Forschung & Lehre

Fussball als Zeitzeuge

Historikerin Christina Späti erzählt die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts anhand des Fussballs. Britische Klassenkämpfe, geistige Landesverteidigung, Empowerment der Frauen – es ist alles drin. 

Was Christina Späti durch den Kopf geht, wenn sie mal wieder Spieler_innen oder Funktionär_innen sagen hört, Politik habe im Fussball nichts zu suchen? «Da kann ich nur lachen. Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen hatten schon immer direkte Auswirkungen auf den Fussball – er ist ein guter Spiegel», sagt die Professorin für Zeitgeschichte.

Arbeiterklasse übernimmt den Fussball

«Als der Fussball im 19. Jahrhundert in Grossbritannien entstand, war er ein Phänomen der Oberschicht, der es wichtig war, sich gegenüber der Arbeiterklasse abzugrenzen», sagt Späti. Eine Professionalisierung kam deshalb nicht infrage, Fussball sollte ein Sport sein, den Gentlemen in ihrer Freizeit spielen. «Die Arbeiter übernahmen ihn dann trotzdem – ein wichtiger Grund dafür war ein gesellschaftlicher Wandel.» In Grossbritannien wurde die Arbeitszeit reduziert, der Samstagnachmittag war nun frei, nur deshalb hatten die Arbeiter überhaupt Zeit, Fussball zu spielen. Die Oberschicht wandte sich daraufhin mehrheitlich vom Fussball ab und bevorzugte Sportarten wie Cricket oder Landhockey. «Das war mit Blick auf die Arbeiterklasse ein erstes Beispiel von Empowerment.»

Instrumentalisierung im Faschismus

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Fussball auch auf dem Kontinent zum Massenphänomen. «Die Staatsoberhäupter merkten, dass es wichtig ist, sich im Stadion zu zeigen. Es kamen Flaggen dazu, nationale Embleme – insbesondere in den Diktaturen wurde Fussball in den dreissiger und vierziger Jahren schamlos politisiert und instrumentalisiert.» Etwa von Benito Mussolini, der sich eigentlich nicht für Fussball interessierte, 1934 aber die WM nach Italien holte. «Die Hintergedanken richteten sich sowohl nach innen als auch nach aussen.» Nach innen, um die Leute mit Brot und Spielen bei der Stange zu halten, nach aussen, um zu zeigen, was der Faschismus erreichen kann. «Es wurde dann auch nachgeholfen, damit Italien Weltmeister wird», erklärt Späti.

Der Fussball diente im Faschismus der Gemeinschaftsbildung – die durch Ausgrenzung geschah. In Italien wurde die Liga umstrukturiert. «Ausländer waren nicht mehr erwünscht. Dadurch gingen einige gute Spieler verloren. Als Ersatz wurden in Lateinamerika Spieler mit italienischer Herkunft gesucht.» Auch Nazideutschland holte sich das Gemeinschaftsgefühl durch Exklusion. «Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden jüdische Personen im Fussball schrittweise ausgeschlossen.»

Fussball als geistige Landesverteidigung

Und die Schweiz? «Die hatte bei der WM 1938 in Frankreich ihren grossen Moment, der eine Masseneuphorie auslöste, die im Kontext der geistigen Landesverteidigung zu verstehen ist. Die Schweizer Fussballer besiegten im Achtelfinal Deutschland – es war das erste Mal, dass die NZZ eine Sportnachricht auf der Titelseite brachte.» Ganze Schulklassen schrieben den Spielern anschliessend Fanbriefe, die Zeitungen überboten sich mit Elogen über die kleine Schweiz, die das grosse Nazideutschland besiegt hatte, Vergleiche mit Wilhelm Tell und Werner Stauffacher wurden gezogen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Fussball während des Kalten Kriegs erneut als Kampf der Systeme betrachtet. Etwa bei der WM 1974 in der Bundesrepublik Deutschland, als es zum einzigen Länderspiel zwischen der BRD und der DDR kam. «Das war für beide nicht einfach. In der BRD war man zurückhaltend, die DDR überhaupt anzuerkennen und sie so zu nennen – keine leichte Aufgabe für die TV-Leute.» Ungleich grösser waren die Herausforderungen auf der anderen Seite. «Die DDR musste sich die Frage stellen: Wer reist überhaupt in die BRD, ohne dass es zur Republikflucht kommt? Das galt insbesondere für die Fans, das war eine Staatsübung.»

Vier Jahre später blickte die Welt nach Argentinien, wo kurz zuvor nach einem Putsch eine Militärjunta an die Macht gekommen war. Wie Italien 1934 gewann auch Argentinien 1978 die Heim-WM. «Erneut gab es merkwürdige Vorkommnisse, es wurde wohl auch diesmal nachgeholfen», sagt Christina Späti. Dennoch war es die perfekte Propaganda. «Man weiss von Zeitzeugen, dass selbst politische Gefangene mitgefiebert und mitgefeiert haben. Dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Emotionen sind der Grund dafür, dass der Fussball so gut instrumentalisiert werden kann.»

