würde vielleicht gut daran tun, von dieser Dialektik wegzukommen. Genau das hatte das Zweite Vatikanische Konzil ja versucht, als es 1965 den Text «Gaudium et Spes» über die Kirche in der Welt von heute verabschiedete. Aber es ist ihm nicht gelungen, denn nur drei Jahre später veröffentlichte Papst Paul VI. ein anderes Schreiben: Die Enzyklika «Humanae Vitae» verbot künstliche Verhütungsmittel und lenkte die eheliche Sexualität wieder in ganz traditionelle Bahnen – nicht zuletzt als Antwort auf den allgemeinen Kulturwandel, der zu dieser Zeit stattfand. Doch sexuelle Verbote spielten auch schon viel früher eine grosse Rolle: Als europäische Missionare im 16. Jahrhundert nach Übersee gingen, bekämpften sie die Polygamie radikal, die sie dort oftmals vorfanden. Man war auch besessen von der sogenannten Sodomie, also der Homosexualität. Manchen galt das damals sogar als «gerechter Kriegsgrund».
Woher kommt diese Abneigung gegen Homosexualität?
Daniel Bogner: Eine Spur führt sicher zum spätantiken Theologen und Kirchenvater Augustinus und seiner «Lehre von den Ehezwecken» zurück, in der er für die Verbindung zwischen Mann und Frau die Prokreation, also die Erzeugung von Nachkommenschaft, als wesentlichen Zweck ausmachte. Weil das bei homosexuellen Paaren biologisch ausgeschlossen ist, kann das keine wertvolle Verbindung sein. Dieser einfache Algorithmus ist seit Jahrhunderten wirksam. Aber mir leuchtet er nicht ein. Denn wenn ein Paar in der Beziehung Zuneigung, Verbindlichkeit, Verantwortung füreinander, Gegenseitigkeit und einen barmherzigen Umgang mit Fehlern zeigt, dann sind die Werte des Evangeliums verwirklicht. Und es geschieht das, was man unter Liebe versteht. Dann ist daran doch nichts «widernatürlich». Und dann kann sich die Kirche von einer solchen biologistischen Bewertung verabschieden. Aber leider hat die Kirche in ihrer offiziellen Position nach wie vor ein gravierendes Problem mit der Homosexualität.
Mariano Delgado: Es ist an der Zeit, diesen Fokus auf den Geschlechtsakt zu überwinden. Zudem glaube ich, dass die Abneigung auch mit einem falsch verstandenen Sinnbild zu tun hat: Der Sohn Gottes hat sich bei seiner Menschwerdung gleichsam als Bräutigam mit der Menschennatur eines jeden Menschen als Braut vereinigt. Diese «Bräutigam-Braut-Metaphorik» wird meistens nur auf die Ehe zwischen Mann und Frau oder auch auf die Beziehung zwischen Christus und der Kirche gemünzt. Doch das Sinnbild kann auch in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung greifen, denn jeder Mensch, egal welchen Geschlechts, ist aufgrund seiner Menschennatur die Braut Christi. Meiner Meinung nach sollte sich die Kirche deshalb darauf beschränken, die Menschen einzuladen, in der Liebe – zueinander und zu Gott – zu wachsen, ohne die Formen der geschlechtlichen Sexualität in legitim oder «sündhaft» einzuteilen. Zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, sollte die Kirche nicht normieren.
Sie finden, die Kirche masst sich zu viel an?
Mariano Delgado: Ja, die Kirche sollte aufgrund ihrer belasteten Geschichte in sich hineingehen und vorsichtiger kommunizieren. Sie sollte die Gläubigen nicht von oben herab abmahnen, sondern sie ermutigen – zu einem Leben in der Nachfolge Jesu. Denn es gibt die kirchlichen Ideale, und es gibt die Realität, in der es nicht allen gelingt, diese Ideale umzusetzen. Hier sollte die Kirche mehr Verständnis und Barmherzigkeit aufbringen. Eine Binsenwahrheit der mystischen Tradition lautet, dass Gott bestrebt ist, alle Menschen auf ihren je eigenen Wegen zu sich zu führen. Dabei passt sich Gott jedem Menschen an: Gott ist die Quelle, aus dem jeder Mensch mit dem Gefäss schöpft, das er oder sie in der Hand hält.
