Dossier

Potential und Grenzen der Seelsorge

Das Vertrauenskapital von Seelsorgenden beruht auf ihrer unabhängigen Stellung und auf einer Nähe zu den Ratsuchenden.

Asylsuchende befinden sich in einer Situation des Übergangs. Sie haben ihre Heimat verlassen und dort wie auch auf dem Weg der Flucht vielfach traumatische Erfahrungen gemacht. Die Geflüchteten tragen die Hoffnung in sich, hier oder anderswo ein neues Zuhause zu finden. In einer so von Unsicherheit gekennzeichneten Situation kommt dem Vertrauen eine grosse Bedeutung zu. Knüpft man an Niklas Luhmanns Unterscheidung zwischen inter­personalem und systemischem Vertrauen an, zeigt sich, dass beide Dimensionen des Vertrauens für Asylsuchende grosse Herausforderungen mit sich bringen: Sie haben kaum Kenntnisse über das Asylland und dessen komplexes Asylverfahren, das ihre Zukunft entscheidend prägen wird. Ausserdem leben sie in Bundesasylzentren auf engem Raum mit Menschen aus sehr diversen Herkunftsländern zusammen, was ein hohes Konfliktpotenzial mit sich bringt.

Gesprächspartner der Asylsuchenden

In so einem Kontext fungiert Asylseelsorge als eine bedeutende Ressource des Vertrauens. In der Schweiz sind zusätzlich zu reformierten und katholischen Seelsorgenden seit 2016 auch muslimische Seelsorgende in Bundes­asylzentren beschäftigt, deren Tätigkeit wir in mehreren Evaluationsforschungen begleiten und analysieren konnten. Angesichts einer grossen Zahl von Gesuchstellenden muslimischen Glaubens seit dem Arabischen Frühling kam die Idee auf, das Seelsorgeangebot entsprechend zu erweitern. Seelsorgende sind Vertrauenspersonen per se: die Gespräche mit ihnen geniessen Vertraulichkeit. Zudem haben sie einen speziellen Status in öffentlichen Institutionen. Einerseits sind sie in diese integriert; so kann etwa das Betreuungspersonal in Bundesasylzentren Geflüchtete gezielt an sie verweisen. Andererseits sind sie nicht der Hierarchie der Einrichtung unterstellt und von daher unabhängig. Da sie kein Teil des Systems darstellen, können sie sich auch kritisch positionieren. Ihr Handlungsspielraum bleibt aber eingegrenzt; so dürfen sie sich nicht in Fragen einmischen, die das Asylverfahren betreffen. Sie sind Gesprächspartner der Asylsuchenden, aber nicht deren Fürsprecher.

Multiple Funktion der Seelsorgenden

Zum einen basiert das Vertrauen so auf der spezifischen Rolle der Seelsorgenden, zum anderen wird es durch persönliche Nähe verstärkt: Geflüchtete finden in Seelsorgenden Personen, die idealerweise ihre Sprache sprechen, ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken verstehen und die Zeit haben, um ihnen bedingungslos zuzuhören. Geflüchtete können sich so mit den Seelsorgenden identifizieren, die auch als Vorbild etwa hinsichtlich ihrer Integration in der Schweiz dienen können. Seelsorgende können eine Beziehung zu den Geflüchteten aufbauen. Ihre Verfügbarkeit und Empathie stärken das Vertrauen noch weiter. Die Seelsorgenden stehen den Geflüchteten in schwierigen Situationen bei und teilen den Alltag mit ihnen. Sie können auch helfen, bestimmte Situationen und Verhaltensweisen einzuordnen, die mit kulturellen Prägungen oder religiösen Praktiken zusammenhängen. In diesem Sinne können sie auch das Betreuungs- und Sicherheitspersonal beraten. Insofern kann man Seelsorgende als multiple Vertrauenspersonen bezeichnen, da sie für Seelsorgeempfangende, aber auch für andere Professionelle Gesprächspartner sein können.

Das Vertrauen in dieser Konstellation ist aber zerbrechlich und kann an Grenzen geraten. So war die Einführung muslimischer Seelsorge mit Sicherheitsinteressen verbunden. Aus staatlicher Sicht erhoffte man sich, dass die Seelsorgenden Geflüchtete von Auseinandersetzungen und Straftaten abbringen könnten und zur Prävention von Radikalisierung beitragen, indem sie einen pluralitätssensiblen Islam vertreten. Dies zog kontroverse Debatten unter Seelsorgenden und in den Religionsgemeinschaften nach sich: Wie weit sollen sich Seelsorgende in Bundesasyl­zentren in Konfliktfällen als Vermittelnde einbringen und damit zu einem gelingenden Zusammenleben beitragen? Oder stellt dies bereits eine Instrumentalisierung dar, die die Unabhängigkeit der Seelsorge beschädigt und einen Vertrauensverlust nach sich zieht? Diese Diskussion verdeutlichte, dass eine Vermischung von Vertrauens- und Kontrollfunktion schnell problematisch wird.