Interessant für Migrant_innen

Es sind jedoch dieselben Zutaten, die dafür sorgen, dass Fussball auch inkludierend wirken kann. Wie bei der britischen Arbeiterklasse sind es Geschichten von Emanzipation und Selbstermächtigung. Ein Beispiel dafür ist das Brasilien des frühen 20. Jahrhunderts. «Bis in die zwanziger Jahre war das Land von den Folgen des Sklavenhandels und Segregation geprägt. Schwarze wurden zum Teil aus den Clubs und aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen. Sie spielten jedoch weiter und zeigten, wie gut sie sind. Das hat integrierend gewirkt, bald durften sie normal mitspielen.»

© Getty Images | WM 1954 in der Schweiz. Finalspiel Ungarn gegen Deutschland (2:3) im Wankdorf, Bern.

Überhaupt gab und gibt es immer und überall Fussball spielende Migrant_innen. «Das Interessante am Fussball ist die Niederschwelligkeit. Ein Ball, ein Platz – und schon geht es los. Es braucht keine Sprachkenntnisse, keine Staatszugehörigkeit, Migrant_innen können sich mit Skills einbringen, die nichts mit denjenigen zu tun haben, die von ihnen bei Integrationsforderungen normalerweise gefragt sind.»

Solche Beispiele gibt es auch in der Schweiz. Dem jüdischen Fussballclub Hakoah Zürich etwa gelang schon 1922 sowohl eine Integration gegen innen als auch gegen aussen. Religiöse und nicht religiöse Juden spielten zusammen in einem Team, das in die Zürcher Liga aufgenommen wurde. Manchmal kam es zu Konflikten, weil Hakoah aus religiösen Gründen nicht am Samstag spielen wollte. Am Sonntagmorgen hingegen wollten die christlichen Gegner nicht antreten. «Die Spiele fanden schliesslich am Sonntagnachmittag statt. Dass das von allen akzeptiert und ein Kompromiss gemacht wurde, war ein klares Signal im Integrationsprozess.»

Nahostkonflikt im Fussball spürbar

Den FC Hakoah Zürich gibt es auch heute noch und am Sabbat spielt er weiterhin nicht. In den letzten Monaten war der Club jedoch aus einem anderen Grund in den Medien: dem zunehmenden Antisemitismus. «Den Junioren wurde geraten, nicht mehr im Trainingsdress mit dem Clublogo an den Match zu gehen, sondern sich erst in der Garderobe umzuziehen», sagt Späti. Da ist er wieder, der Fussball als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung.

Das führt zu der Frage: Wie sieht es heute grundsätzlich aus? Die grossen Konfliktlinien sind direkt erkennbar. Russland ist von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, Palästina und Israel könnten auch im Fussball kaum weiter voneinander entfernt sein. Israel gehört dem europäischen Verband an, Palästina der asiatischen Konföderation. «Die palästinensischen Nationalmannschaften – es gibt auch eine weibliche – bestehen in erster Linie aus Spieler_innen, die im Exil leben. Auch weil viele Spieler_innen, die in Palästina leben, nicht ausreisen können, wenn Israel es nicht zulässt.» Ein Direktduell zwischen Palästina und Israel gab es noch nie. «Das liegt seit Jahren ausserhalb des Vorstellbaren», sagt Christina Späti.

Abseits der internationalen Konflikte werden weiterhin gesellschaftliche Themen verhandelt. «Gerade hierzulande gehört im Hinblick auf die Frauen-EM 2025 in der Schweiz die Gleichberechtigung zu den wichtigsten. Da geht es auch um das politische Umfeld, zum Beispiel darum, wie viel Geld Bund und Kantone sprechen.» Das Empowerment der Frauen verlief in den letzten 100 Jahren schleppend und mit Rückschlägen. «In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es die erste Emanzipationswelle. In den dreissiger und vierziger Jahren wurden die Frauen dann jedoch wieder vom Fussball ausgeschlossen – unter anderem mit der Begründung, er sei schlecht für die Gebärfähigkeit.» Mit der zweiten Frauenbewegung in den sechziger Jahren änderte sich das wieder, spätestens seit der Jahrtausendwende gewinnt der Frauenfussball gerade auch in Europa an Popularität.

Frauen am Ball

«Das hat viel mit den USA zu tun. Fussball hatte dort schon immer eine andere Rolle. Neben den stark männlich konnotierten Sportarten wie American Football, Baseball oder Eishockey hatte es im Fussball von Beginn weg viel Platz für Frauen», sagt Späti. Als 1999 Präsident Bill Clinton und über 90’000 Fans in Los Angeles den WM-Final verfolgten, war absehbar, dass diese starken Bilder nicht ohne Einfluss auf Europa bleiben würden.

Nebst der Thematik um die Gleichberechtigung fand Christina Späti zuletzt auch die Fanproteste in Deutschland gegen die zusätzliche Kommerzialisierung bemerkenswert. Fans störten so lange die Spiele, bis die Deutsche Fussball Liga (DFL) einen geplanten Investoren-Deal platzen liess. «Sie haben ihr Anliegen durchgebracht und gezeigt, dass nicht von oben herab an den Fans vorbei entschieden werden kann. Das ist gesamtgesellschaftlich betrachtet interessant.» Es bleibt spannend im Fussball – auch abseits von Elfmetern und Doppelpässen.

Unsere Expertin Christina Späti ist Professorin am Departement für Zeitgeschichte der Universität Freiburg. Im letzten Semester hielt sie die BA-Vorlesung «Fussball. Geschichte eines globalen Phänomens».
christina.spaeti@unifr.ch