Daniel Bogner: Auch beim Thema Zweigeschlechtlichkeit ist die Kirche immer noch sehr stark in einem binären Schema verhaftet. Dabei weisen Kenntnisse aus den Lebenswissenschaften deutlich auf eine eher fliessende Verteilung zwischen den geschlechtlichen Polen hin. Deshalb ist auch ein flexiblerer Umgang mit den Attributen «männlich» und «weiblich» erforderlich. Ich halte es für notwendig, dass die Kirche gegenüber Menschen mit queeren Identitäten zu einer weniger schematischen und weniger verurteilenden Haltung kommt.
Mariano Delgado: Hierin liegt ein weiterer grosser Widerspruch. Die Kirche versteht sich zwar als Expertin in Menschlichkeit, aber im Bereich der Sexualität ist sie nicht auf dem aktuellen Wissensstand.
Daniel Bogner: Absolut, die Kirche unterläuft beim Thema Sexualität ihre eigenen Standards.
Einige Vertreter der Kirche haben diese Standards nicht nur unterlaufen, sondern grob verletzt.
Daniel Bogner: Ja, heute – nach all den Übergriffen und Vorkommnissen von sexualisierter Gewalt – ist jede kirchliche Stimme zum Thema Sexualität unglaublich problematisch. Für viele Menschen hat die Kirche ihre Glaubwürdigkeit bei diesem Thema vollständig verloren, weil sich Kleriker als skandalös inkompetent erwiesen haben, verantwortungsvoll mit Schutzbefohlenen umzugehen. Immerhin stellen der Papst und zahlreiche weitere kirchliche Verantwortungsträger fest, dass es einer Weiterentwicklung der kirchlichen Sexualethik bedarf, weil in diesem Bereich Verklemmung, Verhärtung und Sprachlosigkeit herrschen.
Mariano Delgado: Ja, die verheerenden Verfehlungen der «Berufschristen» haben zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche geführt. Aber ich habe zuweilen den Eindruck, dass die mediale Berichterstattung zu stark auf die Sündhaftigkeit der Kirche fokussiert. Und dabei andere Felder komplett ausblendet, wo kirchliche Akteure immer noch sehr glaubwürdig sind. Ich denke zum Beispiel an die Schutzhäuser für misshandelte Frauen, die in den letzten Jahren etwa in vielen lateinamerikanischen Ländern entstanden sind. Die Kirche ist dort oft ein wichtiger sozialer Faktor. Sie übernimmt Aufgaben, die der Staat nicht erfüllen kann. Ich wünschte mir, dass sich die Medien auch für solche Geschichten interessieren und nicht nur Missbräuche thematisieren. Dass sie das eine tun, aber das andere nicht lassen.
Daniel Bogner: Aber ich möchte einwenden, dass das dramatische Ausmass der Skandale um sexuelle Gewalt ohne die kritische Funktion der Medien nicht ans Licht gekommen wäre. Die Kirche selbst hat nicht die Kraft gehabt, die Missbräuche zu Tage zu fördern. Und auch wir Theologen nicht.
Mariano Delgado: Dass die Kirche unfähig ist, aus sich selbst heraus nötige Reformen anzustossen, ist ein eisernes Gesetz der Kirchengeschichte. Die katholische Kirche hat sich zum Beispiel im 16. Jahrhundert nur in den Ländern erneuert, in denen Könige oder andere Obrigkeiten sie zu Anpassungen gezwungen haben. Und auch heute hätte man ohne mediale Öffentlichkeit und ohne rechtstaatlichen Druck wohl alles unter den Teppich gekehrt.
Viele Menschen sind der Meinung, dass das Zölibat dazu beiträgt, dass Priester eher Missbräuche begehen.