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Seelsorge in der Praxis

Die Bedeutung des Vertrauens im Hinblick auf die Rolle der Seelsorge in Bundesasylzentren soll im Folgenden anhand zweier Beispiele veranschaulicht werden:

Ein aus dem Nahen Osten stammendes Ehepaar, nennen wir sie Maryam und Dawud, landete mit der Hilfe einer Schmugglerbande in Italien. Aufgrund einer Streitigkeit sperrte die Bande die beiden ein und begann, sie zu drangsalieren. Da das Paar um sein Leben fürchtete, flüchtete es schliesslich aus den Fängen der Bande, verliess Italien und suchte Asyl in der Schweiz. Die Gewalterfahrung hinterliess bei Maryam tiefe seelische Spuren, so dass sie zu Beginn ihres Aufenthalts in einem Bundesasylzentrum in eine Depression versunken ist. So verbrachte sie ihre Zeit wochenlag in ihrem Zimmer. Nachdem wiederholte Versuche des Betreuungs- und Pflegepersonals, Maryam aus diesem seelischen Zustand hinauszuhelfen zu keinem befriedigenden Resultat geführt hatten, kontaktierten sie den muslimischen Seelsorgenden. Dank seiner einfühlsamen und geduldigen Art gelang es dem Seelsorgenden schliesslich, Maryams Vertrauen zu wecken. So begann diese allmählich, mit ihm über das ihr widerfahrene Leid sowie über ihre seelische Not zu sprechen. Auf diese Weise gelang es dem Seelsorgenden, Maryam in die Normalität zurückzuführen. Als wir sie interviewten, konnte sie ihre Freude an ihrer wiedergewonnenen Lebenskraft kaum in Worte fassen. Sie wies darauf hin, dass sie vor der Begegnung mit dem Seelsorgenden ihren Schmerz niemandem anvertrauen konnte. Sie hatte nämlich Angst, dass ihre Leidensgeschichte den Bewohnenden des Asylzentrums zu Ohren kommen und sie in ein schlechtes Licht stellen könnte.

Ein Asylsuchender aus einem arabisch sprachigen Land, der eine Leidenschaft für das Schwimmen hatte, ertrank in einem See in der Nähe seiner Asylunterkunft. Dieses Ereignis wirkte dort sehr beunruhigend und erschütterte Personen, die mit dem Verstorbenen im engeren Kontakt standen. Auch hier wirkte der in diesem Bundesasylzentrum tätige muslimische Seelsorger als Vertrauensperson. Zunächst übernahm er auf die Bitte der Zentrumsleitung hin die Aufgabe, diese tragische Nachricht in arabischer Sprache und unter Berücksichtigung der kulturellen Codes der Familie des Verstorbenen im Ausland telefonisch nahe zu bringen. Andererseits organisierte und leitete er eine Abschiedsfeier mit religiösen Todesritualen. Wie wir in unserer Feldforschung in Erfahrung bringen konnten, wussten es die betroffenen Geflüchteten im Umfeld des Verstorbenen sehr zu schätzen, dass der Abschied in einer für sie vertrauten Art und Weise erfolgen konnte.

Das erste Beispiel zeigt, wie einem Seelsorgenden etwas anvertraut werden kann, was man sonst niemand wissen lassen möchte. Auf diese Weise erlangt die betroffene Frau ihre Sprachfähigkeit zurück und kann neu Vertrauen fassen. Auch im zweiten Beispiel hilft der Seelsorgende Menschen, mit einer schwierigen Situation zurechtzukommen und diese mit einem gemeinsamen rituellen Akt zu begleiten. In beiden Fällen sind weitere Akteure involviert: Während im ersten Beispiel andere Professionelle die Frau an den Seelsorgenden verweisen, übertragen die Verantwortlichen im zweiten Beispiel dem Seelsorgenden eine herausfordernde Kommunikationsaufgabe gegenüber den Angehörigen. Er sieht das nicht als Instrumentalisierung, sondern übernimmt die Aufgabe, auch für die Familie als Ansprechpartner zu fungieren. So wird ersichtlich, wie hohe Erwartungen an die Seelsorgenden herangetragen werden und wie diese jeweils sowohl die Potenziale als auch die Grenzen ihrer Vertrauensarbeit ausloten müssen. In unseren Evaluationen konnten wir schliesslich feststellen, dass Seelsorgende die Asylsuchenden durch persönliches Vertrauen auch zum systemischen Vertrauen, nämlich Vertrauen in die Institutionen, verhelfen.

Unsere Experten: Hansjörg Schmid ist Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Freiburg. Amir Sheikhzadegan ist assoziierter Forscher am SZIG. Die beiden haben von 2016 bis 2023 im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) mehrere Pilotprojekte für muslimische Seelsorge in Bundesasylzentren evaluiert (Evaluationsstudien unter: https://www.unifr.ch/szig/de/forschung/publikationen/szig-studies.html).

Das SZIG bietet auch einen CAS «Muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen» in deutscher und in französischer Sprache an.