Daniel Bogner: Die pauschale Aussage, dass zölibatär lebende Menschen schneller zu Tätern werden als nicht zölibatär lebende, stimmt so nicht. Doch das Zölibatsversprechen schafft im Klerus, also bei den geweihten Amtsträgern, ein starkes Gruppenbewusstsein, das den Zusammenhalt innerhalb des klerikalen Sozialverbandes fördert. Und diese Art Korpsgeist trägt zu einer Vertuschungskultur, zu einer Kultur des Nicht-Hinschauens bei. Im Nachhinein hat sich ja gezeigt, dass viele Vorgesetzte von den Priestern und ihren «Problemen» wussten. Im Büro des Kölner Kardinals Meisner gab es etwa einen Aktenordner im Regal, der auf dem Rücken mit «Brüder im Nebel» beschriftet war. Der Ordner enthielt dokumentierte Vorkommnisse von Priestern seiner Diözese, die sich vergangen haben. Ihre Vergehen sind aber nicht im regulären Personalwesen eingegangen, sondern nur in diesem quasi privaten Ordner gelandet. Der Kardinal wusste alles – und hat die Priester einfach auf andere Stellen versetzt. Das Männerbündische gehört leider zu den Gesetzmässigkeiten der klerikalen Kultur. Die erste Solidarität gilt den Tätern, nicht den Opfern. Wenn die Priesterschaft der katholischen Kirche diverser wäre, gäbe es eine grössere Pluralität, die mehr Distanzen und Zwischenräume schaffen würde – durch die dann auch leichter Licht hineinkäme.
Mariano Delgado: Ich hoffe, dass die Aufarbeitung der Missbrauchsgeschichte wie ein reinigendes Gewitter wirkt und wichtige Fragen aufwirft. Müsste nicht auch im Klerus eine grössere Vielfalt von Lebensformen verkörpert sein, so wie sie im Kirchenvolk bei den Laiinnen und Laien zu finden ist? Und wieso ist der Laienstand nicht im Kardinalskollegium vertreten, also im Wahlgremium für die höchste Leitung der Kirche?
Ist das realistisch?
Daniel Bogner: Es wäre kirchenrechtlich heute schon ohne jede Änderung möglich, auch eine Frau zur Kardinalin oder nichtgeweihte Männer zum Kardinal zu wählen.
Mariano Delgado: Aktuell hat die katholische Kirche viele grosse offene Baustellen. Doch die Kirche ist wie ein Öltanker, der seinen Kurs zwar ändern muss, dafür aber Zeit braucht. Ich frage mich dabei auch, wie stark die Kirche auf den gesellschaftlichen Wandel eingehen muss. Wie weit soll die Akkulturation des Evangeliums gehen? Ist es die Aufgabe der Kirche, die Normativität des Faktischen abzusegnen? Oder ist es ihre Aufgabe, die Menschen einzuladen, sich in Richtung des Ideals der Nachfolge Jesu zu bewegen? Und zwar in einer wirklich einladenden, barmherzigen Sprache, ohne dabei den mahnenden Zeigefinger der «Du-bist-nicht-ok-Haltung» zu heben.
Daniel Bogner: In der langen Zeit kirchlich praktizierten Gesetzeslogik – «entweder halte ich die Gesetze ein, oder ich habe gefehlt» – schwingt auch ein seltsames Bild des Menschen mit. Denn welcher Mensch ringt und bemüht sich denn nicht um einen gelingenden Lebensweg? Die Kirche sollte das mit einem wohlwollenden, gütigen und vertrauensvollen Blick würdigen. Dann könnte sie eine Institution sein, die die Menschen begleitet, sie ermutigt und ihnen beisteht. Papst Franziskus ist auf dieser Spur. Er hat das Bild formuliert, dass sich die Kirche als Feldlazarett verstehen sollte. Sie sollte die Gläubigen unterstützen, die sich in ihren Lebenskämpfen verwunden. Und also an der Seite der Menschen – nicht über ihnen – stehen.
Unsere Experte Mariano Delgado ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg.
mariano.delgado@unifr.ch
Unser Experte Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Freiburg.
daniel.bogner@unifr.ch